Kino als Kriegseintritt und Schmerzenskasten

Filmästhetik, (miss)verstanden im Zeichen von Gewalt, von Benjamin bis Bigelow

in (01.06.2010)
„I´d just like to dedicate this to the women and men in the military who risk their lives on a daily basis in Iraq, in Afghanistan and around the world.“ So beendete Kathryn Bigelow ihre Dankesrede nach der Verleihung des Regie-Oscars; und als noch The Hurt Locker als bester Film ausgezeichnet wurde, endete ihre zweite Dankesrede so: „Perhaps one more dedication to men and women all over the world, who – sorry to reiterate – wear our uniform, but not just the military: HazMat emergency, firemen – they´re there for us, and we´re there for them!“ Durch Positivbezug auf einen aktuellen, unbeliebten Krieg (oder deren zwo) nahm Bigelow beinah die bête noire- oder John Wayne-Position gegenüber dem linksliberalen Hollywood-Establishment ein. Allerdings: Heute geht das. Hätte sie ihren Tribut 2004 formuliert, als Michael Moore bei der Oscarnacht „Shame on you, Mr. Bush!“ rief und der Genannte der US-Politik ein Antlitz verlieh, das leicht als böses Objekt konstruierbar war (zumal für ein Europa, das sich, von Sloterdijk bis Häupl, in Abgrenzung vom Cowboy als sowieso auf der Seite der Aufgeklärten imaginierte) – also, unterm Bush hätts des net gebn! Unter Obamas Oberbefehl hingegen wirken zwei Kriege – abseits ihrer politischen Für und Wider – offenbar sympathischer als zu Bushs Zeiten.
Aber: Geht „uns“ (die „wir“ das lesen) der Militarismus in Bigelows Rede so leicht runter wie dem Oscar-Saalpublikum? Ihr Tribut an jene, „who wear our uniform“, ist das ein „Genießen der Nation“ (Zizek), das wie ein Symptom wiederkehrt? („Sorry to reiterate“: Auch Bigelow fiel auf, dass sie sich wiederholte.) Oder müssen wir, wie Simon Rothöhler fordert, Bigelow postfeministisch sehen, als Gewährsfrau „klassischer Tugenden“ und „geerdeter Inszenierung“ als Antidot zur Blockbuster-Logik? Kein Grund, neoklassizistisch zu werden! (Manche treibt ihr Blockuster-Ekel ja bis zur Eastwood-Verehrung.) Folgen wir lieber der Verdrehung, die sich ergibt, wenn man die heilsame Klassizität in Bigelows Kino anruft. Dieses wurde oft auf ihre (Studien-)Zeit bei Vito Acconci und Art & Language zurückgeführt und wird nun aber schräg „klassifiziert“: Das letzte Mal, so moderierte Tom Hanks den Best Picture-Oscar ein, als zehn Filme dafür nominiert waren, 1943, da war Weltkrieg, und Casablanca hat gewonnen; welcher Film reiht sich heute in diese Tradition ein?
Ist The Hurt Locker das Casablanca unsrer Tage? Nun, auch ohne Bekehrungsplot gibt es in Bigelows Film eine Wendung vom selbstzufriedenen Isolationismus zum Kriegseintritt. Es geht, wohlgemerkt, um Eintreten in, nicht für, den Krieg. Denn: Die meisten US-Kriegsfilme sind heute traumatophil: Großproduktionen intensivieren den Furor des Kriegs-Bildes bis zur Verwundung der Publikumssinne (Krieg im und als Kino); kleinere Filme fokussieren am Irakkrieg die traumatischen Wirkungen auf US-Soldaten und fordern „Trau dich trauern!“ Gegenüber diesem Kino, das sich, so oder so, auf der sicheren Seite, in isolationistischer Sauberkeit, einrichtet und sagt „Krieg ist Irrsinn, Leid etc.“, vollzieht The Hurt Locker einen Kriegseintritt: Vom Schriftzug War is a drug an seinem Beginn an führt er vor, dass Krieg, auch Bombenentschärfung im Irak, funktioniert, intensive Erfahrungen generiert, die wenigstens nicht fad sind: Der Macho-GI who learned to love the bomb als Todgeweihter im Schutzanzug auf der Main Street stolzierend – oder ratlos daheim vor dem Supermarktregal. Was andere Filme als Trauma nobilitieren, wird hier als Traumjob vorgeführt.
