Griechenland: Einschneidende Reformen wirken nur mit europäischer Solidarität

Der prekäre Zustand der öffentlichen Finanzen ist das dominierende Faktum, das sowohl die ökonomische Lage als auch die politische Situation Griechenlands zurzeit bestimmt und alle anderen Probleme des Landes überlagert. Die Entdeckung des gigantischen Defizits im Haushalt des Jahres 2009 und die Zweifel, ob die griechische Regierung das notwendig gewordene Sparprogramm umsetzen kann, haben dazu geführt, dass Griechenland von den internationalen Finanzmärkten als hoch riskanter Schuldner wahrgenommen wird. Mit dieser Bewertung der Situation rückt für den Fall, dass die Regierung Papandreou nicht rasch sichtbare Sanierungserfolge vorweisen kann, die Möglichkeit eines Staatsbankrotts bedrohlich nah.

Und Griechenland hat bereits in diesen Abgrund geschaut. Am 28. April 2010 stieg der Spread (der Zinsaufschlag, der für griechische Staatsanleihen im Vergleich zu deutschen Bundesanleihen verlangt wird) auf über 10% oder 1.000 Basispunkte an, nachdem die Ratingagentur Standard & Poor's die griechischen Anleihen auf den Status von Junk-bonds (BB+) he­rabgestuft hatte. Damit hätten sich für die 8,5 Milliarden Euro, die der griechische Staat bis zum 19. Mai zur Ablösung früherer Anleihen aufbringen musste, auf dem internationalen Finanzmarkt kaum mehr Investoren gefunden. Die Athener Regierung musste zur Kenntnis nehmen, dass die Märkte bei ihren Bewertungen »nicht vom wahrscheinlichsten, sondern vom schlimmsten Szenario ausgehen«, wie es Ministerpräsident Giorgos Papandreou verbittert formulierte.

Erst unter dem Eindruck dieser Entwicklung - und der Her­abstufung auch der portugiesischen und spanischen Kreditwürdigkeit - rang sich die deutsche Regierung zu der Aussage durch, auf die nicht nur die Griechen, sondern auch die meisten Eurozonen-Partner seit Wochen gedrängt hatten (siehe dazu den Beitrag von Thomas Fricke »Nach dem Griechenland-Desaster: Die Währungsunion braucht grundlegende Reformen« in der in der Autorenangabe notierten FES-Broschüre - d. Red.). Auf Drängen von EZB-Präsident Trichet und IWF-Chef Strauss-Kahn erklärte Bundeskanzlerin Merkel, Deutschland werde seiner Verantwortung nachkommen, und sagte einen Beschluss über den deutschen Kreditanteil noch vor dem 9. Mai zu. Eine solche verbindliche Aussage hatte die griechische Seite spätestens nach dem 23. April erwartet, an dem Ministerpräsident Giorgos Papandreou die Aktivierung des von IWF und Eurozone eingerichteten Stützungsprogramms offiziell beantragt hatte.

Auf einem Sondergipfel der Euro-Mitgliedsländer am 7. Mai wurde das Hilfspaket für Griechenland endgültig verabschiedet. Ein neuer Beschluss ist auch deshalb nötig, weil durch das aggressive Misstrauen »der Märkte« gegenüber Griechenland zusätzlich zu den bereits seit dem 25. März zugesagten 45 Mrd. Euro (davon 30 Mrd. von den Euro-Ländern) ein Stützungspaket für insgesamt drei Jahre notwendig geworden ist, das sich auf etwa 110 Mrd. Euro belaufen wird. Für die­se Kreditlinie wurde von der griechischen Seite ein verbindliches Sparprogramm für den Zeitraum 2010-2012 abgefordert, das noch einschneidendere Maßnahmen vorsieht als das bereits beschlossene »Programm für Stabilität und Entwicklung« (griechisch: PSA).

Dieses erweiterte Programm, das die Regierung Papandreou am 2. Mai beschlossen hat, wurde mit den Vertretern von IWF, EZB und EU-Kommission ausgehandelt, die sich ohnehin in Athen befanden. Diese »Troika« sollte ursprünglich nur den Realitätsgehalt und die Umsetzung des PSA evaluieren. Jetzt hatte sie mit der griechischen Regierung auszuhandeln, was der Euro-Gipfel als Basis für das neue Stützungsprogramm absegnen sollte.

Der Beinah-Bankrott vom 28. April hat der griechischen Seite in den Verhandlungen mit der Troika kaum einen Spielraum gelassen. Das hat Papandreou den Griechen in seiner Ansprache vom 2. Mai überaus klar gemacht: Das Land stehe an einer historischen Wegscheide, es gehe schlicht um »die Rettung des Vaterlandes« vor dem Staatsbankrott, der alle Familien viel härter treffen würde als das Sparprogramm, zu dem es keine Alternative gebe. Mit dieser Entwicklung ist Griechenland - auch wegen der bereits sichtbaren Auswirkungen auf den Euro - zu einem historischen Test- und Problemfall für die Europäische Union und insbesondere für die Eurozone geworden.

 

 

Gründe für die aktuelle Situation

 

Nur wenige Wochen nach ihrem Wahlsieg vom 4. Oktober 2009 musste die neue Pasok-Regierung unter Ministerpräsident Giorgos Papandreou feststellen, dass die abgewählte Regierung der konservativen Nea Dimokratia (ND) für das laufende Jahr ein Haushaltsdefizit von 12,7% hinterlassen hatte. Diese Zahl wurde im April sogar auf 13,6% korrigiert, zum einen aufgrund neu entdeckter Schulden der staatlichen Krankenhäuser, zum anderen weil das BIP 2009 noch stärker geschrumpft war als erwartet. Da das Defizit 2009 mehr als doppelt so hoch lag wie die Schätzung, die Athen noch im September nach Brüssel gemeldet hatte, wurde die Glaubwürdigkeit Griechenlands und seiner Statistik-Behörde bei den Partnern in der EU und in der Eurozone nicht zum ersten Mal zutiefst erschüttert. Das kombinierte Haushalts- und Vertrauensdefizit schlug sich auch in einem Downgrading der griechischen Staatsanleihen durch zwei der großen Ratingagenturen nieder.

