Endlich die Wende? –Geisterwahlkampf

Von allen 22 Bundestagswahlen seit 1949 ist diejenige von 2009 wohl die merkwürdigste gewesen. Dies werden jedenfalls die Älteren finden, welchen ein solch langer persönlicher Rückblick möglich ist. Es kann aber auch sein, dass jetzt etwas Neues begonnen hat, das von nun an zur Normalität werden könnte: ein Wahlkampf fast ohne kontroverse Inhalte, kaum mit aktiver Beteiligung der Parteimitglieder, gleichsam über den Köpfen des Volkes. Dort, in diesen Höhen, waren Public-Relations-Agenturen penetranter als je zuvor am Werk. Gewiss: das gab es auch früher schon. Willy Brandts erster Wahlkampf 1961 galt als „amerikanisiert“. Aber die Glätte der Formen wurde dann doch – besonders deutlich 1972, als es um Ostpolitik und (angebliche) innere Reformen ging – durch Kontroversen aufgesprengt. Jetzt blieben diese schon deshalb weitgehend versteckt, weil die Partner der Großen Koalition für den Fall vorsorgen mussten, dass sie doch etwa zusammenzubleiben hatten. Das Fernseh-Duell zwischen Merkel und Steinmeier wurde im Wesentlichen von vier sich drängelnden Moderator(inn)en bestritten. Über die Politik dominieren die Medien.

Die aber gehören doch irgendwem. Bei den Privatsendern ist es klar: sie sind kapitalistische Unternehmen. Gleiches gilt für die Papierpresse. Auf die öffentlich-rechtlichen Medien erfolgt der Zugriff von Kapitalmacht indirekt, aber er wirkt. Alle sind sie zur Zeit herabgestuft durch die neuen Informationstechnologien, mit denen das große Geld diffuser, aber noch weniger kontrolliert als sonst seine Botschaften ins Volk bringt, und sei es nur als unpolitisch erscheinende Lifestyle-Botschaft. Umfragen und die Strategiebildung durch Think Tanks – allen voran die Bertelsmann-Stiftung – haben über Jahre hin eine Meinungslandschaft entstehen lassen, in der ein Wahlergebnis zuletzt nur als topographischer Punkt innerhalb ohnehin unverrückbarer Arrangements erscheint. In welcher Kombination es dann erscheint: Rotgrün, Große Koalition, Jamaika, Schwarzgelb, ist dann eher gleichgültig. In den drei erstgenannten Varianten müssen die Resultate des Urnengangs anschließend noch etwas bearbeitet werden (und zwar wieder durch die kapitalistischen Meinungsmaschinen), im aktuellen Fall scheint das aber gar nicht erst nötig: mit Schwarzgelb scheint die einfachste Lösung gefunden. Wirklich?


Wird jetzt durchregiert?

Immerhin handelt es sich um ein schon 27 Jahres altes Projekt, das 1998 in dieser Parteienverbindung erst einmal scheitert, das aber letztlich doch gelingen könnte, nämlich nach der Devise: Gut Ding will Weile haben.

Am Anfang stand – 1982 – das so genannte „Lambsdorff-Papier“, verfasst vom damaligen FDP-Wirtschaftsminister. Er verlangte Senkung von Steuern, Abgaben und Sozialleistungen, Schwächung des Kündigungsschutzes, kurz: Deregulierung. Kohl hielt sich in seinen Ankündigungen mehr an die geistig-moralische Wende. Vielleicht war es nicht dasselbe, aber es war auch nicht das Gegenteil.

Man soll nicht behaupten, es sei danach nichts geschehen. 1984 kam der gesetzlich abgesicherte Durchbruch für die Privatisierung der audiovisuellen Medien. Durch eine Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes ist 1986 die Streikfähigkeit der Gewerkschaften eingeschränkt worden. Die Marktliberalen waren mit Kohls Vorsicht und Langsamkeit meist unzufrieden, andererseits benötigten sie ihn nicht sehr: das Ende des Währungsregimes von Bretton Woods 1973, der „Big Bang“ an der Londoner Börse 1986 (freie Bahn den Brokern) und die nachfolgende Entfesselung der internationalen Finanzmärkte – das waren Rahmenbedingungen, unter denen es sich gut wirtschaften ließ. Es reichte aus, wenn die Politik dabei nicht störte. Das war die andere Seite des viel gescholtenen Aussitzens bei Kohl. Auch die Mauer war ja ohne sein Zutun umgefallen, aber er hat doch mitgeholfen, dass die Sache schnell auf den ökonomischen Punkt gebracht wurde: die Privatisierungen, die im Osten begannen, erreichten mit einigen Jahren Verspätung auch den Westen.