Vorgeführt, nicht abgefeiert. Bigelows Filme prägt die Spannung zwischen dem Eintritt in Krieg, Gewalt, Raserei bis zur Immersion – und der Einführung eines Reflexionsmoments in diese Bild-Situationen. Diese Verdrehung ist der entscheidende Gewaltakt: Sie setzt uns dem Adrenalinkick aus und zugleich der problematisierenden Darlegung der Kulturtechnik, die ihn produziert: Faszinosum der Bombe als existenzielle Offenbarung; Lebensnähe der SQUID-Brainfuck-Videos in Strange Days; Rausch-Biotop der Surfer in Point Break; Zauber von Uniform, Waffe und Gewaltmonopol der Polizistin in Blue Steel – all das Techniken der Inszenierung von Empfindungsintensität. Nun würde ein flotter Allegorismus bzw. Dionysmus sagen: Das ist Bigelows Kino auch – und ist nicht Kino insgesamt wie die SQUID-Technolgie, die Erlebnisse überträgt? Allein, mit dieser Sicht wären wir bei James Cameron: Die Filme von Bigelows Ex versenken uns in Adrenalinrausch-Maschinerien, ohne jedes Verdrehungsmoment, bieten stattdessen postdisziplinarische Uniform-Phobie, durch die sich die Immersion noch ins Ozeanisch-Völkische steigert.
Mit der Sicht, Kino sei wie SQUID, Dispositiv der Selbstüberschreitung von Repräsentation in Richtung Leben, wären wir auch bei zwei Diskurstypen, die heute in der Filmtheorie anklingen. Die einen sagen, Kino ist Direktzugriff auf Sensorien und affektive Intensitäten, Formung sozialen Lebens, der gegenüber Repräsentation so „parasitär“ ist wie das Kapital zur Arbeit. Deleuzo-Marxisten der Multituden- und Strömungslehre, Shaviro, Beller, Lazzarato und andere Postoperaisten, sehen das Lebens-Wert-Bildende an der Medialisierung positiv, geschult an Deleuzianischen Konzepten wie „Kriegsmaschine“ oder der Kunst als primärproduktionsprozesshafter „Schrift aus Blut und Leben“, entgegen dem Gericht, der Organisation und Repräsentation; Deleuze bringt auch den Gegensatz Kampf als Gerechtigkeit vs. Krieg als Gericht in Stellung.
Die anderen sagen: Wie SQUID-Videos in Strange Days ist auch Kino Trauma, Vergewaltigung, Verwundung, etwas, das unsere Ohnmacht entblößt. Das ist die Position Agambens: Kino sei „Geste“, Bildwerdung einer nichtintentionalen Bewegung, Mitteilung einer Medialität „reiner Mittel“ ohne Zweck, die uns im Sprechen stottern macht und untätig im Akt. Auch Agamben orientiert sich da an Deleuze. Noch mehr Übereinkunft jedoch fänden beide Diskurse, der intensitätsvitalistische und der ohnmachtsdemütige, auf Basis von Benjamins „Kritik der Gewalt“: geschichtsmessianische Rechtstheorie – zugleich Vorspiel zur Medientheorie vom Filmbild-Projektil – als Anrufung göttlicher Gewalt, die waltet, ohne zur mythisch-polizeilichen Rechtserhaltung zu gerinnen, reines Mittel bzw. Selbstzweck, im revolutionären Streik oder „reinen Krieg“. Was immer das ist, es führt uns zu Clausewitz (nicht hier!) oder zu Sylvère Lotringer, bei dem Bigelow auch studiert hat.
Multitudinale Biomacht-Zelebrierung oder Geste des Unangeeigneten, das uns demütigt: Zwischen diesen Wahrheitspoetiken der Kräfte und des Lebens (selbstverwertend oder nackt) fällt die Wahl für ein Drittes vielleicht leicht. Wenn schon Gewalt, dann nicht reine, sondern als Verdrehung und Durchkreuzung, Sich-Absetzen von Fundierungen, das aber Position bezieht, im stratifizierten Terrain eines Filmgenres, einer Ordnung der Wahrnehmung oder Institutionenpolitik. Ja, eh, Rancière, da kommt das her; Juliane Rebentischs Kritik von Benjamins  Gewalt-Reinheitsphantasma geht in ähnliche Richtung: Statt Gründung aufs Nichtrepräsentierende geht es um Kontingenz gegebener Ordnungen, die sich durch kleine Umgestaltungen aktualisieren lässt. Oder wir nehmen Deleuzes Begriff des Affekt(bild)s einmal nicht repräsentationsphobisch-sensualistisch, sondern konturieren ihn über Deleuzes Ereignis-Logik des Sinns: als Kausalitätsverdrehung, etwas, das noch fleischlos insistiert, wenn alle Gründe dargelegt sind. Wir kommen damit Bigelows immersiver Analytik und DekonstrAction näher, auch den Verdrehungen von Genre-Fundierungen und Wahrnehmungsregimes in zwei weniger bekannten Arbeiten: der Gewalt reinen Missvergnügens im Anti-Actionfilm K-19: The Widowmaker und der Gewalt reinen Spaßes im New Order-Clip Touched By the Hand of God. Göttliche Gewalt, eh klar.



Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst (Wien), Sommer 2010, „Gewaltverhältnisse“.