Das enorme Haushaltsloch, das die akkumulierte Staatsverschuldung auf 303 Milliarden Euro oder 115% des BIP hochtrieb, lässt sich nicht nur mit der klientelistischen Plünderung der Staatskasse erklären, wie sie in Wahljahren in Griechenland üblich ist, sondern resultiert vor allem aus der strukturellen Schieflage der öffentlichen Finanzen, die ihrerseits auf steigende unproduktive Staatsausgaben (in erster Linie für den überbesetzten öffentlichen Dienst) und ein notorisch hohes Defizit bei den Steuereinnahmen (vor allem aufgrund verbreiteter Steuerhinterziehung) zurückgeht. Der Konjunktureinbruch im Gefolge der globalen Rezession, der in Griechenland die drei wichtigsten Branchen (Tourismus, Bauindustrie und Handelsschifffahrt) am härtesten traf, hat diese strukturelle Krise der öffentlichen Finanzen deutlich verschärft: Das Schrumpfen des BIP um 2% im Jahr 2009 führte zu sinkenden Steuereinnahmen und steigenden Sozialausgaben, beispielsweise für die Arbeitslosen, deren Quote im Laufe des Jahres 2009 von 8,2 auf 10,2% angestiegen ist.

 

 

Das Programm für Stabilität und Entwicklung

 

Die Antwort der Regierung Papandreou auf das Schreckensszenario eines Staatsbankrotts war das von Finanzminister Papakonstantinou vorgelegte »Programm für Stabilität und Entwicklung« (PSA), das unter dem Druck der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank mehrfach verändert wurde. Das PSA ging Mitte Februar an die europäischen Partner, die es als Blaupause für die Sanierung der griechischen Staatsfinanzen akzeptierten. Seitdem steht das griechische Budget unter »verschärfter Aufsicht« der EU-Kommission, der Euroländer und der EZB.

Erklärtes Ziel des PSA war die Reduzierung des Haushaltsdefizits auf unter 3% des BIP innerhalb von drei Jahren. Bemerkenswert an diesem Sparvorsatz sind zwei Punkte: erstens die kurze Anpassungsfrist von nur drei Jahren, die noch ehrgeiziger ist als etwa das vierjährige Sparprogramm Irlands; zweitens der besonders tiefe Einschnitt im ersten Jahr von 4% (gegenüber 3,1% in 2011 und 2,9% in 2012). Beides sollte den europäischen Aufsichtsinstanzen und den internationalen Finanzmärkten signalisieren, dass man eine Rosskur gegen die »griechische Krankheit« akzeptiert. Zugleich schien es der Regierung den Vorteil zu bieten, dass man die härtesten Maßnahmen noch deutlich vor den nächsten Wahlen (im Herbst 2013) hinter sich hat. Die Vorgabe für den Haushalt 2010 bedeutet Einsparungen in Höhe von ca. 9,6 Milliarden Euro. Diese sollen je zur Hälfte durch Ausgabenkürzungen und erhöhte Einnahmen erzielt werden. Zur Reduzierung der Ausgaben wurden folgende Maßnahmen beschlossen:

n  Lineare Kürzung der Einzeletats aller Ressorts um 10%.

n        Einstellungssperre für den öffentlichen Dienst im Jahr 2010, danach radikale Begrenzung der Neueinstellungen (Besetzung von jeweils nur einer von fünf frei werdenden Stellen).

n  Drastische Einkommenskürzungen (rückwirkend ab Januar 2010) im öffentlichen Dienst u.a. durch die Kürzung von »Zulagen« für alle Gehaltsgruppen einschließlich Urlaubs- und Ostergeld (im Durchschnitt um 15%, für höhere Beamte bis zu 20%).

Weiterhin sieht das PSA eine radikale Rückführung des Subventionsbedarfs für die Sozialkassen (Renten- und Krankenversicherung) vor. Das setzt voraus, dass man kurzfristig die ausstehenden Beiträge der Arbeitgeber (derzeit ca. 35%) eintreiben und mittelfristig einen Großteil der Schwarzarbeiter in den formellen Arbeitsmarkt integrieren kann. Die auf längere Sicht drohende Auszehrung des Staatshaushalts durch die Rentenkassen ist nur durch eine grundlegende Rentenreform zu stoppen. Der entsprechende Gesetzentwurf hat zum Ziel, das durchschnittliche Renteneintrittsalter von 61,5 auf 63,5 Jahre zu steigern. Die Rentenhöhe soll ab 2018 auf Basis der Einkommen der letzten zehn Jahre statt der letzten fünf Jahre berechnet werden, langfristig aber auf der Basis des lebenszeitlichen Einkommens. Für Renten über 1.400 Euro wird eine (prozentual gestaffelte) Solidaritätsabgabe erhoben. Vor allem aber ist die Rente in Zukunft gesplittet: Die obligatorische Mindestrente von ca. 360 Euro wird durch eine Summe aufgestockt, die sich aus den jeweiligen Ansprüchen an die Rentenkasse ergibt. Insgesamt läuft die Rentenreform auf eine Kürzung des ohnehin bescheidenen Rentenniveaus (im Durchschnitt etwa 520 Euro) um 20 bis 30% hinaus.

Zur Verbesserung der Einnahmen setzt das Stabilitätsprogramm kurzfristig auf höhere Steuern und mittelfristig auf den Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Es sieht folgende neue Besteuerungen vor:

n  Eine neue achtstufige Einkommensteuer mit einem Spitzensatz von 45% (für Jahreseinkommen über 100.000 Euro).

n  Höhere Erbschaft- und Schenkungsteuern sowie die Besteuerung von Dividenden.

n  Eine Sondersteuer für teure Autos, Jachten und Luxusimmobilien.

n  Eine wirksame Besteuerung der Freiberufler, die bislang vom Fiskus völlig unzureichend erfasst waren, auf Basis ihrer sichtbaren Vermögenswerte.

n  Eine Erhöhung der allgemeinen Mehrwertsteuer von 19 auf 21% sowie eine erhöhte Mehrwertsteuer von 23% für Luxusgüter.

n  Die Aufhebung der Mehrwertsteuerbefreiung für bestimmte Freiberufler (z.B. Rechtsanwälte).

n  Die Besteuerung der Einnahmen der Orthodoxen Kirche.