Die von der rechten Mitte angekündigte, von der linken Mitte befürchtete Wende von 1982/83 hat also tatsächlich stattgefunden, nur dass es eher ein Beidrehen war. Erst mit Schröders Agenda 2010 wurde ein Ruck daraus: Verkürzung der Bezugszeit für reguläres Arbeitslosengeld, Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, beides kombiniert in Hartz IV, Praxisgebühr. Durch die Tür, die so aufgestemmt worden war, brauchten Merkel und die Große Koalition nur noch hindurchzugehen. Die Verlängerung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) war unter Rot-Grün angebahnt worden, Schwarz-Rot hat ein Gesetz daraus gemacht. Auch die Große Koalition brachte etwas auf den Weg, was erst in Zukunft wirken wird: die Schuldenbremse im Grundgesetz.

Wir sehen: Kontinuität. Aber durch sie erst wird gewährleistet, dass eine Grundrichtung, die vor mehr als drei Jahrzehnten eingeschlagen wurde, beibehalten werden kann.

Damit das nicht zum Trott wird, sind zwischendurch Beschleunigungen nötig. Schröder hat Gas gegeben, jetzt – so dröhnt Westerwelle seit Jahren – sei so etwas wieder fällig. Wird so heiß gegessen wie er kocht?

Schwierig wird es in der Finanzpolitik werden. Die FDP will, dass der Staat möglichst kein Geld (Steuern) einnimmt und keines ausgibt (Abbau von Transferleistungen), Schulden soll er auch keine machen dürfen. Rätselhaft bleibt, wie er den Verpflichtungen, die er bei der Rettung von Banken, mit Bürgschaften und durch seine Konjunkturpakete eingegangen ist, nachkommen will. Er hat seit 2008 hohe Kredite aufgenommen und wird sie zurückzahlen müssen. Wovon? Eine mögliche Antwort: Blut, Schweiß & Tränen – Einsparungen bei den Sozialleistungen und bei der Infrastruktur, runter mit den Einkommens- und Unternehmens-, rauf mit der Mehrwertsteuer. Letzteres wäre der Bruch eines Wahlversprechens, das aber nur Westerwelle so richtig laut gegeben hat, von CDU-Ministerpräsidenten hat man schon rechtzeitig das Gegenteil gehört: Eine solche Belastung des Massenverbrauchs werde sich über kurz oder lang wohl nicht umgehen lassen. Und die Kanzlerin hat ebenfalls gebremst: so schnell, wie Guido Westerwelle sich das denke, könnten die Senkungen der Einkommens- und Unternehmenssteuern doch nicht kommen.

Eine schnelle Symbolhandlung in der Steuerpolitik muss allerdings wohl her, sonst droht Merkel ein Winter des Missvergnügens wie Schröder 1998/99 und 2002/2003, als ihm die Instrumente gezeigt wurden, bevor er Lafontaine los wurde (1999) und die Agenda 2010 verkündete (2003). Andererseits sind die Wahlen in Nordrhein-Westfalen zu bedenken. Der Union muss ihr Arbeiterführer Rüttgers erhalten bleiben. Der Kompromiss – das fällige Symbol – könnte eine Entlastung für so genannte Leistungsträger aus der Mittelschicht sein. Auch das muss bezahlt werden. Zum Glück greifen die Bestimmungen der grundgesetzlich verordneten Schuldenbremse nicht sofort. Voll in Kraft treten sie erst nach dem Ende der nun beginnenden Legislaturperiode.

A propos Arbeiterführer: Falls Westerwelle weiter am Kündigungsschutz rütteln will, wird Merkel wohl so moderieren, dass daraus nichts wird. Sie hat noch am Abend des 27. September betont, wie sehr sie den Vorsitzenden der IG Metall, Berthold Huber, schätzt, und damit ein Kompliment zurückgegeben, das er ihr im Wahlkampf machte. Dass der DGB diesmal keine Empfehlung für die SPD abgegeben hatte, war wohl nicht in erster Linie ein Zugeständnis an die Anhänger der Partei „Die Linke“ in seinen Reihen, sondern der Vorgriff auf eine nahe Zukunft, in der er auf eine CDU-Kanzlerin setzen will gegen einen Vizekanzler, der einst die angebliche Gewerkschaftsmacht zerschlagen wollte.

Das alles ist nicht nur Taktik. Gerade politisch siegreiches Kapital agiert nicht immer völlig einheitlich, es kann sich innere Differenzierungen leisten. In diesem Fall könnte es zu Konflikten zwischen den in der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft versammelten Interessen der Metall- und Elektroindustrie einerseits, den Zockern von der Finanzdienstleistungsbranche andererseits kommen, politisch repräsentiert in der ersten Variante von CDU/CSU, in der zweiten von der FDP.

