Kritik der politischen Ökonomie, Religionskritik und Humanismus der Praxis

Der folgende Beitrag ist die behutsam redigierte Fassung eines Vortrags, den der Autor, ein seit Jahrzehnten in Lateinamerika wirkender Ökonom und Befreiungstheologe, im September auf Einladung des „Instituts für Theologie und Politik“ (ITP) in Münster gehalten hat. Darin steckt manches, was aus Sicht eines „orthodoxen“ Marxismus fragwürdig sein mag; aber zugleich, und vielleicht gerade deswegen, auch viel, was für einen fruchtbaren Dialog zwischen „orthodoxen“ und „christlichen“ Marxisten – bzw. von Marx inspirierten Christen – hilfreich sein kann. 

Hinkelammerts Vortrag war für die Marx-Engels-Stiftung der Anlass, mit dem ITP für den 29. Mai 2010 ein Tagesseminar zu vereinbaren. Es fand unter dem Thema „Falsche Götter. Religionskritik als Kapitalismuskritik“ in den Räumen der Münsteraner Ev. Studentengemeinde statt. 

* * * 


In den Krisen, die wir heute erleben und die sich für die Zukunft ankündigen, ist es unbedingt nötig, darüber zu diskutieren, was heute der Humanismus bedeuten kann. Ich will einige Thesen dazu vorstellen. Aber bevor ich das tue, möchte ich kurz analysieren, was der Humanismus in der Moderne bedeutet hat. Ich will dies sehr kurz machen und daher einen Schlüsselmoment unserer Geschichte ansprechen, der eng verknüpft ist mit dem, was Humanismus heute bedeuten kann.


Es handelt sich um die französische Revolution. Sie findet statt in einem Moment, in dem sich der Weltmarkt als kapitalistischer Weltmarkt konstituiert hat. Der Humanismus der französischen Revolution ist noch äußerst reduziert auf einen Humanismus des abstrakten Menschen, der als Eigentümer gesehen wird. Aber dieselbe französische Revolution, die in eine rein bürgerliche Revolution einmündet, begründet gleichzeitig die Kategorien, von denen aus sich ein neuer Humanismus ausbilden kann.


Es handelt sich vorwiegend um zwei Kategorien: Auf der einen Seite provoziert sie eine Reaktion auf die weitgehende Reduktion der Menschenrechte auf den abstrakten Menschen, der vorwiegend Eigentümer, maskulin und weißer Hautfarbe ist, der eine Situation extremer Ausbeutung begründet, und der sogar die Zwangsarbeit in der Form der Sklaverei ganz massiv durchgesetzt hat. Auf der anderen Seite wird in dieser Revolution die politisch-juristische Kategorie der Staatsbürgerschaft durchgesetzt. Sie wird zu einer Basis der modernen Demokratie, obwohl sie noch reduziert ist auf Männer weißer Hautfarbe und Eigentümer. Gestützt auf die Kategorie der Staatsbürgerschaft und ihre ständige Ausweitung wird eine Menschenrechtsbewegung ausgelöst, die die künftigen Kämpfe um die Emanzipation des Menschen definiert. Der Mensch als Staatsbürger ist nicht notwendig ein Bourgeois, sondern kann eine Emanzipation vertreten, die über die gegebene bürgerliche Gesellschaft hinausgeht.


Es handelt sich zuerst um die Emanzipation der Sklaven, der Frauen und der Arbeiterklasse. Die Tiefe des Konflikts kann man symbolisieren durch drei große Morde. Es handelt sich um den Mord an Olympe de Gouges, die das Recht der Frau vertrat, Staatsbürgerin zu sein, und die zur Guillotine geschickt wurde. Ebenso starb Babeuf, der das Assoziationsrecht der Arbeiter vertrat, unter der Guillotine. Toussaint-Louverture, der Sklavenbefreier von Haiti, wurde verhaftet und unter dem Kaiser Napoleon durch die extremen Haftbedingungen getötet.


Die eben genannten Forderungen nach Emanzipation waren das Produkt der französischen Revolution, aber diese wandte sich gegen sie, indem sie sich immer mehr als bürgerliche Revolution definierte. Später kommen mehr Emanzipationsforderungen wie die Emanzipation der Kolonien, der Kulturen und die Emanzipation der ausgebeuteten und zerstörten Natur.