Für den Kampf gegen die Steuerhinterziehung, der für die mittelfristige Konsolidierung der öffentlichen Finanzen entscheidend ist, schafft das Steuergesetz neue Instrumente. Die Strafen für Steuersünder werden drastisch erhöht. Hohe Gefängnisstrafen drohen auch Steuerbeamten, denen passive Bestechung nachgewiesen werden kann. Die Steuerfahndung wird verstärkt, das Personal speziell für den Kampf gegen »Wirtschaftsverbrechen« ausgebildet. Außerdem müssen künftig alle Gewerbetreibenden ihre Umsätze lückenlos anhand von Quittungen belegen, wovon ganze Berufsgruppen - wie beispielsweise Taxifahrer und Kioskbetreiber - bisher ausgenommen waren.

Der »Kampf für die Quittungen« ist ein zentraler - und wohl der originellste - Aspekt der Steuerreform. Die vollständige Erfassung der Mehrwertsteuer soll durch Motivation aller Steuerbürger erreicht werden: Diese können ihre Steuerbelastung mindern, indem sie Quittungen für ihre täglichen Ausgaben vorlegen (selbst ein Jahreseinkommen von 6.000 bis 12.000 Euro bleibt nur dann steuerfrei, wenn 10% dieser Summe als Ausgaben belegt werden können, jenseits von 12.000 Euro sind Belege für 30% erforderlich). Erklärtes Ziel dieser Regelung ist, alle Bürger zu Steuerfahndern zu machen und das Bewusstsein zu stärken, dass Steuerhinterzieher nicht einfach nur den Staat, sondern ebenso alle anderen betrügen.

 

 

Wirkung des Reformprogramms

 

Dieses umfassende Reformprogramm wurde von den europäischen Partnern und den Instanzen in Brüssel und Frankfurt, aber auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und von der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) als überzeugend und »ehrgeizig« gewürdigt. Dennoch haben die zuständigen Gremien der EU und der Eurozone wochenlang gezögert, auf das Lob für den Mut der Papandreou-Regierung einen konkreten Unterstützungsplan folgen zu lassen. Erst beim Brüsseler Gipfel vom 25. März 2010 rauften sich die EU, die Eurozone und die EZB zu einem Beschluss zusammen, der »für den Fall des Falles« ein kombiniertes Kreditprogramm von IWF und einer »Koalition der willigen« EU-Länder vorsieht. Dabei war der IWF auf Insistieren der deutschen Seite - und gegen den Widerstand der EZB - ins Boot geholt worden. Aber auch nach dem 25. März blieben die Bedingungen und technischen Modalitäten des Griechenland-Programms weiter unklar, desgleichen die Höhe der Zinsen, die Athen abverlangt werden sollten. Im letzten Punkt sprach die deutsche Seite zunächst von »marktüblichen« Zinsen. Von dieser Position musste Berlin abrücken, denn am 11. April beschlossen die Finanzminister der Eurozone ein potenzielles Kreditpaket für Griechenland in Höhe von 30 Milliarden Euro zu dem (durchaus nicht karitativen) Zinssatz von etwa 5%. Unklar blieb aber immer noch, ob Athen auf dies­e Kreditlinie erst zurückgreifen kann, wenn neue griechische Anleihen nicht mehr absetzbar sind, oder schon dann, wenn die Zinsbelastung »barbarisch« bleibt.

Die griechischen Medien haben diese mehrfachen Verzögerungen - und speziell das »Mauern« der deutschen Regierung - dafür verantwortlich gemacht, dass griechische Anleihen auf den Finanzmärkten auch nach Verabschiedung des Stabilitätsprogramms nur mit hohen Zinsaufschlägen abzusetzen sind. In der Tat kletterte der Spread für griechische Bonds, der Ende Februar bei der letzten großen Emission griechischer Papiere noch bei 3% gelegen hatte, im Laufe des April von einem Rekordhoch auf das andere. Am 23. April, nach Veröffentlichung des korrigierten Haushaltsdefizits für 2009, lag der Spread erstmals über 6%.

Damit war klar, dass Griechenland für seinen bis zum 19. Mai anfallenden Kreditbedarf in Höhe von über acht Milliarden Euro ein Zinsniveau riskieren würde, das in Regierungskreisen als »barbarisch« bezeichnet wird, wobei das griechische Wort auf die Rolle der nördlichen EU-Partner anspielt. Das PSA der Regierung Papandreou hat also nicht die erwartete »Schutzwirkung« gegenüber den Finanzmärkten entfaltet. Die­se höchst beunruhigende Entwicklung wurde am 27. April noch beschleunigt, als die Ratingagentur Standard & Poor's die griechischen Bonds gleich um drei Stufen auf BB+ herunterstufte. Der Spread explodierte und stieg erstmals auf mehr als 10%. Damit stand Griechenland ohne die billigeren Kredite aus dem IWF-Euro-Programm vor der Insolvenz.

Wer und was für diese Entwicklung verantwortlich ist, wird in Griechenland kontrovers diskutiert. Populär ist der Verweis auf die »Spekulanten«. Von den meisten Wirtschaftsexperten wird aber anerkannt, dass die Skepsis »der Märkte« auch auf politische Fehler der Regierung und sehr reale Probleme der griechischen Wirtschaft und Gesellschaft reagiert:

n  Die Regierung hat den Ernst der Lage zu spät erkannt und nicht entschlossen gehandelt, wobei auch Differenzen innerhalb der Regierung verzögernd wirkten.

n  Das beschlossene PSA blieb zu lange auf dem Papier: Das Steuergesetz wurde erst am 14. April 2010 vom Parlament verabschiedet, das Rentengesetz wurde am 15. April 2010 eingebracht und wurde erst in der zweiten Maihälfte 2010 verabschiedet.

n  Die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen ist nicht gesichert, insbesondere bleibt abzuwarten, welche Wirkungen die Proteste der Gewerkschaften haben.

n  Niemand weiß heute, ob das Sparprogramm die erklärten Ziele erreicht. Das liegt zum einen an zwei unsicheren Größen - Entwicklung des Spread und künftiger Konjunkturverlauf -, zum anderen daran, dass die Maßnahmen zur Erhöhung der Steuereinnahmen eher mittel- als kurzfristig greifen.

