Auf, auf zur Klampf, zur Klampf!

Weltmusik 2. - 4. Juli: tff-Defibrillator holt shrinking city Rudolstadt ins Leben zurück

Rudolstadt kannten lange Zeit nur literarisch Vorgebildete als den Ort, wo Schiller erstmals Goethe traf, wo Wolf Wondratschek 1943 das Licht der Welt erblickte oder wo Fallada einmal wohnte (Foto links). 1990 hatte die Thüringer Kreisstadt noch etwa 30.000 Einwohner. In den letzten Jahren schrumpfte sie alljährlich um rund zehn Prozent. Ende letzten Jahres gab es noch 24.000 Einwohner; für 2025 prognostiziert die Bertelsmann-Stiftung 19.335 Einwohner. Damit gehört Rudolstadt zu den 352 Städten mit „Demographietyp 4“, den die Bertelsmänner als „Schrumpfende und alternde Städte und Gemeinden mit hoher Abwanderung“ klassifizieren. Die Schere zwischen Jung und Alt geht überproportional auseinander, knapp dreißig Prozent der Einwohner sind älter als 60, fast fünf Prozent älter als 80 Jahre; 2025 wäre beinahe die Hälfte der Einwohner in diesem Seniorenalter. Da würde dann das 35. Weltmusikfestival stattfinden, zu dem schon gegenwärtig 70.000 Besucher am ersten Juliwochenende nach Rudolstadt strömen. Eine bizarre Gemengelage? Gewiß, aber es könnte sein, daß Rudolstadt – im Unterschied zu den anderen 351 „Typ-4“-Städten – so noch die Kurve kriegt, weil es dieses Festival alljährlich beherbergt. Dann entpuppt sich das Festival, daß seit 1990 kluge Köpfe in die neue Zeit retteten, als Herzschrittmacher für’s schrumpfende Rudolstadt.

Nächstes Wochenende, ab 2. Juli, ist es wieder soweit. Wenn Zehntausende wieder ins Mekka der Weltmusik nach Rudolstadt pilgern, wo nun 2010 ein Jubiläum zu feiern ist: Das 20. Festival neuer Prägung. Ausgangspunkt des Spektakels war das „1. Fest des deutschen Volkstanzes“ (Foto links: daran erinnert noch eine Mauerinschrift aus DDR-Zeiten), das damals noch gesamtdeutsch orientierte Kommunisten 1955 in dem einstigen Residenzstädtchen veranstaltet haben. Daraus hatte sich ein DDR-Folklorefest mit Beiträgen aus den „Bruderstaaten“ entwickelt, das bis 1989 alle zwei Jahre stattfand. Klampfen und andere Instrumente ertönen dort immer noch: Seit 1991 erstreckt sich jedes erste Juliwochenende vom Heinepark am Saaleufer über den Marktplatz bis hinauf auf die Heidecksburg ein neu konzipiertes „Tanz&FolkFest“, Jahr für Jahr mit neuen Besucherrekorden und inzwischen mit einem 1,5-Millionen-Etat. Das zwecks Vermeidung von Musikantenstadl-Assoziationen nur noch „tff“ genannte Treffen adelte die kanadische Geigerin April Verch schon vor Jahren zum „best Folk-Festival of the World“.

Auf der Suche nach der verlorenen Zeit fuhr ich eine Woche vor dem Festival nach Rudolstadt, und in der noch nicht von Tausenden von Festivalbesuchern überschwemmten Stadt wurde sichtbar, wie anders Rudolstadt während des Ausnahmezustands am ersten Juliwochenende während des Festivals erscheint. Jetzt, Ende Juni, empfängt einen bereits das über die Ortseingangsstraße gespannte tff-Werbebanner, aber ansonsten ist noch nicht zu ahnen, wie verwandelt eine Woche später das Antlitz der Stadt sein wird. Wohin werden sich die Alkis von der Bushaltestelle zurückziehen? All die leerstehenden, die unrenovierten Häuser fallen erst in der menschenleeren Sonntagsruhe eine Woche vor dem Sturm beim Gang durch die Straßen auf; mitunter wird versucht, den ungenutzten Gebäuden an Fassaden und in Schaufenstern künstlerisch etwas Leben einzuhauchen (Foto links). Daneben wunderbare, hübsche Domizile. Rudolstadt ist widersprüchlicher als man während des Festivals, von Konzert zu Konzert hastend und all die faszinierend anzuschauenden Besucher vor Augen, wahrnimmt. Oben auf der Heidecksburg angekommen, kommt Vorfreude auf: Da steht doch schon eine Bühne – Vorbote des tff... Nein, merkt man beim Näherkommen, die hat nichts mit dem Festival zu tun: Hier führt das Theater Rudolstadt Molières Komödie „Der eingebildete Kranke“ auf. Das eingebildete Festival beim Blick von der Burgmauer über die Stadt zum Heinepark: Aber keine Klangfetzen von Konzerten schwappen herüber, kein Menschengewimmel in den Straßen. Auch schön. Es gibt gute Gründe, auch außerhalb des Festivals gen Rudolstadt zu reisen.