Alle diese Emanzipationen konfrontieren das bürgerliche System mit den Opfern, die es als Ergebnis seiner eigenen Entwicklung produziert. In diesem Sinne handelt es sich um einen neuen Humanismus. Es ist der Humanismus des lebenden Menschen als Subjekt gegenüber der Reduktion des bürgerlichen Humanismus auf den Humanismus von Eigentümern im Markt, der bereits die Tendenz hatte, nur ein einziges Recht als Menschenrecht anzuerkennen: das Eigentumsrecht.


Diese Emanzipationskämpfe hatten bedeutende Erfolge, indem sie viele dieser Menschenrechte durchsetzten und in die Verfassung einschrieben. Die Reduktion der Menschenrechte auf das Eigentumsrecht aber hat die Tendenz, diese Menschenrechte wieder zu annullieren.


Gegenwärtig stellt die Globalisierungsstrategie, die bereits viele Katastrophen produziert hat, den großangelegten Versuch dar, diese Rechte des Menschen als lebendes Subjekt, die Ergebnis der Emanzipationskämpfe der letzten Jahrhunderte sind, aufs Neue zu annullieren – im Namen der Totalisierung des Marktes und des Privateigentums. Dies ist aber auch das Problem des Humanismus heute.


Um dieses Problem anzugehen, möchte ich mit einer Analyse des Humanismus beginnen, wie er nach der französischen Revolution in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegenüber der Reduktion der menschlichen Beziehungen auf die Warenbeziehungen entstand. So wie dies schon in der Formulierung des bürgerlichen Humanismus des 18. Jahrhunderts geschah, war auch für diese neue Formulierung des Humanismus des Subjekts die Kritik der Religion – im Sinne einer kritischen Haltung ihr gegenüber – ein unverzichtbares Element. Die Formulierung des Humanismus und die Kritik der Religion gehen immer Hand in Hand.



Die Formulierung des Humanismus der Praxis und die Religionskritik von Marx


Ich will hier von der Religionskritik ausgehen, wie sie der junge Marx formuliert, um hinterher zu analysieren, was beim späteren Marx aus dieser Religionskritik wird und wie sie sich zur Religionskritik verhält, die in der Befreiungstheologie auftaucht. Ich möchte mit einigen Zitaten beginnen, die diese Anfangsposition aufzeigen können:

1. In der Vorrede zu seiner Doktordissertation von 1841 sagt Marx, dass die „Philosophie“, die hier schon als kritische Theorie zu verstehen ist, ihren „Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter, die das menschliche Selbstbewusstsein nicht als die oberste Gottheit anerkennen“, setzt.

Hier ist das „menschliche Selbstbewusstsein“ die „oberste Gottheit“ gegenüber allen „himmlischen und irdischen Göttern“. Selbstbewusstsein ist bei Marx immer als selbstbewusstes Sein zu verstehen. „Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein des Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess.“ Selbstbewusstsein ist dann das Bewusstsein des Menschen als Selbst in seinem wirklichen Lebensprozess.

2. In seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie von 1844 formuliert Marx: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“


An die Stelle des menschlichen Selbstbewusstseins als oberste Gottheit ist der Ausdruck getreten: der Mensch als „höchstes Wesen“ für den Menschen. Marx zeigt auf, dass, wenn irgendetwas anderes als der Mensch zum höchsten Wesen erklärt wird, dies dazu führt, dass „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.


Kombiniert man beide Zitate, ergeben sich zwei Grundaussagen über das, was wir als Paradigma der Marxschen Religionskritik bezeichnen können:

1. Die kritische Theorie setzt ihren „Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter“, die nicht anerkennen, „dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei“.

2. Die kritische Theorie setzt ihren „Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter“, in deren Namen der Mensch nicht das höchste Wesen für den Menschen, sondern „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ und dazu gemacht wird.


Dies ist ein Unterscheidungskriterium für die Religion, nicht ein Angriff auf die Religion selbst. Dies gilt, obwohl Marx davon ausgeht, dass die Religion damit überflüssig wird. Sollte sie aber nicht überflüssig werden, kann diese Religionskritik völlig ihre Gültigkeit bewahren. Ihre Bedeutung als Unterscheidungskriterium behält sie.


Marx sagt etwas, was für unsere Vorstellung von Marx völlig fremd ist: Gott ist Mensch geworden. Er sagt es aber nicht im religiösen Sinne, sondern im anthropologischen. Er sagt auch, was der Mensch tut, wenn der Mensch zum höchsten Wesen – wenn man so will, zum Gott – für den Menschen wird. Es ist wieder etwas ganz anderes, als es unseren normalen Vorstellungen entspricht. Der Mensch wirft jetzt alle Verhältnisse um, in denen „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Es ist die Praxis, für die eine andere Welt möglich ist. In solcher Praxis ergibt sich die Selbstverwirklichung des Menschen. Dies ist das Paradigma der Marxschen Religionskritik und gleichzeitig das Paradigma des Marxschen Humanismus. Mir scheint es gleichzeitig das Paradigma des kritischen Denkens überhaupt zu sein.


Dies ist die Religionskritik des jungen Marx. Hier wird nicht einfach die Religion kritisiert, sondern kritisch erfasst. Dass die Religion nicht abgestorben ist, wie Marx es erwartete, ist dafür völlig sekundär.



Die Religionskritik des späteren Marx


Unsere bisherige Analyse konzentrierte sich fast ausschließlich auf den jungen Marx. Der spätere Marx führt diese Religionskritik weiter, aber er wechselt die Worte, in denen er sich ausdrückt. Die Religionskritik wird zur Fetischismuskritik. Da ist kein Bruch, aber auch nicht nur ein einfacher Wechsel der Worte, sondern eine Veränderung des Schwerpunkts. In der Vorrede seiner Dissertation spricht Marx vom Spruch gegen himmlische und irdische Götter, in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vom Ende der Religionskritik. Jetzt spricht er nicht mehr über die himmlischen Götter, sondern über die irdischen. Er nennt sie Fetische. Aber solche Kritik der irdischen Götter ist für Marx keineswegs beendet, sondern tritt in den Mittelpunkt unter dem Namen der Fetischismuskritik in Bezug auf Markt, Geld und Kapital. Dies ist einer der Gründe, warum er die Sprache ändert. Mir scheint es noch einen anderen Grund zu geben. Die ausdrückliche Religionskritik ist immer in der Gefahr, ihre Kritik auf eine einzige Religion zu richten. Der Anspruch von Marx aber ist universal. Er beschränkt sich daher nicht auf eine Kritik des Christentums, mit der er begonnen hat. Er führt seine Religionskritik jetzt innerhalb seiner Kritik der politischen Ökonomie weiter. Sie richtet sich gegen erfahrbare, irdische Götter und kann wissenschaftlich weitergeführt werden. Die himmlischen Götter kann man nicht empirisch erfahren, denn sie sind unsichtbar. Sie werden sichtbar in den irdischen Göttern, indem diese den Menschen sichtbar in ein „erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ verwandeln. Wie diese irdischen Götter das bewerkstelligen und welchen Gesetzen sie dabei folgen, kann nur die Kritik der politischen Ökonomie zeigen. Das ist ihre Aufgabe.


Der spätere Marx weitet diesen seinen kategorischen Imperativ aus: „Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.“ Jetzt handelt es sich nicht nur um den Menschen, sondern schließt die Natur ein, die nach Marx der erweiterte Körper des Menschen ist. Es gibt kein menschliches Leben ohne das Leben der Natur.


Die Marxsche Religionskritik als Fetischismuskritik bleibt eine Kritik der irdischen Götter, die falsche Götter sind. Dabei setzt sie ein Kriterium für das voraus, was falsch ist. Es handelt sich um das gleiche Kriterium, das er in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vorgestellt hat: der Mensch ist das höchste Wesen für den Menschen. Ohne dieses Kriterium hat die ganze Fetischismuskritik nicht den geringsten Sinn. Aber es bekommt eine andere Dimension und wird daher bei Marx auch mit anderen Worten weiterentwickelt. Dies tut Marx in seinen Thesen über Feuerbach (1845), in der Deutschen Ideologie (1845-47, erstmals veröffentlicht 1932), und gipfelt im Manifest (1847/48). Es wird zum Kriterium, das von der Subjektivität der objektiven Welt her entwickelt wird.



Die Subjektivität der objektiven Welt


Marx führt diese Subjektivität der objektiven Welt in der ersten These über Feuerbach aus: „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.“


In der gleichen These 1 sagt er von Feuerbach: „Er begreift daher nicht die Bedeutung der ‚revolutionären’, der praktisch-kritischen Tätigkeit.“ Dies geht natürlich von der Tätigkeit eines jeden aus, die praktisch-kritische Tätigkeit wird.