Für die Einschätzung des weiteren Krisenverlaufs sind die beiden letzten Punkte besonders wichtig. Dabei wird die Frage der Akzeptanz durch die Bevölkerung (insbesondere aus ausländischer Sicht) überschätzt. Die Gewerkschaften wehren sich zwar heftig und aus verständlichen Gründen; gut zwei Drittel der Bevölkerung beurteilen das Sanierungsprogramm als »ungerecht«. Aber eine ebenso große Mehrheit hat resignativ begriffen, dass dieses Programm alternativlos und die Krise das Resultat von »Sünden« der Vergangenheit ist. Die Generalstreiks werden zwar weitergehen, werden aber an der Realität der leeren Kassen nichts ändern. Von dieser Seite ist das PSA nicht aus den Angeln zu heben. Potenziell folgenreicher sind in dieser Hinsicht die Streiks kleiner Gruppen wie der Steuer- oder der Zollbeamten, von deren Motivation die Steigerung der fiskalischen Einnahmen abhängt. Das zeichnet sich bereits bei den Steuereinnahmen ab, die im ersten Quartal 2010 erzielt wurden. So konnten nach Angaben des Finanzministeriums nur drei von 67 Finanzämtern der wichtigsten Wirtschaftsregion Attika die eingeplanten Summen eintreiben.

Der Rückstand bei den Steuereinnahmen reflektiert allerdings auch bereits die negative wirtschaftliche Entwicklung. Das ursprüngliche PSA beruhte auf der Annahme, dass das BIP 2010 um 0,3% schrumpfen wird. Inzwischen rechnet das Wirtschaftsinstitut IOBE mit einem Minus-Wachstum von 3%, realistischer scheint aber ein Minus von 5%. Noch problematischer ist die Tatsache, dass die Rezession 2011 - wenn auch abgeschwächt - weitergehen wird und mit einem realen Wachstum frühestens 2012 gerechnet werden kann.

Die Verlängerung und wahrscheinliche Vertiefung der Wirtschaftskrise - in einer Periode allgemeiner konjunktureller Erholung in EU und Eurozone - resultiert vor allem aus dem Rückgang der Konsumausgaben, der wiederum eine direkte Folge des Sparprogramms ist. Da der private Konsum 70% des griechischen BIP ausmacht, hat die Kontraktion der Masseneinkommen (Löhne wie Renten) durchschlagende Folgen, die auch durch die erhoffte Belebung der Tourismus-Konjunktur nicht auszugleichen sind. Ein Alarmsignal ist, dass die Umsätze im Einzelhandel in der diesjährigen Osterperiode gegenüber dem Vorjahr um 22% zurückgingen.

Damit sind die im PSA angestrebten Haushaltsdaten heute schon unrealistisch: Zu verminderten Steuereinnahmen kommen erhöhte Ausgaben hinzu, etwa aufgrund der höheren Arbeitslosigkeit, die nach Aussagen von Arbeitsminister Loverdos auf 17 bis 18% steigen könnte. Damit droht die Basis des Stabilisierungsprogramms wie Treibsand wegzudriften. Eine weitere Verschärfung des Austeritätskurses mit neuen Einsparungen im Primärhaushalt würde das Land noch tiefer in die Rezession treiben und womöglich in jenen »tödlichen« Teufelskreis münden, vor dem George Soros schon Mitte April im griechischen TV-Sender Sky gewarnt hat. Diese Warnung ist noch aktueller geworden, weil die Troika von EU-Kommission, EZB und IWF der griechischen Regierung Anfang Mai noch schärfere Bedingung für ihr auf drei Jahre angelegtes Stützungsprogramm diktieren konnte.

 

 

Verspätetes Bail-Out-Programm
der europäischen Partner

 

Zu dieser Situation konnte es auch deshalb kommen, weil die Regierung Papandreou nicht die sofortige Implementierung des am 11. April zugesagten Stützungsprogramms in Höhe von 45 Mrd. Euro beantragt hat. Renommierte griechische Ökonomen wie Yiannis Stournaras (Direkter des Wirtschaftsforschungsinstituts IOBE) hatten damals gefordert, Papandreou müsse den Ernstfall »besser heute als morgen« ausrufen - auch im Hinblick auf das Liquiditätsproblem der griechischen Banken, das durch den Abzug von privaten Einlagen in Höhe von inzwischen etwa 15 Milliarden Euro entstanden ist. Die Banken halfen sich zwar mit dem Zugriff auf den Garantiefonds der Regierung (mit einer Reserve von 17 Milliarden Euro), der durch die EZB abgesichert ist. Aber wenn ein Sturm auf die Konten ausbricht, werden diese Reserven nicht reichen.

Eine rationale Erklärung für das Zögern der griechischen Regierung gibt es nicht. In Athen gehen aber die meisten Beobachter davon aus, dass es eine informelle Absprache mit der deutschen Bundeskanzlerin gab: Für deren Zustimmung zum Kreditprogramm vom 25. März habe Papandreou versprechen müssen, den Mechanismus nicht vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vom 9. Mai zu aktivieren. Diese Zusage aber war nach der Entwicklung des Spread in der zweiten Aprilhälfte nicht mehr zu halten.