Wieder hinunter in die Stadt. Ah, wenigstens ein Zeichen, das verkündet, was hier wenige Tage später stattfinden wird: Vorm Stadthaus, wo parterre getanzt werden wird und oben Journalisten sich akkreditieren werden, da steht bereits eine tff-Bude (Foto links). Sonst keine Vorboten dessen, was kommen wird. Erst ein, zwei Tage vor dem Beginn des Tanz & Folkfestes verändert sich das Antlitz der Stadt, werden Wimpelketten und Transparente die Innenstadt durchziehen und Flaggen der Teilnehmerländer am Rathaus wehen. Auf der Rückfahrt nach Jena höre ich im Autoradio die Doppel-CD vom tff 2009 (als dritte Scheibe gehört auch eine DVD zu ). Die CD/DVD-Edition ist ein Muß – um nostalgisch zurückzuschauen auf’s letzte Festival, um sich Appetit zu machen für’s kommende. Gleich anfangs ein Weckruf: Die Blechbläser von LaBrassBanda zerfetzen Charlie-Parker-artig (unartig?) bayrische Volksmusik, danach lassen nordische Klänge ahnen, wo der Björk-Sound wurzelt, „Deitsch“ singt den frivolen Beitrag „Die Brombeeren“ über eine schwanger Gewordene, den man wegen der aktuellen Mißbrauchsdebatte mit anderen Ohren hört (die Geburtenrate neun Monate nach dem tff-Juliwochenende wäre, gesponsert von irgendwelchen gender-Studies, übrigene auch eine Untersuchung wert), und die zweite CD zum Instrument des Festivals (Magic Lute) übertrifft in Sound und Effekten jede Stereo-Test-CD, mit der man die Bose-Anlage ausreizen könnte.

So eingestimmt, wendet man sich neu-giiierig dem diesjährigen tff-Angebot zu, das die Festivalmacher präsentieren: Einen Blick zurück versagen sie sich zum Zwanzigsten nicht. „TFF91 Revisited“ heißt ein Mini-Special, das drei der aufsehenerregendsten Acts des 1. Tanz&FolkFests präsentiert: JablkoH (CZE) mit experimenteller Musik zwischen Gitarren und Trockenfrüchten, Elena Ledda (ITA) mit sardischen Gesängen und die Wellküren (D), die ähnlich ihren Brüdern, den Biermösl Blosn, in der traditionellen bayerischen Volksmusik wildern.

Ein großes Jubiläumsgeschenk kommt von der EBU, der Europäischen Rundfunkunion: „The 31st EBU Contemporary Folk Music Festival“ bereichert das TFF. Mehr als 20 europäische Radiostationen entsenden besonders spannende Künstler, Newcomer wie gestandene Bands, auf die wieder mehr als 20 Rudolstädter Bühnen. Von Skandinavien bis zum Balkan und von A wie Attwenger, den Dada-Volxmusikanten aus Österreich, bis T wie Trilla, katalanischer Tanzmusik aus Spanien, gibt es experimentell oder traditionell, konzertant oder tanzbar, reichlich Gesang, Perkussion und Instrumentales.

Länderschwerpunkt ist 2010 Äthiopien. Meine Facebook-Freundin Beate Wedekind, eine Journalistin, die jetzt gerade in Äthiopien unterwegs ist, macht mich auf den Rudolstadt-Auftritt ihres äthiopischen Freunds, des Tänzers Melaku Belay aufmerksam (der mit ihr bei der Fußball-WM in Addis für Deutschland gezittert habe...). Mahmoud Ahmed gilt als die Seele der modernen Musik Äthiopiens, die er über drei Jahrzehnte mit seiner Mischung aus Melancholie und Tanzbarkeit geprägt hat. Unter der Marke Éthiopiques wird mit ihm gemeinsam ein zweiter legendärer Crooner aus Addis zu hören sein, Alèmayèhu Eshèté. Aktuellen EthioJazz offeriert Nubian Ark, während Alemu Aga aus König Davids Harfe hierzulande selten zu hörende meditative Klänge zaubert und The Azmaris of Addis die Tradition der Wandermusiker aufleben lassen.

„Magic Trumpet“ ist der Titel des diesjährigen Instrumenten-Specials. Trompeten-Virtuosen aus dem Iran (Pablo Giw), Moldavien (Adam Stînga) der Schweiz (Hans Kennel) und den USA (Frank London) werden gemeinsam auf der Bühne stehen. Für die exklusive Rudolstadt-Session erhalten sie Unterstützung von einer internationalen Riege weiterer Blechbläser und Perkussionisten.

Und „Tanz des Jahres“ ist der Stepptanz. Gruppen aus England (The Demon Barber Roadshow, Englands beste Live-Band 2009), Italien (Andrea Capezzuoli e Compagnia), Spanien (Aire Gitano, Flamenco) und Deutschland (Tap Royal) werden ihn nicht nur in Bühnenshows zelebrieren, sondern auch den vielen Mitmachtänzern nahe bringen.

Wir sehen uns, wenn Freitagabend die Folk-Legende Arlo Guthrie (USA) gemeinsam mit den Thüringer Symphonikern Saalfeld-Rudolstadt das tff eröffnet? Oder erst nachts im Heinepark, wenn die neben Peter Fox bekanntgewordene Miss Platnum uns in die Balkandisco entführt? Nach dem, was mir Christoph, der in ihren Videos auftritt und manchmal nach kargen Lidl-Einkäufen in Berlin mit ihr frühstückt, und was Petra, die Ex-Stewardeß und Frankfurter Politikerin, die den Batschkapp-Auftritt erlebte, über „Miss Platnum“ erzählt haben, werde ich selbstverständlich nachts zwischen Eins und Drei im Heinepark sein...