Das Objekt einfach nur als Objekt zu nehmen, ist Reduktion der Objektivität und wird der Objektivität, die subjektiv ist, nicht gerecht. Dass das Objekt subjektiv ist, ist für Marx eine objektive Wahrheit. Das ist nicht das Descartes’sche, das Kantsche oder Hegelsche Verhältnis von Subjekt und Objekt. Diese Subjektivität ist objektiv gegeben. Das Objekt enthält immer eine Dimension der (menschlichen) Praxis und ist als solche subjektiv.


Wenn Rosa Luxemburg die russische Revolution kritisiert, geht sie von dieser Subjektivität aus und leitet daraus ihre Vorstellung von Demokratie ab. Sie sieht diese Subjektivität in der Gefahr, unterdrückt zu werden im Namen einer falschen Objektivität. Diese Unterdrückung der Subjektivität sieht sie als Gefahr für den Sozialismus selbst.


In der Feuerbach-These 10 zieht Marx hieraus einen Schluss:

„Der Standpunkt des alten Materialismus ist die ‚bürgerliche’ Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit.” (Hervorhebung von uns)


Die menschliche Gesellschaft ist hier nicht eine Gattungsbezeichnung im Unterschied zu tierischen Gesellschaften. Sie wird der bürgerlichen Gesellschaft entgegengestellt und ist ein Projekt. Wäre menschliche Gesellschaft eine Gattungsbezeichnung, so müsste auch die bürgerliche Gesellschaft darunter fallen, und die Gegenüberstellung hätte nicht den geringsten Sinn. Im Kontext hier ist menschliche Gesellschaft eine Gesellschaft, die menschlich ist oder das Projekt hat, menschlich zu werden. Die menschliche, werdende oder gewordene, Gesellschaft ist hier für Marx gleichzeitig die vergesellschaftete Menschheit. Deshalb kann er sagen: „menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit”. Doch auch dies muss wieder einen besonderen Sinn haben, denn im abstrakt-analytischen Sinne ist auch die bürgerliche Gesellschaft „vergesellschaftet“. Aber beide Ausdrücke haben in obigem Zitat für Marx den gleichen, qualitativen Sinn. Es handelt sich um die vermenschlichte Gesellschaft, in der der Mensch menschlich wird oder geworden ist.


Ich habe keinen Zweifel, dass er hier genau das sagt, was er auch in der Ableitung seines kategorischen Imperativs in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie gesagt hat, nämlich, dass die menschlich gewordene Gesellschaft so ist, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Es ist die Gesellschaft des Menschen, der alle Verhältnisse umwirft, in denen der „Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Marx sagt genau dasselbe wie vorher. Aber er sagt es in anderen Worten. Einer der Gründe scheint mir zu sein, dass Marx jetzt ein Kriterium für die praktisch-kritische Tätigkeit sucht. Dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist, ist kein Kriterium des Handelns. Es gibt allerdings die Richtung an. Aber jetzt braucht Marx ein Kriterium. In den Thesen über Feuerbach hat er dieses Kriterium noch nicht. Er stellt es dann aber im Kommunistischen Manifest vor:

„An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt die Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ Dies ist von jetzt an sein Kriterium für den Weg, durch den der Mensch zum höchsten Wesen für den Menschen wird. Dies Kriterium ist ein Rationalitätskriterium des menschlichen Handelns. Hiermit wird die menschliche sinnliche Tätigkeit zur Praxis, indem sie subjektiv wird (gemäß der 1. These über Feuerbach).


Das Kriterium ist: Die Entwicklung eines jeden ist die Bedingung für die Entwicklung aller. Man kann das variieren: Das Leben eines jeden ist die Bedingung für das Leben aller. Oder: Die Selbstverwirklichung eines jeden ist die Bedingung für die Selbstverwirklichung aller. Marx spricht von der freien Entwicklung eines jeden. Aber hier ist Freiheit nicht ein zusätzliches Prädikat, sondern die Entwicklung eines jeden als Bedingung der Entwicklung aller ist die Definition der Freiheit bei Marx. Es handelt sich um eine Verdopplung. Marx setzt dieses Rationalitätskriterium dem Rationalitätskriterium der bürgerlichen Gesellschaft entgegen. Dieses ist: Ich werde ich selbst, indem ich den andern besiege und unterwerfe. Klassisch griechisch ausgedrückt: Ich beweise, dass ich frei bin, indem ich beweise, dass ich Sklaven habe.


Mit diesem Marxschen Kriterium ist dann das Paradigma des kritischen Denkens vollständig. Es zeigt sich so, dass es zwischen dem jungen und dem späteren Marx keinen Bruch gibt, sondern eine Entwicklung seiner Positionen. Marx bricht nicht mit Feuerbach, indem er die Thesen über Feuerbach schreibt. Er hat längst vorher mit Feuerbach gebrochen. Dieser Bruch ist bereits in seiner Vorrede zu seiner Doktordissertation ausgesprochen. Er spricht dort vom „Spruch gegen alle himmlischen und irdischen Götter“. Bei Feuerbach gibt es keine irdischen Götter, die Marx später vor allem als Fetische des Marktes, des Geldes und des Kapitals ausmacht. Man kann sie nicht dadurch überwinden, dass man sie für Illusionen erklärt, wie dies Feuerbach mit den himmlischen Göttern tut. Man experimentiert mit ihnen und wird ihnen tatsächlich und notfalls mit Gewalt unterworfen. Dies ist bei Marx der erste Bruch mit Feuerbach, aus dem sich dann alle anderen Brüche herleiten.


Schon der frühe junge Marx ist durch den Feuerbach hindurchgegangen, aber er ist nicht darin geblieben: andernfalls wäre er verbrannt. Marx kommt später noch einmal ausdrücklich auf dasselbe Thema zu sprechen und tut dies wieder mit anderen Worten. Er sagt am Ende des 23. Kapitels des ersten Bandes des „Kapitals“: „Und gegenüber der alten Seekönigin erhebt sich drohend und drohender die junge Riesenrepublik. Acerba fata Romanos agunt / Scelusque fraternae necis.“ (Horaz – Ein schweres Geschick verfolgt die Römer, nämlich das Verbrechen des Brudermords.)


Was das Imperium untergräbt, ist nicht einfach die sinkende Profitrate als objektives Problem. Dahinter taucht das Subjekt auf. Was das Imperium untergräbt, ist der Brudermord. Wo aber geschieht der Brudermord? Überall da, wo „der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Marx kommt immer hierauf zurück. Obwohl er dies nicht ausdrücklich zitiert, denn für ihn ist die objektive Wirklichkeit subjektiv. Es ist Brudermord, sich den irdischen falschen Göttern zu unterwerfen. Und es ist Brudermord, sich den himmlischen Göttern zu unterwerfen, immer dann, wenn sie die transzendente Überhöhung dieser irdischen Götter sind.


Dieser Brudermord untergräbt die Imperien. Der zitierte Text ist zweifellos esoterisch. Wenn Horaz vom Brudermord spricht, meint er nicht das, was Marx meint. Horaz bezieht sich auf die römischen Bürgerkriege des ersten Jahrhunderts v. u. Z. und den vorigen Brudermord des Remus durch Romulus. In Wirklichkeit spielt Marx auf etwas ganz anderes an, nämlich auf den Mythos von Kain und Abel aus der jüdischen Tradition. Im entsprechenden Text der Bibel wird gesagt, wer der Brudermörder Kain ist. Er ist der Gründer aller menschlichen Zivilisationen. Diesem Mythos nach haben alle diese Zivilisationen als ihr Fundament den Brudermord, und nicht, wie bei Freud, den Vatermord. Und das ist für Marx eben auch so.


Für Marx ist dieser Text offensichtlich die Synthese des gesamten „Kapitals“. Mit ihm endet das 23. Kapitel. Wenn man, wie dies durchaus möglich ist, das 24. Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation als einen Annex ansieht, endet das „Kapital“, wie es Marx herausgegeben hat, mit diesem Text. Ich halte es für völlig unmöglich, dass dies Zufall ist. Seine Synthese des „Kapitals“ ist subjektiv. Walter Benjamin in seiner Interpretation des Angelus Novus von Paul Klee führt dies weiter.



Die Fetischismuskritik im späteren Marxismus


Bei Marx durchzieht diese Religionskritik als Fetischismuskritik alle seine späteren Werke, vor allem seine Kritik der politischen Ökonomie von 1859, die Grundrisse und das „Kapital“. Sie ist überall gegenwärtig.