Das Resultat ist ein neues, auch zeitlich erweitertes Stabilitätsprogramm, mit dem das ursprüngliche PSA in folgenden Punkten noch verschärft wird:

 

Ausgabenseite:

n  Einschränkung der allgemeinen Verwaltungsausgaben durch die Gemeindereform nach dem Plan »Kallikratis« (um knapp zwei Mrd. Euro jährlich).

n  Einfrieren aller Löhne und Gehälter im öffentlichen Dienst für drei Jahre; Reduzierung des Weihnachts-, Oster- und Urlaubsgeldes (»13. und 14. Gehalt«) auf zusammen 1.000 Euro für alle, aber völlige Streichung bei Gehältern über 3.000 Euro; Kürzung weiterer Zulagen um nochmals 8%.

n  Für die Rentner des öffentlichen Dienstes eine entsprechende Reduzierung der 13. und 14. Rente auf 800 Euro, völlige Streichung bei Renten über 2.500 Euro.

n  Für den privaten Sektor: Vorziehen der geplanten Reduzierung des allgemeinen Rentenniveaus und der Umstellung auf die Berechnung der Rentenhöhe nach dem Lebenseinkommen; gleitende Erhöhung des Renteneintrittsalters nach Maßgabe der steigenden Lebenserwartung; drastische Einschränkung der Frühverrentung (in keinem Fall unter 60 Jahren).

 

Einnahmenseite:

n  Anhebung der Mehrwertsteuer von 21 auf 23%.

n  Weitere 10%ige Erhöhung der Steuern für Benzin, Alkohol, Tabak und Luxusgüter; Extra-Steuer für sehr hohe Unternehmensgewinne.

n  Strafsteuer für illegal errichtete Bauten (landesweit auf über eine Million geschätzt).

Entscheidend an diesem Programm sind zwei Punkte: Zum einen sind im Vergleich zum ersten PSA die Akzente der »Gerechtigkeit« stärker ausgeprägt, vor allem durch das einheitliche (gekürzte) 13. und 14. Gehalt, das eine größere prozentuale Beschneidung der höheren Gehälter bedeutet. Zum anderen konnte eine Kürzung des 13. und 14. Gehalts im privaten Sektor völlig vermieden werden. Das hatte insbesondere Arbeitsminister Loverdos gefordert, und zwar mit Hinweis auf die negativen Folgen für die Finanzierung der Rentenkassen, aber auch für die Konjunktur. Aus demselben Grund argumentiert selbst der Arbeitgeberverband gegen Lohnkürzungen im privaten Sektor. Die relative Schonung der Einkommen im privaten Sektor (die ohnehin weit unter denen im öffentlichen Dienst liegen) war für die Regierung aus einem zweiten Grund wichtig: Bislang ist es ihr gelungen, eine breite Solidarisierung der Lohnabhängigen mit den öffentlichen Bediensteten zu verhindern. Die Distanz zwischen diesen beiden Gruppen erklärt zum großen Teil die relativ geringe Beteiligung an den Streiks und Demonstrationen, die vor allem vom öffentlichen Dienst getragen werden. Diese Kluft zeigt sich auch in der Umfrage  von Kappa-Research vom 28. und 29. April 2010, wonach knapp 80% der Bevölkerung harte Einschnitte für den öffentlichen Dienst (bei Beschäftigungszahlen und/oder Bezügen) befürworten, 70% dagegen jegliche Lohnkürzung im privaten Sektor ablehnen.

 

 

Aktuelle Debatten über die Zukunft Europas

 

Die innergriechische Europadebatte steht ganz im Zeichen der akuten Krisenlage und der Frage, wie sich die einzelnen Partnerstaaten verhalten. Die meisten Kommentare reduzieren den Begriff »europäische Solidarität« auf das Kriterium »Hilfe für Griechenland«. In den seriösen Zeitungen wird jedoch aus diesem Anlass auch intensiv über die Zukunft der EU und der Eurozone diskutiert.1

Prinzipiell befürwortet die Regierungspartei Pasok seit langem eine stärkere europäische Integration einschließlich einer koordinierten Fiskal- und Steuerpolitik, wobei sie stets die Forderung nach einem »sozialen Europa« betont. Diese pro-europäische Haltung hat sich in der aktuellen Krise noch verstärkt, entsprechend hat man die als »feindlich« wahrgenommene Haltung der deutschen Regierung auch als »gemeinschaftsschädigend« charakterisiert. Dagegen wurde die vom deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble formulierte Idee eines europäischen Währungsfonds nach Vorbild des IWF, bestehend aus Wirtschaftsexperten und maßgeblichen Politikern, als richtiger Denkansatz gewürdigt, der allerdings für die aktuelle griechische Krise zu spät komme.

Alle im Parlament vertretenen Parteien, mit Ausnahme der Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), stellen weder die EU-Mitgliedschaft noch die Zugehörigkeit zur Eurozone in Frage. Das gilt auch für die breite Öffentlichkeit, trotz tiefer Enttäuschung über das zögerliche Agieren der europäischen Partner. Die »sozial ungerechte« Gewichtung des Stabilitätsprogramms der Regierung wird zwar von einer Mehrheit auch auf den »Druck« aus Brüssel und Berlin zurückgeführt, aber auch diese Kritik impliziert, dass der einzig denkbare und wünschenswerte Lösungsrahmen der europäische ist. Auch die Sehnsucht nach der griechischen Drachme, die in den Köpfen als inflationäre Währung verinnerlicht ist, hält sich in engen Grenzen: Bei jüngsten Umfragen wurden Zweifel am Euro nur von 17% der Befragten geäußert.

Das beherrschende Thema in der aktuellen Debatte ist die Rolle des IWF, der durch den Brüsseler Beschluss in den EU-Lösungsrahmen eingespannt wurde. Ursprünglich wurde der IWF von Regierungschef Papandreou selbst ins Spiel gebracht, und zwar als last resort-Adressat, falls sich die EU nicht auf einen Solidaritätsmechanismus einigen könne. Kritiker der Regierung sahen in dieser »Drohung« einen missglückten Bluff, der von Angela Merkel geschickt unterlaufen wurde, als sie die Beteiligung des IWF an einem europäischen Bail-Out-Konzept durchsetzte.

