„IWF – bitte übernehmen“

Griechenland – Der Tragödie erster Teil

Den alteingesessenen Athener Händlern geht es schlecht. Verbarrikadierte Verkaufsläden und leere Schaufenster gehören im Frühjahr 2010 zum Stadtbild. Die griechische Handelskammer (ESEE) hat bereits Anfang April 2010, also vor dem ökonomischen Offenbarungseid des Landes, einen Umsatzrückgang im gesamten Handel von 15 bis 20 Prozent seit Jahresbeginn ausgemacht.

Als wesentliche Ursachen dafür werden die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19 auf 21 Prozent sowie die Lohn- und Rentenkürzungen um bis zu einem Drittel angesehen. Mittlerweile wurde die Mehrwertsteuer auf 23 Prozent angehoben.

 

Die Athener Wochenzeitschrift „Athensplus" sandte Reporter durch die Einkaufsviertel der Hauptstadt. Der Befund ist niederschmetternd. „In den vergangenen Monaten habe ich 50 Prozent des Umsatzes eingebüßt", meldet etwa der alteingesessener Kleiderhändler Anastassios Haros. Und Giorgos Sofronas, seit 25 Jahren Lederwarenhändler in der Innenstadt und gleichzeitig Vizepräsident der Athener Handelskammer, ergänzt: „Wir bewegen uns bergab. Die Sparmaßnahmen der Regierung waren schlecht ausgedacht". Die Umsatzeinbrüche bewirken, dass zu wenig Geld in die Kasse kommt, um frische Waren kaufen zu können. Dazu kommt das Misstrauen der Lieferanten: „Früher lagen unsere Zahlungsziele bei drei bis vier Monaten, heute wollen sie oft nicht einmal mehr Bestellungen entgegen nehmen", so ein Händler verzweifelt gegenüber „Athensplus". Viele seiner Kollegen haben sich entschlossen, die Rollläden hinunterzulassen und abzuwarten. Für die Angestellten bedeutet dies den Gang zum Arbeitsamt.

 

Besonders hart getroffen ist die griechische Tourismusbranche, die für 18 Prozent des Bruttoinlandsprodukts verantwortlich zeichnet. Die österliche Hauptreisezeit 2010 war ein Desaster für die Hotellerie: Die Buchungen lagen um 50 bis 70 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Prognosen von Anfang April, die allerdings inzwischen als optimistisch gelten, gehen von einem Gesamtjahresminus in der Größenordnung von 15 Prozent aus. Panikartig versuchen viele Hoteliers, ihre Häuser zu verkaufen. Hunderte von Betrieben, kleine Innenstadthotels genauso wie große Ferienanlagen, suchen neue Eigentümer. Insgesamt drängen Hotels im Gesamtwert von fünf Milliarden Euro auf den Immobilienmarkt, wo die Preise einzubrechen drohen. Zu erwartende Arbeitskämpfe und das in ganz Europa von Boulevardpresse und Politik systematisch schlecht geredete Image des Landes lassen für die Branche keinen Aufschwung erwarten. Im Gegenteil: Große Ferienanbieter vermelden massenweise Stornos bereits gebuchter Griechenlandreisen.

 

Offenbarungseid Rekapitulieren wir die Ereignisse der vergangenen drei Monate: Am 25. März 2010 erklärt die deutsche Kanzlerin ein als „Griechenlandhilfe" tituliertes Kreditpaket für alternativlos. Wo immer Herrschende keine andere Wahl zulassen, herrscht Totalität. Die Staaten der EU und der IWF, so Angela Merkel, wären übereingekommen, Griechenland ökonomisch zu stabilisieren. Parlamentarische Zustimmung kann nachgereicht werden.

Warum Griechenland? Seine Einzigartigkeit ist fragwürdig. Zu diesem Zeitpunkt erreicht nur ein EU-Land die Maastricht-Kriterien, nämlich Estland. Beim Defizit haben Irland (mit 15 Prozent) und Großbritannien (13 Prozent) vor Griechenland die Nase vorne. Bei der Höhe der gesamten Verschuldung als Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP) liegt Italien (mit 120 Prozent) gleichauf mit Griechenland Warum also Griechenland? Zugegeben, die inneren Faktoren sind ernüchternd: eine große Zahl in falschen Bereichen eingesetzter Beamter und ein Beamtenüberschuss, Olympiadebakel und der Umgang mit den strukturellen Folgen der Modernisierung haben tiefe Löcher im Staatshaushalt hinterlassen. Seit dem EU-Beitritt des Landes 1981 war die Aufnahme in den Staatsdienst eine sozialpolitische Maßnahme, mit der der massenhaften Landflucht, zu der es als Folge des ungeschützten Agrarmarkts kam, begegnet wurde. Der damalige Anteil von 21 Prozent landwirtschaftlicher Bevölkerung wurde auf sechs Prozent reduziert. In derselben Zeitspanne ist aus der Hauptstadt Athen eine molochartige Agglomeration geworden, in der fünf von insgesamt elf Millionen Griechen leben. Die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2004 wiederum hatte ökonomisch betrachtet die Funktion einer vorgezogenen Abwrackprämie für die Bauwirtschaft; Milliarden Euro an Steuergeldern wurden in eine langfristig disfunktionale Infrastruktur gepumpt.