Die Liberalen haben nicht nur Steuersenkungen versprochen, sondern auch Bildungsförderung. Als Politik, die in die Breite wirkt und viel kostet, ist diese Ländersache. Der Bund wird – wie bereits jetzt schon – nur punktuell intervenieren können. Das liefe auf Spitzen- und Elitenforcierung hinaus, flankiert durch eine Familienpolitik, wie sie Ursula von der Leyen bereits einleitete. Derlei ist liberal und per saldo am besten für das Konstrukt eines leistungsbereiten und entlastungsbedürftigen Mittelstandes.

Auf einem Gebiet wird man um einen lange angekündigten Ruck nicht herumkommen: der Gesundheitsfonds, in der Großen Koalition weder von der SPD noch von der Union wirklich gewollt, soll formal beibehalten bleiben, wird inhaltlich aber wohl in Richtung Kopfpauschale gedreht werden. Hier könnte es wirklich harte sozialpolitische Auseinandersetzungen geben.

Ähnlich viel Konfliktpotential enthält das Problem der Atomenergie. Die Grünen und der Oppositionspolitiker Gabriel werden Sturm dagegen laufen, dass Schwarz-Gelb die Möglichkeiten nutzt, die schon im so genannten Ausstiegskompromiss von Rotgrün angelegt waren: kein Neubau, aber Verlängerung der Laufzeiten von Reaktoren.

Es bleibt nicht alles beim Alten, aber das Wichtigste vom Alten steht felsenfest: Hartz IV, die Rente mit 67. Der Wahlsieg von Merkel und Westerwelle hat dafür gesorgt, dass diese marktliberalen Errungenschaften vor rot-rot-grüner Bedrohung sicher sind und nun verschärft werden können.

Modifikationen sind zumindest auf längere Sicht in der Afghanistan-Politik zu erwarten. In der Schlussphase des Wahlkampfs wurden Exit-Optionen diskutiert: irgendwann zwischen 2013 und 2015. Die schwarz-Gelbe Regierung wird zwar versuchen, hier innerhalb des von den USA geführten Konvois zu bleiben, dort aber – wohl unter dem Druck einer Opposition der Partei „Die Linke“ und der Grünen, zu welcher irgendwann auch die SPD aufschließen wird, sowie der Umfragen-Meinungen – nach Gelegenheiten des Ausscherens suchen, wie sie andere NATO-Länder schon ergriffen haben.

Wirtschafts- und sozialpolitisch wird die Politik von Schwarz-Gelb sowohl in der Fortsetzung als auch in der Anpassung jener Kapitalstrategie bestehen, die man nebelhaft „Neoliberalismus“ zu nennen sich angewöhnt hat, für die aber Jörg Huffschmid 2009 in der „Zeitschrift Marxistische Erneuerung“ eine präzisere Bezeichnung fand: Finanzmonopolistischer Kapitalismus (FMK), der auf den Staatsmonopolistischen Kapitalismus (SMK) folgte. Die politisch-ökonomischen Subjekte sind die großen Finanzinvestoren (Banken, Versicherungen, Fonds). Sie bedienen sich dreier Mittel: 1. Wilde Spekulation, 2. Druck auf die Unternehmen (Entlassungen, Lohnsenkung), 3. Druck auf den Staat, der seiner bisherigen investiven Funktionen entkleidet werden, auf Einnahmen weitgehend verzichten und Sozialausgaben möglichst unterlassen soll. Durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 – 2009 ist der erste Weg diskreditiert und wird in seiner bisherigen Art wohl nicht mehr beschritten werden. Marktliberalismus bedeutet immer auch „Herrschaft des Gesetzes“: verlässliche Regeln für die Profitmaximierung. Die gab es an den internationalen Finanzmärkten über drei Jahrzehnte lang immer weniger. Im Interesse der Investoren wird jetzt so viel und so wenig reguliert werden, wie es nötig ist, dass diese vor ruinöser Konkurrenz sicherer sind als bisher. Wenn die Rendite dadurch in der Spekulation etwas sinkt, wird man versuchen, dies zu kompensieren, indem – so Huffschmid – der Druck auf Unternehmen und Staat zunimmt.

Durch das Konjunkturpaket II sind Investitionen in regenerierbare Energien und Wärmedämmung getätigt worden. Dies ist Teil eines „New Green“ Deal, der insbesondere von Obama propagiert wurde. Der Raubbau an Ressourcen und die Belastung von Senken (Boden, Wasser, Luft) sowie ein prognostizierter Klimawandel greifen die Reproduktionsbedingen insbesondere des konstanten Kapitals an und zwingen zu kostspieligen Umbau-Maßnahmen, in denen es zur Konkurrenz zwischen den Aufwendungen für diese Korrekturen und der sozialen Frage kommen könnte. Auch eine schwarz-gelbe Koalition könnte zu einer Verfechterin des „New Green“ Deal werden. Angela Merkel ließ sich bereits in der vergangenen Legislaturperiode als „Klima-Kanzlerin“ stilisieren. Die genuinen Verfechter(innen) dieses Konzepts aber finden sich im Bündnis ‘90/Die Grünen, das inzwischen in einigen Kommunen (darunter Frankfurt/Main) und im Bundesland Hamburg Koalitionen mit der CDU eingegangen ist. Einige Strategen dieser Partei sehen deren politische Ankunft wohl erst dann als endgültig gelungen an, wenn dies auch einmal auf Bundesebene geschafft ist. Nach den bisherigen Wandlungen der „Grünen“ zeigt sich somit, dass der bürgerliche Sektor über Schwarz-Gelb hinausreicht. Hinzu kommen die erstaunlichen zwei Prozent Wählerstimmen, die die Piratenpartei aus dem Stand erreicht. Ähnlich begannen 1980 die Grünen in der ersten Bundestagswahl, an der sie teilnahmen. Ob die Piratenpartei tatsächlich eine Art elektronischer FDP werden wird, muss sich noch zeigen. Kommt es so, dann wäre das Hinterland von Schwarz-Gelb auch um sie erweitert.


Spaltung und Schrumpfung

der deutschen Sozialdemokratie

Die Spaltung der deutschen Sozialdemokratie in zwei Parteien setzt sich fort. Ihre innere Tendenz weist nicht nach links:

In der SPD haben Andrea Nahles und Ottmar Schreiner ihre Direktmandate verloren, außerdem auch andere, weniger bekannte Vertreter ihrer Richtung, z. B. der ehemalige Giessener Landrat Rüdiger Veit, ein früher Kritiker Gerhard Schröders. Netzwerker und Mitglieder des „Seeheimer Kreises“ dagegen konnten sich behaupten. Bei den Nominierungen für die neue Spitze auf einer Vorstandstagung schnitten die Linken schlecht ab. Auch Wowereit erhielt einen Dämpfer. Es kann sein, dass die personelle Substanz für die angestrebte Öffnung hin zur Linkspartei schon zu schwach geworden ist und allenfalls nur mühsam hergestellt werden kann.

Die Mehrzahl der inzwischen 16 Direktmandate für „Die Linke“ ging an Vertreter(innen) eines so genannten „pragmatischen“ Kurses. Das „Forum demokratischer Sozialismus“ ist der Gewinner der neueren Entwicklung.

Noch wichtiger als all dies ist, dass das in zwei Parteien gespaltene sozialdemokratische Potential dramatisch geschrumpft ist: SPD und „Die Linke“, die 2005 addiert 42,9 Prozent der Stimmen erhalten hatten, erreichten 2009 lediglich 34,9. Das sind gerade mal 0,7 mehr, als 2005 allein auf Schröders Partei entfallen waren.


Die Berlusconisierung

der Bundesrepublik

Von der Renaissance über den Faschismus bis hin zum Eurokommunismus: immer wieder einmal ging von Italien Neues aus. Jetzt ist es eine Transformation des Parteiensystems. Seit 2008 gibt es in diesem Land keine in der Abgeordnetenkammer vertretene Sozialdemokratie mehr. Jahrzehntelang hatte de facto die Kommunistische Partei deren Funktionen wahrgenommen. Ihre Nachfolge-Organisation lehnt sich schon im Namen an Obamas Demokratische Partei an: Partito Democratico. Auch rechts daneben gibt es keine richtige Partei mehr: wo einst die Democrazia Cristiana war, ist jetzt ein Medien-Milliardär, dem eine Massenbewegung folgt. Das Kapital scheint nicht mehr auf die alte professionelle politische Klasse angewiesen zu sein, es herrscht durch einen seiner Vertreter unmittelbar. In den USA ist die Verhüllung der Einflussnahme ökonomischer Macht auf Legislative und Exekutive immer schon sehr dünn gewesen. Barack Obama hat mehr Unternehmerspenden aufgeboten als Hillary Clinton und John McCain. (Zwar machte er zusätzlich Reklame damit, dass er auch Zuwendungen von Kleinen Leuten erhalten hat. Inzwischen wurde bekannt, dass er nicht mehr Kleinspenden erhielt als einst George W. Bush: dieser bekam sie von der religiös gebundenen weißen unteren Mittelschicht insbesondere ländlicher Gebiete, Obama mehr von Farbigen und Intellektuellen in den Städten.)

Der Geisterwahlkampf in der 2009 weist darauf hin, dass diese Zukunft noch direkterer Kapitalherrschaft jetzt wohl auch die Bundesrepublik erreichen wird.