Die auch von Oppositionsführer Antonis Samaras verbreitete Version, Papandreou habe nur taktisch mit einer Lösung gedroht, die er selbst für eine Katastrophe hält, ist sicher falsch. Ein wichtiger Ratgeber des Regierungschefs ist der Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der schon früh erklärt hat (Kathimerini vom 7. Februar), der IWF tauge durchaus als »Schutznetz« gegen die Spekulation auf den Finanzmärkten: Der Währungsfonds habe sich in der Ägide von Dominique Kahn-Strauss »dramatisch« geändert und setze nicht mehr auf die alten Rezepte des »Totsparens«. Zudem verweist man in Athen darauf, dass die Experten des Währungsfonds von Beginn an in die Athener Beratungen über das PSA eingebunden waren. Im Übrigen wird über die regierungsfreundliche Presse die Meinung lanciert, die EZB habe zum Teil auf härteren Forderungen bestanden als der IWF (To Vima vom 18. April).

Ein klares Argument zugunsten der Beteiligung des IWF war stets auch der Zinssatz. Für den IWF-Anteil an dem kombinierten Stützungsprogramm würden nur knapp 3% Zinsen fällig - deutlich weniger als für die Kredite der Euro-Partner. Damit würde die kombinierte Zinsbelastung für das Gesamtpaket noch unter die Grenze von 5% gesenkt. Allerdings bleibt abzuwarten, wie die Geldgeber der Eurozone ihre Zinsen für das neue Dreijahres-Schuldenprogramm berechnen werden. In diesem Zeitraum muss der griechische Staat maximal 240 Milliarden Euro aufbringen (für Umschuldung, Neuverschuldung und Zinsen). Sollten die einzelnen Geberländer einen flexiblen Zins in Rechnung stellen, wird die Finanzierung des griechischen Defizits zu erträglichen Bedingungen nur gelingen, wenn die Athener Regierung bis Ende des Jahres handfeste Belege für die erfolgreiche Umsetzung des PSA liefert.

Hier liegt eine Hoffnung der Athener Regierung. Da sie bis Ende dieses Jahres ihre Anleihen mit einem berechenbaren Zins aufnehmen kann, gewinnt sie nicht nur eine Atempause, sondern womöglich auch eine Chance, um den entscheidenden Strukturdefekt dieses Programms neu zu diskutieren. Der besteht darin, dass die nachhaltigen Wirkungen auf der Einnahmenseite erst mittelfristig eintreten werden. Eine wesentliche Erhöhung der Steuereinnahmen, die bislang nur 32% des BIP ausmachen (bei einem EU-Durchschnitt von 40%) ist nicht in drei Jahren zu schaffen. Und der Kampf gegen die Steuerhinterziehung verspricht auch keine schnellen Erfolge, wie die oben angeführten Zahlen des 1. Quartals 2010 zeigen.

Diese Zahlen dokumentieren einen Konjunktureinbruch, der von den Wirtschaftsexperten der EZB, der OECD, des IWF wie auch von den Analysten der Ratingagenturen und der Großbanken als größtes Fragezeichen hinter dem »ehrgeizigen« Athener Programm gesehen wird. Deshalb sollten die europäischen Partner Griechenlands diskutieren, wie man diese Gefahr entschärfen kann. Wenn sie dazu beitragen wollen, dass das PSA mittelfristig tragfähig ist, sollten sie eine Entzerrung der Sparmaßnahmen befürworten. Aus heutiger Sicht ist die dreijährige Laufzeit dieses Programms »über-ehrgeizig« und somit kontraproduktiv. Die wirtschaftliche Erholung des Landes wird weitaus wahrscheinlicher, wenn es die 3%-Grenze des Haushaltsdefizits erst in vier Jahren, also Ende 2013, anstreben würde. Einen ähnlichen Effekt hätte das Modell, das inzwischen unter Experten - und in der Athener Wirtschaftspresse - ernsthaft diskutiert wird: eine Verlängerung der Laufzeiten für die griechischen Staatsanleihen, die in den nächsten drei bis fünf Jahren fällig werden. Auch dies würde der Regierung Papandreou eine »Zeit zum Atemholen geben, um ihr Sparprogramm samt den strukturellen Reformen umzusetzen« (so Tony Barber in der Financial Times vom 29. April).

Die Gefahr, dass eine solche Korrektur der Sparpläne von der Bevölkerung als »Entwarnung« wahrgenommen wird, existiert nicht. Spätestens seitdem die Griechen am 28. April in den Abgrund geblickt haben, ist ihnen vollends klar, dass ein Staatsbankrott aus eigener Kraft nicht abzuwenden ist. Zudem wird die internationale Kontrolle über das Sparprogramm jede Abweichung von den definierten Zielen verhindern. Allerdings könnte die Akzeptanz dieses Programms durch die Gesellschaft merklich zunehmen, wenn einige Parameter korrigiert werden, die eine positive Wirkung für die künftige Konjunktur entfalten. Diese gesellschaftliche Akzeptanz hängt maßgeblich von drei Bedingungen ab. Erstens von der Einsicht über den Ernst der Lage, zweitens von dem Gefühl einer »gerechten« Verteilung der zu erbringenden Opfer, drittens von der Hoffnung, dass diese Opfer nicht umsonst sind, sondern sich irgendwann in der noch so fernen Zukunft auszahlen. Die erste Bedingung ist im Fall Griechenland zweifellos gegeben, die zweite und dritte sind es derzeit nicht. Sie sind wahrscheinlich nur zu erfüllen, wenn man einer Regierung, deren ehrlicher Willen außer Zweifel steht, für die nötigen durchgreifenden Reformen mehr Zeit einräumt.

