Europäische Zeitenwenden

Im Jahr 2009 begeht Europa eine außergewöhnlich große Zahl an Gedenktagen: Vor 70 Jahren begann der Zweite Weltkrieg, vor 20 Jahren fiel die Berliner Mauer, was den Zusammenbruch der UdSSR und des Ostblocks, die deutsche Einheit und schließlich das Ende des Kalten Krieges einläutete.

Zieht man den geschichtlichen Rahmen in seiner Logik von Ursache und Wirkung noch weiter, so wird ein Bogen zwischen dem Versailler Friedensvertrag 1919 und dem Zweiplus-Vier-Vertrag von 1990 sichtbar - das kurze, aber sehr turbulente, sehr blutige 20. Jahrhundert. Aus dieser Epoche ragt das Jahr 1939 hervor. Es war der Beginn des Zweiten Weltkrieges. Dieses tragische Kapitel in der deutschen und europäischen Geschichte stürzte den Kontinent in Blut und Tränen und veränderte ihn für immer. Dessen politische, wirtschaftliche, soziale und menschliche Folgen sind bis heute spürbar: in den Konfliktlinien zwischen den europäischen Staaten, im außenpolitischen Denken der nationalstaatlichen Eliten, im Gedächtnis der betroffenen Völker und in den Gedanken vieler Leidtragender. Dies zeigt sich besonders stark in der anhaltenden öffentlichen Debatte über diesen Krieg und dessen Folgen in der europäischen Staatenwelt sowie in den Diskussionen der Historiker. Auf einer gemeinsamen Gedenkveranstaltung am 1. September 2009 erinnerten die Gegner von einst an die Millionen Opfer dieses Krieges. Dies geschah auf der Westerplatte in Danzig, dem Ort, an dem vor 70 Jahren der Zweite Weltkrieg begonnen hatte. Um 4.45 Uhr schlugen damals die ersten Geschosse des deutschen Kriegsschiffes „Schleswig-Holstein" in dem zur Festung ausgebauten polnischen Munitionsdepot auf der Westerplatte ein. Sieben Tage hielten die Verteidiger den Angriffen stand. In Polen werden die Männer bis heute als Helden verehrt. Die Reden des polnischen Präsidenten Lech Kaczyński, des polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und des russischen Ministerpräsidenten Wladimir Putin auf dieser Gedenkveranstaltung haben - jede auf ihre Weise - nochmals verdeutlicht, dass nach wie vor sehr differenzierte nationale Sichtweisen auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges, auf dessen Ursachen und Folgen bestehen. Das viel beschworene „europäische Gedenken" lässt auf sich warten, möglicherweise ist es dafür noch viel zu früh. Viele Wunden des Krieges sind bei den Betroffenen nur schwer verheilt. Die Versuchung, geschichtliche Ereignisse aus dieser Zeit zum eigenen Vorteil auszuschlachten, ist leider bei Politikern in einigen Ländern in letzter Zeit wieder größer geworden.

Im Schwerpunkt dieses Heftes mit der Überschrift 39 - 89 - 09 analysieren polnische, russische und deutsche Autoren das Jahr 1939. Es zeigen sich gemeinsame Sichten, aber auch Unterschiede in der Einschätzung der Ereignisse dieses Jahres. Der Autor dieses Beitrages hat sich auch von der fruchtbaren Diskussion einer internationalen Fachtagung zum Thema „Das Jahr 1939: Ursprünge und Beginn des 2. Weltkriegs" am 9. September 2009 in Posen inspirieren lassen, die vom dortigen Westinstitut in Zusammenarbeit mit WeltTrends und der Kommission für internationale Beziehungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau veranstaltet wurde.

Folgende Thesen bilden den Rahmen für diesen Themenschwerpunkt:

1. Geschichte erscheint nachfolgenden Generationen oftmals als zwangsläufiger Ablauf von Ereignissen. Horst Möller zeigt in seinem Beitrag anschaulich, dass auch die Entwicklung zum Zweiten Weltkrieg nicht unabänderlich und zwangsläufig war. Stets - so Möller - „gab es an kritischen Wegscheiden auch Alternativen, stets auch individuelle oder nationale Verantwortlichkeiten". Sich dieser Verantwortung zu stellen und kritisch nach der Rolle des eigenen Landes im tragischen Jahr 1939 zu fragen ist eine sehr hohe Herausforderung für Politiker und Wissenschaftler, insbesondere wenn sie sich öffentlich äußern. Der Beitrag von Stanisław Żerko weist in diese Richtung, das Interview mit Julij Kwizinskij zeigt eher das Gegenteil.

2. Aus deutscher Sicht ergibt sich daraus in erster Linie, das „Bewusstsein der Verantwortung Deutschlands, die am Anfang von allem stand"[1] zu erhalten. Der damalige Bundespräsident

Richard von Weizsäcker sprach in seiner berühmten Rede im Bundestag zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus am 8. Mai 1985 davon, dass „der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ... mit dem deutschen Namen verbunden (bleibt)."[2] Die Tatsache, dass die Initiative zum Krieg von Deutschland ausging, kann nicht relativiert werden. Auf dem Weg ins Unheil war Hitler die treibende Kraft. Er wollte die Herrschaft über Europa mittels eines Krieges erringen. Den Anlass dafür suchte und fand er schließlich in Polen.[3] Am Ende war es völlig gleichgültig, wie Polen auf die deutschen Ultimaten im Sommer 1939 reagierte. Insofern sind die im Beitrag von Stanisław Żerko angesprochenen Diskussionen abwegig, Polen hätte durch ein Entgegenkommen im August 1939 den Kriegsausbruch noch verhindern können. Nach wie vor finden sich in Deutschland, aber auch anderswo Historiker und Publizisten, die Hitlers damalige Schutzbehauptung, Deutschland sei einem polnischen Angriff präventiv zuvorgekommen, „wissenschaftlich" belegen wollen.[4]

3. Das sicherlich kontroverseste Thema ist die Bedeutung des geheimen Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939. Für Rolf Möller war dieses „die letzte, aber entscheidende Stufe zum Zweiten Weltkrieg. Es besteht kein Zweifel, dass Hitler diesen Krieg entfesselt hat, ebenso wenig zweifelhaft ist aber, dass er in Stalin einen entscheidenden, ja unentbehrlichen Helfer hatte ..." Julij Kwizinski widerspricht dem entschieden. „Der Pakt kam zur rechten Zeit, war nötig, unter jenen Bedingungen durchaus legitim und vom Standpunkt der politischen Strategie sehr realistisch... (Er) war ... ein Meisterstück Stalins, wodurch die Sowjetunion viele für sie vorteilhafte Ziele erreichen konnte." Kwizinskij vertritt hier als Politiker (naturgemäß) die offizielle Linie des Kremls in dieser Frage. