Imaginationen und Wirklichkeiten

Die derzeitige Propaganda der Herrschenden zur Volksaufklärung arbeitet immer wieder mit Nach-Interpretationen, die nicht nur die Wirklichkeiten, sondern auch die früheren Debatten und Kontexte ausklammern und den Eindruck erwecken, als würden sie alles neu erfinden. So kommt die Lüge oder Halbwahrheit frisch und munter daher, als sei sie gerade neu geboren, sozusagen „unbefleckt".

Ein Beispiel ist die Atomwaffe. Die Zerglühten von Hiroshima und Nagasaki müssen im Moment ihres Todes sehr glücklich gewesen sein: Sie sind durch eine demokratische Bombe gestorben. So jedenfalls die Sicht von Leuten, die nicht nur den Kalten Krieg im Nachgang beschönigen, sondern auch noch mit heutigen militärischen Planungen zu tun haben. Michael Rühle, in der Verwendung als stellvertretender Leiter der Politischen Planung beim NATO-Generalsekretär, schrieb dazu, die Debatte um die atomaren Rüstungen in der Schlußphase des Ost-West-Konflikts schien „keine Unterschiede mehr zwischen Demokratie und Diktatur zu kennen... Nirgendwo ist diese Verarmung des Denkens deutlicher geworden als in der Bundesrepublik der 1980er Jahre. Die 300 000 Anhänger der Friedensbewegung, die sich 1981 auf der Bonner Hofgartenwiese versammelten, um gegen den ‚Rüstungswahnsinn‘ zu protestieren, waren für eine Grundsatzdiskussion um Freiheit und Unfreiheit nicht empfänglich. Angesichts des ihrer Überzeugung nach unmittelbar bevorstehenden Dritten Weltkriegs war kein Platz für Debatten über die politischen Wurzeln des Ost-West-Konflikts. Der Einwand, die Nuklearwaffen der offenen Gesellschaften des Westens seien qualitativ anders zu bewerten als die einer totalitären, nicht transparenten Sowjetunion ohne nennenswerte Zivilgesellschaft, verfing nicht. ‚Rüstung tötet‘ lautete denn auch lapidar das Credo der Friedensbewegung." (Michael Rühle: Gute und schlechte Atombomben. Berlin muß die nukleare Realität mitgestalten, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2009.)

Alle damals mit gutem Grund diskutierten Prämissen der Friedenssicherung werden so vom Tisch gewischt. Es ging um gemeinsames Überleben, die Verhinderung des Nuklearkrieges, der mit der Stationierung US-amerikanischer und sowjetischer Mittelstreckenraketen in der Mitte Europas näher gerückt war. Für den damals jungen Mann, der in just jenem Bonn Politikwissenschaft studierte, muß die genannte Demonstration ein bleibendes Trauma sein; die Friedensbewegung ist sein Feindbild, aber der Zweck der Argumentation ist ein anderer: Deutschland soll ebenfalls - über die „nukleare Teilhabe" im Rahmen der NATO - einen Finger am atomaren Drücker haben. Und für die strategische Schwarz-Weiß-Perspektive, die für derlei Tun stets intellektuelle Voraussetzung ist, sind die damals entwickelten Schemata weiter hilfreich und in Rühles Schrifttum nachzulesen: Israel hat die gute, weil demokratische Atombombe (daß es die hat, daran zweifelt auch Rühle nicht), während die imaginierte Bombe Irans zum Casus belli des Westens geschrieben werden soll.

Oberst Klein hat das - im „konventionellen" Bereich - wohl ähnlich gesehen: Lieber glückliche Afghanen im Himmel, infolge des demokratischen Waffeneinsatzes, als unglückliche unter der irdischen Fuchtel der Taliban. Allerdings haben die deutschen Justizbehörden inzwischen die Regeln des Kriegsvölkerrechts in Ansatz gebracht, und der Herr Oberst wird dies nun der Bundesanwaltschaft erklären müssen. Würden dort die Fragen eines Atomwaffenkrieges ebenfalls verhandelt, müßte der Herr Rühle gleich danebensitzen.

Oder nehmen wir ein anderes Beispiel: die Stasi und Brandenburg. Die „Wende" ist zwanzig Jahre her, die deutsche Vereinheitlichung ebenfalls. Plötzlich aber werden an allen Ecken und Enden frühere Stasi-Spitzel gesucht. Liegt das daran, daß die sich im Märkischen Land über die Jahre hinweg klammheimlich vermehrt haben, sozusagen wie Karnickel, oder wurden sie zu einer neuen Gefahr für Leib und Leben und die Demokratie? Gefahr im Verzuge, ist nicht in Sicht. Brandenburg schien jahrelang ruhig, zumindest solange die Sozialdemokraten mit den Christdemokraten regierten und General Schönbohm das Innenressort kommandierte. Plötzlich und unerwartet jedoch beschloß die Märkische Sozialdemokratie, mit den Linken zu koalieren. Da fand Frau Birthler, die seit zehn Jahren der Stasi-Akten-Verwaltung vorsteht, sofort und unverzüglich, gleichwohl sicher nicht politisch gelenkt weil demokratisch und rechtsstaatlich, Stasi-Akten über Brandenburgische Abgeordnete.

Eine große Debatte hob an, auch darüber, daß seit Anfang der 1990er Jahre im Land Brandenburg keine Überprüfungen der Abgeordneten stattgefunden hatten, analog der Praxis in anderen Bundesländern. Eigentlich wäre etwas ganz anderes zu überprüfen, nämlich ob Abgeordnete heutigen Geheimdiensten, Finanzkonzernen, Erdgasleitungsbetreibern oder Hotelbesitzern verpflichtet sind und daher nur bedingt nach ihrem Gewissen entscheiden können. Das wird aber nicht überprüft, statt dessen, ob jemand vor dreißig Jahren sich der DDR-Staatssicherheit erbötig gezeigt hatte, so als würde der Minister Mielke heute noch insgeheim an seinem Schreibtisch sitzen, allerlei Berichte lesen und Heerscharen von Spitzeln kommandieren, die in summa eine Gefährung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung darstellen. Das ist bekanntlich nicht der Fall. (Mein Punkt ist hier nicht, daß sich Leute, die wissen, daß sie sich einst dortselbst verpflichtet hatten, in den öffentlichen Raum gedrängt haben, obwohl sie ebenfalls wissen mußten, daß das ggf. nicht auf Dauer zu verheimlichen ist, weil in Deutschland nicht Versöhnungskommissionen an den Beginn der neuen Verhältnisse gestellt wurden, sondern die Stasi-Akten-Behörde als Inquisitionsorgan. Diese Menschen haben nicht nur den Parteien, für die sie sich aufstellen ließen, geschadet. Mein Punkt ist, wie das in Brandenburg als Thema hochgezogen wurde.)

Bleibt die Frage, weshalb nun all die Hektik in Brandenburg, mit neuen Überprüfungen, Behörden, Untersuchungskommissionen? Frau Birthler war von 1990 bis 1992 Bildungsministerin in der ersten Regierung Stolpe. Dann kochten Der Spiegel und andere Medien eine Stasi-Kampagne gegen Manfred Stolpe hoch - man wollte damals keinen Ossi als Ministerpräsidenten im Osten mit eigenständigem Kopf. Der widerstand dem, eine damalige Untersuchungskommission stellte fest, ihm sei nichts entsprechendes vorzuwerfen. Marianne Birthler jedoch hatte sich in jene Kampagne einordnen lassen und war als Ministerin zurückgetreten. Sie hatte noch eine Rechnung offen mit den „Brandenburgischen Verhältnissen", und so paßte das nun gerade zu dem Kalkül der Christdemokraten, den Gang auf die Oppositionsbank mit lauten Geschrei zu verbinden. Und es schreit sich besser über Stasi als über Krisenfolgen und Arbeitslosigkeit.

Eine andere Form der unbefleckten Halbwahrheit wurde kürzlich unter die Leute gebracht. Das Deutschland-Archiv veröffentlichte eine Rede, die der frühere Bürgerrechtler Werner Schulz am 9. Oktober 2009 auf einem Festakt in Leipzig aus Anlaß des 20. Jahrestages der dortigen Montagsdemonstration gehalten hatte. Die Überschrift lautet: „Was lange gärt, wird Mut." Schulz sagt in der Rede dazu, die damalige Demonstration habe einen langen Vorlauf gehabt. „Mit dem Sprachwitz von damals würde der Volksmund heute sagen: Was lange gärt wird Mut." Nun weiß ich nicht, warum der Volksmund heute etwas mit dem Sprachwitz von damals sagen sollte, und wer den Volksmund ernennt.

Richtig ist vielmehr, es gibt einen Aphorismus von André Brie, der in einem seiner Aphorismenbändchen nachzulesen ist (Eulenspiegel Verlag, 1982), der da lautet: „Was lange gärt, wird Wut." Und die Brie'schen Aphorismen hatten in der späten DDR eine sehr weite Verbreitung. So kam der Satz auch in Schulzens Erinnerung. Nun wäre es eine interessante Debatte, wie aus der Wut, die der sozialistische Kritiker Brie gegenüber der realexistierenden DDR formuliert hatte, der Mut des Oppositionellen Schulz wurde. Da würde nämlich zutage treten, daß der Mut der einen die Wut der anderen zur Voraussetzung hatte. Da man aber in den Feierstunden für die deutsche Einheit die Rolle der Reformer, die aus der SED kamen, wortreich beschweigt, werden nun selbst die Aphorismen vergewaltigt. Ein anderer Spruch von André Brie (der gerade eben sechzig wurde) damals lautete: „Keine Sache ist so groß, als daß sie nicht der Kleinlichkeit zum Opfer fallen könnte."