Im späteren Marxismus hingegen verschwindet diese Kritik des Fetischismus weitgehend aus der Kritik der politischen Ökonomie. Wo sie noch weitergeführt wird, wird sie zu einem Teil der Philosophie und hört auf, Teil der Kritik der politischen Ökonomie zu sein. Dies gilt für Philosophen wie Bloch oder Erich Fromm, für Adam Schaff und weitgehend für die Frankfurter Schule. Die marxistische Kritik der politischen Ökonomie aber wurde zu einer weitgehend strukturalistischen Theorie mit sehr scholastischem Charakter. Der herausragendste Fall ist der Marxismus Althussers. Er erklärt, dass es einen Bruch gibt zwischen dem jungen und dem späteren Marx, sodass die Schriften des jungen Marx als „nicht marxistisch“ abgetan wurden. Aber als Folge davon war es dann nötig, auch im späteren Marx viele nicht-marxistische Positionen zu entdecken. Was dabei weitgehend herausfiel, war die Fetischismustheorie. Sie erschien als nicht wissenschaftlich, als Ideologie oder als reine Allegorie. Dass gerade in der Fetischismuskritik die Wurzel des Marxschen Denkens gegenwärtig ist, ging verloren. Daher auch die These von Althusser: Der Marxismus ist kein Humanismus. Die Fetischismuskritik von Marx aber geht von einer ununterbrochenen Weiterführung des Humanismus des jungen Marx aus. Daher wurde in der Nachfolge von Althusser die Fetischismuskritik sehr häufig selbst als nicht marxistisch eingestuft.


Die Religionskritik in der späteren marxistischen Tradition bekommt damit ein völlig anderes Gesicht. Aus der durchaus wissenschaftlichen Religionskritik von Marx wurde eine metaphysische Behauptung gemacht. Marx hat ein Kriterium: Die Götter, himmlische oder irdische, sind falsche Götter, wenn in ihrem Namen und durch sie legitimiert wird, dass der Mensch „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“. Das Kriterium ist empirisch, ob es zutrifft oder nicht, kann man zeigen. Man kann diese Götter als falsche Götter aufzeigen, wenn man dies Kriterium benutzt. Es bleibt ein wissenschaftliches Kriterium, auch wenn viele nicht bereit sind, es anzunehmen.


Die marxistische Religionskritik hat einen anderen Weg genommen. Sie fragt auf einmal, ob Götter oder Gott existieren oder nicht. Ganz gleich, wie man sie beantwortet, gibt es keine Kriterien. Es handelt sich um eine rein metaphysische Frage, die mit der Kritik der politischen Ökonomie und der Marxschen Religions- und Fetischismuskritik überhaupt nichts zu tun hat. Die Frage nach falschen Göttern aber hat sehr wohl mit der Kritik der politischen Ökonomie zu tun, auch wenn man diese falschen Götter Fetische nennt. Wenn sich Bush oder Reagan nach ihrem eigenen Bilde ein Bild von Gott machen, kann doch die Antwort nicht sein, dass es keinen Gott gibt. Das hat mit der Antwort gar nichts zu tun. Die Antwort kann nur sein, dass es ein falscher Gott ist. Er ist ein falscher Gott auch dann, wenn es ihn im Sinne irgendeiner Metaphysik gar nicht gibt.


Man fragte Buddha, ob es Gott gibt. Buddha antwortete: Zu sagen, dass es Gott gibt, ist falsch. Aber zu sagen, dass es Gott nicht gibt, ist auch falsch. Die Frage kann nicht mit ja oder nein beantwortet werden. Die Buddhisten nennen ein solche Frage die Frage mu. In unserer totalen Verkürzung der Ratio können wir solche Fragen gar nicht akzeptieren. Aber die Antwort Buddhas ist besser als die Antwort des Faust auf die Gretchenfrage. Denn auch der Atheismus kann, ganz im Sinne von Marx, falsche irdische Götter haben. Der Unterschied ist allerdings, dass diese falschen irdischen Götter nicht durch himmlische Götter metaphysisch überhöht werden. Sie können sich nicht hinter einem himmlischen Gott verstecken.