 

 

Postskriptum anlässlich einer Debatte

im Wissenschaftlichen Beirat von attac

 

Im Wissenschaftlichen Beirat von attac Deutschland hat sich um die Stellungnahme »Griechenland, das Diktat von IWF und EU und die deutsche Verantwortung« (zum Nachweis der Beiträge siehe die Anmerkungen zum Beginn des Artikels - d.Red.) eine Kontroverse entwickelt, in der von mir vorgetragene Argumente indirekt eine Rolle spielen. Insbesondere Winfried Wolf hat angemerkt, dass ich eine Reihe von Punkten falsch sehe und bestimmte Fakten vernachlässige. Ich kann mich an dieser Stelle nicht ausführlich mit den Argumenten von Winfried Wolf auseinandersetzen, möchte aber auf die wichtigsten Punkte kurz eingehen.

Vorweg meine grundsätzliche Meinung: Den Wirkungen des Greece-bashing, über das man sich zu Recht empören muss, kann man nicht entgegentreten, indem man die kritischen Punkte erst gar nicht benennt. Wenn ich einige Punkte in den letzten Beiträgen nicht angesprochen habe, heißt das nicht, dass ich sie nicht sehe. Zum Beispiel hatte ich auf die Frage der Rüstungsausgaben in einem ausführlichen Artikel bereits im Januar 2010 in Le Monde Diplomatique gebührend polemisch hingewiesen.

 

Der Fall Siemens

Es gab in der deutschen Presse eine umfassende Berichterstattung zu Siemens und Griechenland über Monate hinweg (vor allem in der Süddeutschen Zeitung); es ist aber natürlich richtig, diese deutsche Beteiligung am griechischen Korruptions-Sumpf auch jetzt wieder zu betonen. Siemens spielt aber ganz sicher keine avantgardistische Rolle bei der »Korrumpierung der griechischen Gesellschaft«. Denn kein Grieche wird leugnen, dass die Korruption in seinem Lande von der Nachfrage- und nicht von der Angebotsseite getrieben wird. Die Nachfrage nach Bestechungsgeldern ist endemisch (in der Tat ein Erbe der osmanischen Herrschaft, deren Ende nunmehr aber über 180 Jahre zurückliegt), ein Unternehmen, das nicht mitmacht, kam kaum zum Zuge. Natürlich ist es ein Skandal, dass Siemens mitgespielt hat (und auch keineswegs zufällig, man erinnere sich an den lokalen Münchener Skandal), aber ausländische Firmen haben die Korruption in Griechenland nicht er-, sondern vorgefunden. Der Fall Siemens ist deshalb kein Grund, die »innergriechische Fakelaki-Wirtschaft« zu relativieren oder gar zu ignorieren.

 

Klientelstaat

Natürlich hat der Klientilismus tiefe historische Wurzeln, das Entscheidende ist aber, dass er reibungslos in die griechische Parteiendemokratie transferiert wurde und damit auch den modernen Staat korrumpiert. Es stimmt ja: die Henne hat das Ei gelegt, aber das ist nun schon einige Zeit her. Aber zu viele haben von dem alten System profitiert (oder sich das eingebildet). Gottlob haben jetzt die meisten Griechen diese ewigen Hinweise auf die historischen Gründe satt und sagen zu Recht: Wir hatten Zeit genug, unsere Gesellschaft von diesen Erscheinungen zu befreien, aber wir haben leider unseren kleinen Frieden mit diesem Zuständen gemacht und sie damit auch durch eigenes Verhalten perpetuiert. Und sie sehen auch im Rückblick: Der EU-Beitritt war die große Chance, das anzupacken, aber wir haben das versäumt und immer wieder die Parteien bestätigt, die den Klientelstaat verlängert haben.

Solange jede zweite Familie hoffen durfte, einen Sprössling im öffentlichen Dienst unterzubringen, wurde der marode Staatsdienst toleriert. Damit ist jetzt Schluss: Der Einstellungsstopp bedeutet, dass für die große Mehrheit eine Chance auf individuellen Nutzen an diesem System entfällt, das schärft den Blick auf die kollektiven Kosten (die den meisten längst bewusst waren).

 

Öffentlicher Sektor

Dass man so viele Leute im öffentlichen Sektor nicht »sinnvoll beschäftigen kann« (das Wort »sinnvoll« ist natürlich zentral), sehen 95% der griechischen Bevölkerung inzwischen ein (einschließlich der meisten öffentlich Bediensteten, die ja ihren Betrieb am besten kennen). Das skandinavische Modell auch nur als Gedankenspiel zu benutzen, würde die meisten Griechen köstlich amüsieren. Denn hier steht ja den sozial ausgewiesenen Staatsfunktionen eine sozial akzeptierte hohe Steuer­quote gegenüber. Bei einem effektiveren und gesellschaftlich nützlicheren Staat würden auch die Griechen höhere Steuern zahlen (wenn auch nicht gerne).

Entscheidend für die griechische Misere ist das Verhältnis von Personalausgaben und Steuereinnahmen: Hier herrscht das krasseste Missverhältnis im gesamten EU-Bereich. Ich habe das in dem erwähnten Aufsatz in Le Monde diplomatique vom Januar 2010 auf die Aussage zugespitzt: Keiner will Steuern zahlen, aber alle wollen für ihre Sprösslinge eine Stelle im öffentlichen Dienst. Das Wort »dimosio« (öffentlicher Bereich) ist im Alltagsgriechisch geradezu synonym für a) sichere Pfründe, b) Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten Arbeitsinhalt und c) Fehlen jeder Erfolgskontrolle. Wo dann noch mangelnde Effizienz mit Korruptionsbereitschaft (und -gelegenheit) zusammenkommt, multiplizieren sich die negativen Folgen. Das zeigt sich am klarsten ausgerechnet bei dem Steuern eintreibenden Teil des Staatsapparats, was wiederum die Höhe der Steuervermeidung erklärt.