Man kaschierte die miserable Lage mit haushaltspolitischen Betrügereien. Doch auch anderswo in Europa war ökonomische Ehrlichkeit eine Rarität. Siehe die vielfältigen „außerbudgetären Maßnahmen", bei denen kommunale Einrichtungen angeblich steuergünstig verleast wurden; siehe das Outsourcing staatlicher Einrichtungen; siehe die Einrichtung von Sonderfonds, die für die Parlamente unkontrollierbar sind.

Warum also Griechenland? Unter anderem deshalb, weil an einer kleinen Volkswirtschaft ein soziales Experiment leichter zu testen ist. Und weil sich Griechenland gegenüber Washington und Brüssel geopolitisch seit zwei Jahrzehnten nicht willfährig genug erwiesen hat: „Makedonien, Kosovo und die Ölpipeline Burgas-Alexandropolis" fallen dem linken Soziologen Vassilis Filias als Antworten auf die Frage ein, warum ein derart harter Text im Fall Griechenland exekutiert wird. Die Blockierung der makedonischen Namensgebung hat die südlichste ex-jugoslawische Republik bis heute aus NATO und EU fern gehalten. Die engen Beziehungen der Regierung in Athen zu Belgrad verhindern die Anerkennung des Kosovo als Staat. Ein Vertrag mit Moskau über die Versorgung Südosteuropas mit Öl steht der von den USA betriebenen Achse Georgien-Türkei entgegen. Dafür muss Griechenland nun büßen, davon ist Vassilis Filias, emeritierter Professor der ehrwürdigen Pandios-Universität, überzeugt.

Am 23. April leistete Ministerpräsident Giorgos Papandreou den ökonomischen Offenbarungseid. Das bereits vor Ort befindliche Personal des IWF übernahm daraufhin im Land die wirtschafts- und sozialpolitische Tagesordnung. Nach Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Estland, Lettland und Litauen ist Griechenland damit das sechste Land in Europa, dessen Politik wesentlich von der Washingtoner Finanzorganisation geprägt wird. Und es ist das erste innerhalb der Eurozone.

 

IWF dreht auf In der Zwischenzeit müssen auch die Staatskanzleien in Madrid, Lissabon, Rom und London Strukturmaßnahmen verkünden, wie sie klassisch für den IWF sind. Zuvor waren bereits Budapest und Bukarest unter die Knute der Organisation geraten: Erhöhung von Massensteuern, längere Arbeitszeiten, Entlassung von Staatsbeamten, Kürzung von Löhnen und Renten; zusammengefasst: sozialer Kahlschlag.

Wer den Bankern der Washingtoner Finanzorganisation den Zutritt in den Euro-Raum verschafft hat, darüber werden möglicherweise dereinst die Archive Auskunft geben. Unmittelbar ging es bei der „Rettung" Griechenlands um das europäische Bankensystem, im konkreten Fall vor allem um griechische, französische und deutsche Institute, die griechische Staatsanleihen in großem Umfang in ihren Tresoren lagern (oder zu diesem Zeitpunkt noch lagerten). Um deren Werterhaltung willen haben EU-Merkel und IWF-Strauss-Kahn das berüchtigte 110 Milliarden-Euro-Paket geschnürt. Zur Bedienung desselben hat der IWF seine bisherige Geschäftsgrundlage über Bord geworfen. Nach dieser soll Kreditvergabe über drei Jahre hinweg nicht höher liegen als die sechsfache IWF-Quote des jeweiligen Landes. Im Falle Griechenlands wären das bei einer Quote von 1,24 Milliarden US-Dollar 7,5 Milliarden. Nun liegt der IWF-Kredit für Griechenland mit 40 Milliarden Dollar beim 32-fachen. Dem IWF ist sein erstes Engagement in der Eurozone viel Geld wert.

Und die Europäische Zentralbank (EZB) verwandelt sich in einen Müllschlucker fauler Staatsanleihen. Konnte man von ihrem Chef Jean-Claude Trichet Anfang Mai noch vernehmen, dass in seinem Haus über einen Ankauf griechischer Staatsanleihen „nicht einmal nachgedacht" würde, so verkündete er zehn Tage später das Gegenteil: Obligationen, die zuvor von Rating-Agenturen als „Ramsch" deklariert wurden, gelten ab sofort als Sicherheit und werden von der EZB aufgekauft. Über kurz oder lang wird dies eine exorbitante Erhöhung der Geldmenge zur Folge haben. Die gleichzeitig erfolgte Ankündigung, zum 26. Mai und zum 30. Juni den Geschäftsbanken festverzinsliche unbeschränkte Euro-Mengen zur Verfügung zu stellen, verhöhnt die Idee einer Hartwährungspolitik.

 

Die Lösung der Euro-Krise, die als eine griechische begonnen hat, ist somit nicht nur ein sozialpolitisches Experiment, sondern auch ein währungspolitisches. Beide Experimente sind eng miteinander verzahnt. Wer gesehen hat, mit welcher Mischung aus Repression und Diffamierung dem Widerstand der Betroffenen in Athen von Exekutive und Medien begegnet wird, kann das Ausmaß der aktuellen Strukturkrise erahnen.

 

Hannes Hofbauer lebt als Autor und Verleger in Wien.