Es gibt bei Marx einen interessanten Hinweis, der dies zu klären vermag. Er sagt im 24. Kapitel des ersten Bandes des „Kapitals“ über die ursprüngliche Akkumulation:

„Man muss dies Zeug im Detail studieren, um zu sehn, wozu der Bourgeois sich selbst und den Arbeiter macht, wo er die Welt ungeniert nach seinem Bilde modeln kann.“


Es geht um das Bild, das sich der Bourgeois von sich selbst und vom Menschen macht. Von ihm aus wird die Welt gemodelt so, wie wir sie haben. Aber man könnte hinzufügen: Wenn dieser Bourgeois sich Gott vorstellt, so ist Gott „ein wie er selbst“: ein legitimer Despot, für den nicht der Mensch, sondern Markt, Geld und Kapital das höchste Wesen für den Menschen sind. Es entsteht ein Bild Gottes, in dem dieser Gott selbst das höchste Wesen für den Menschen ist. Er ist die Transzendentalisierung des Bildes, das der Bourgeois von sich selbst hat. Nach diesem Bild von Gott formt dann der Bourgeois die Welt. Sein Bild von Gott und sein Bild von sich selbst unterscheiden sich überhaupt nicht. Sein Bild von Gott ist die metaphysische Überhöhung seines Bildes vom Menschen und von sich selbst.


Die Marxsche Religionskritik fragt nicht, ob es diesen Gott gibt oder nicht. Sie stellt fest, dass es das Bild eines Gottes ist, für den nicht der Mensch, sondern das Kapital das höchste Wesen für den Menschen ist. Das Kapital ist das höchste Wesen für den Menschen, und dieser Gott ist das höchste Wesen für das Kapital. Aber der irdische Gott kann sich jetzt hinter dem himmlischen Gott verstecken. Wenn Bush sagte, er habe mit Gott Vater gesprochen und dieser habe ihm den Irakkrieg aufgetragen, ist das dieser Gott; und Bush hat nach diesem seinem Bilde den Irak umgemodelt. Reagan hatte einen ganz ähnlichen Gott.



Die Religionskritik in der Befreiungstheologie


Dann aber kann man die Frage stellen, wie denn die Religionskritik der Befreiungstheologie aussieht. Denn auch die Befreiungstheologie macht Religionskritik. Man kann dies an einem Wort zeigen, das der Erzbischof Romero viel gebrauchte, bevor er erschossen wurde, während er die Messe feierte. Es stammt von Irenäus von Lyon aus dem 2. Jahrhundert: „Gloria Dei vivens homo“ (Die Ehre Gottes ist es, dass der Mensch lebt). Romero drückte es auch so aus: „Gloria Dei vivens pauper“ (Die Ehre Gottes ist es, dass der Arme lebt).


Drückt man dies in der Sprache von Marx aus, könnte man sagen: Die Ehre Gottes ist es, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen ist. Die Marxsche Religionskritik setzt ihren Spruch nicht gegen solch einen Gott, denn er ist in ihrem ausdrücklichen Sinne kein falscher Gott. Marx entwickelt dies nicht, aber seine Formulierung der Religionskritik bestätigt sogar einen solchen Gott. Dies gilt, obwohl Marx diesen Teil seiner Religionskritik nicht ausführt. Dies Ergebnis liegt in der Sache selbst. Wenn die Religionskritik falsche Götter verurteilt, können immer Götter bleiben, die nicht falsch sind.


Bei Gandhi finden wir in seiner Autobiographie von 1927 eine ganz ähnliche Reflektion: „Wenn Gott Söhne (und Töchter) haben kann, sind wir alle Söhne Gottes. Wenn Jesus wie Gott ist, oder Gott selbst, dann sind alle Menschen wie Gott und könnten Gott selbst sein.“


Und er zieht hieraus einen ganz ähnlichen Schluss, wie ihn die Religionskritik der Befreiungstheologie zieht. Dieser Schluss ist anders als der der christlichen Orthodoxie in fast allen ihren Formen. Danach ist Jesus als Sohn Gottes selbst Gott, der Menschenform angenommen hat, der aber der eingeborene, sogar einzige Sohn Gottes ist. Er ist Mensch gewordener Sohn Gottes unter den anderen Menschen, die nicht Mensch gewordener Gott sind. Damit wurde der Schluss abgeblockt, dass der Mensch durch Jesus hindurch das höchste Wesen für den Menschen ist, der im Christentum durchaus angelegt ist. In der Orthodoxie bleibt Gott das höchste Wesen für den Menschen und bestimmt, was der Mensch zu sein hat. Auch für diese Orthodoxie kann daher das Christentum kein Humanismus sein.