Verglichen mit den Verhältnissen in anderen Ländern (und erst Recht mit Skandinavien) ist der öffentliche Bereich in Griechenland ohne jeden Zweifel qualitativ »under performing« und quantitativ »überdimensioniert«. Das wissen alle, die je mit diesem Apparat zu tun hatten, vorweg die griechischen Bürger. Nur hatten sie sich fatalistisch damit abgefunden. Das auszusprechen hat nichts mit jener infamen Hetze zu tun, die in Deutschland von den Boulevardmedien betrieben und von der politischen Klasse aus durchsichtigen Motiven gefördert wurde. Den tragischen Befund ganz wegzulassen, zeugt entweder von unzureichender Landeskunde oder von falscher (taktischer) Rücksicht. Im Übrigen fällt man damit all den öffentlichen Bediensteten in den Rücken (etwa den meisten Lehrern), die auch deshalb unterbezahlt sind, weil der Staat in anderen Bereichen einen parasitären Apparat finanziert.

 

Haushaltsdefizit und öffentliche Schulden

Die Verdopplung dieses Defizits 2009 geht großenteils auf eine Erscheinung zurück, die für Wahljahre typisch ist: die Ausweitung des öffentlichen Sektors durch Neueinstellungen und die Anweisung an die Finanzbeamten, die Wähler mit Steuerforderungen in Ruhe zu lassen. Dagegen spielte die Krise beim Rückgang der Steuereinnahmen eine lediglich verstärkende Rolle (ich habe diese ursächliche Hierarchie in dem vorstehenden Beitrag erläutert). Entscheidend für die krasse Haushaltslücke 2009 war nicht, dass es ein Krisenjahr war, sondern dass es ein Wahljahr war: Die scheidende ND-Regierung hat noch vor den Wahlen im Oktober über 30.000 eigene Leute eingestellt. Seit langem pflegen sich in jedem Wahljahr die Haushaltsdefizite aus den beschriebenen Gründen zu verdoppeln.

Krisenbedingt war allerdings die nachträgliche, noch im März 2010 erfolgte Korrektur des Defizits 2009 von 12,7 auf 13,6% des BIP (der alten Zahl lag die Annahme einer Rezession von nur 0,2% zugrunde, tatsächlich waren es minus 2,0 %). Falsch ist übrigens die Annahme, dass die griechischen Bonds überwiegend bei ausländischen Banken liegen. Die griechischen Banken sitzen jedenfalls auf einem so hohen Anteil (ca. um die 40%), dass sie bankrott wären, wenn der jetzt immer häufiger vorgeschlagene Haircut (von 30 bis 50%) kommen würde.

 

Euro, Eurozone und EU-Gelder

Natürlich ist die Diskussion spekulativ, wie es ohne den Euro-Eintritt gelaufen wäre. Sicher ist aber eines: Der Eintritt in die Eurozone von 2001 wurde von sozialdemokratischen Reformern (etwa in der Regierung Simitis) als Chance und Herausforderung empfunden, z.B. die Staatsverschuldung abzubauen (mit Einsparung von Ausgaben durch Effektivierung des öffentlichen Dienstes und Erhöhung der Einnahmen vor allem durch Kampf gegen die Steuerhinterziehung). Diese Chance wurde grandios verpasst. Ungeachtet dessen sind sich die meisten Ökonomen und Politiker darin einig, dass ihr Land mit der alten schwachen Drachme in der jüngsten Krise noch viel früher an den Rand des Staatsbankrotts geraten wäre. »Die Stabilitätsvorteile durch die Zugehörigkeit zur Eurozone, vor allem für die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft, lassen sich gar nicht hoch genug einschätzen«, fassen George Pagoulatos und Christo Triantopoulos als breiten Konsens der innergriechischen Debatte zusammen (in: South European Society and Politics, Vol. 14, Nr. 1, März 2009, S. 37).

Aus diesem Konsens hat sich lediglich die Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) ausgeschlossen, die ideologisch in der Breschnew-Ära des »realen Sozialismus« stehengeblieben ist. Die KKE hat - im Gegensatz zu dem Linksbündnis Syriza, deren Kern die linkssozialistische Partei Synaspismos darstellt - die EU seit jeher nur als »imperialistisches Konstrukt« wahrgenommen.

Aber selbst wenn man den Beitritt Griechenlands zur Eurozone für verfrüht oder einen grundsätzlichen Fehler hält, wäre ein Austritt - oder ein Rausschmiss - aus dem Euro aus heutiger Sicht ein Katastrophen-Szenario: Die Verschuldung bliebe in Euro stehen (eine abgewertete Drachme würde die durch einen »haircut« erreichte Schuldenminderung wieder liquidieren), der Zugang zu den Kreditmärkten wäre eher schwieriger, die Importe (etwa von Energieträgern) würden unerträglich teuer, die Drachme würde erneut zu einer inflationären Währung mit allen Konsequenzen (Kapitalflucht, Ausbleiben von Investitionen).

In diesen Kontext gehört der Hinweis auf die »Verschleuderung« der finanziellen Mittel aus Brüsseler Töpfen (zu denen ich in dem erwähnten Aufsatz in Le Monde diplomatique einiges gesagt habe). Für diese Vergeudung gibt es Hunderte schlagender Beispiele (angefangen mit der niedrigsten »Absorptionsquote« aller EU-Länder, weil die Athener Bürokratie nicht einmal imstande war, die verfügbaren Mittel auszuschöpfen, indem sie fristgemäß die entsprechenden Anträge formuliert hätte).

Dass die Nutzung der EU-Gelder alles andere als nachhaltig war, zeigt sich am deutlichsten in der Tatsache, dass der profitabelste und an den Börsen blühendste griechische Industriezweig über die ganzen Jahre die Betonbranche war. Dabei ist aber erneut festzuhalten: Der Klientelstaat ist ein zentraler Grund dafür, dass die entsprechenden Gelder vergeudet und nicht sinnvoll verwendet wurden. Dass dabei viele Gelder in Projekte flossen, an denen die Lieferanten, also die exportstarken Euro-Länder profitiert haben, stimmt immer, entlastet aber die griechischen Akteure keineswegs. Deren Verantwortung zu übersehen, ist für eine kritische Analyse des griechischen Debakels ein gravierendes Versäumnis. Zumal in einer Situation, in der die seit langem überfällige selbstkritische Debatte in Griechenland endlich in Gang gekommen ist.