Auf diese Weise hat die Marxsche Religionskritik für die Befreiungstheologie eine durchaus wichtige Rolle gespielt. Dies auch deshalb, weil diese Marxsche Religionskritik sich sehr wohl in die jüdisch-christliche Tradition der Religionskritik einfügt. Das ist sogar der christlichen Orthodoxie klar, die deshalb diese in ihrer eigenen Tradition gegenwärtige Religionskritik verurteilt. Beide Orthodoxien, die marxistische wie die christliche, verurteilen diese Art Religionskritik, komme sie nun von Marx oder direkt aus der jüdisch-christlichen Tradition.



Das Spezifische der Marxschen Religionskritik


Die Frage ist dann, was eigentlich das Neue an der Marxschen Religionskritik ist. Innerhalb der aufgezeigten Kontinuität bringt sie allerdings etwas völlig Neues. Es besteht darin, dass Marx diese Religionskritik in sein Praxisdenken integriert. Damit wird sie zu einer Aufforderung zur Veränderung der Gesellschaft im Sinne seines kategorischen Imperativs. Marx entwickelt damit eine völlig neue Dimension der menschlichen Gesellschaft und des menschlichen Handelns. Bei allen Vorgängern der Religionskritik ist diese Dimension weitgehend abwesend. Jetzt wird eine andere Welt möglich, die Gegenstand der Praxis in dieser Welt ist. Das aber bedeutet, dass diese Marxsche Religionskritik, trotz der Kontinuität, auch eine andere ist. Sie geht nicht mehr von einer Religion aus, sondern gründet sich auf eine Anthropologie der säkularen Welt. Dies äußert sich bei Marx darin, dass er die Religionskritik, in der Form der Fetischismuskritik – und das heißt, in der Form der Kritik der irdischen Götter –, zu einer Dimension der Kritik der politischen Ökonomie machen kann und muss. In diesem Sinne wird sie Wissenschaft. Es taucht daher bei Marx durchaus ein Glaube auf. Aber es ist ein anthropologischer und folglich säkularer Glaube, nicht ein kirchlich-religiöser.


Auf diese Weise ergibt sich der Marxsche Humanismus als ein Humanismus der Praxis und nicht als die Feier oder das Lob des Menschlichen als solchen, die immer die Tendenz haben, zu einem neuen Versteck für irdische, falsche Götter zu werden und dabei eine Funktion übernehmen, die auch die himmlischen falschen Götter haben.


Heute gilt es, diese Dimension weiterzuführen oder sie zurückzugewinnen, soweit sie verloren gegangen ist. Religionskritik als Fetischismuskritik müsste dabei weitergeführt werden als Kritik der Mythen des heutigen Kapitalismus, die auch eine Dimension der Kritik der politischen Ökonomie sein muss. Denn die große Veränderung, die Marx gebracht hat, ist noch immer unterwegs.


Es handelt sich um eine neue Entdeckung der Säkularität der Welt. Die sogenannte Säkularisierung hat nicht, wie Max Weber glaubt, zur Entzauberung der Welt geführt. Sie hat einige Götter entzaubert, um die Welt dann durch die falschen irdischen Götter des Fetischismus des Marktes, des Geldes und des Kapitals aufs Neue zu verzaubern. Wir leben in einer verzauberten Welt und es ist notwendig, sie zu entzaubern. Den Menschen als das höchste Wesen für den Menschen zu behandeln, impliziert diese Entzauberung der Welt und ihrer irdischen Götter, die immer notwendiger wird. Dies impliziert einen radikalen Umschwung im Verhältnis zum Markt, zum Geld und zum Kapital. Unsere Welt ist keine säkularisierte Welt. Sie dazu zu machen, ist eine Aufgabe für die Zukunft. Aber nur wenn wir den Menschen „verzaubern” und zum höchsten Wesen für den Menschen machen, wird diese zukünftige Entzauberung und damit Säkularisierung der Welt möglich. Wer dagegen den Menschen entzaubert, kann dies nur tun, indem er die Welt verzaubert. Das heißt eben, dass man sie durch falsche irdische Götter bevölkern muss. Die Antwort darauf impliziert immer eine Kritik der politischen Ökonomie.


Es geht darum, diejenigen heiligen Werte, in deren Namen der Mensch verachtet wird, zu entwerten; und den Markt wie den Staat und viele andere Institutionen verfügbar zu machen und für eine Praxis zu befreien, die den Menschen tatsächlich zum höchsten Wesen für den Menschen macht. Der Mensch muss Freiheit haben gegenüber den irdischen Göttern, die den Menschen gefangen halten und die die Freiheit usurpieren, die sie aber in Wirklichkeit in ein Gefängnis verwandeln.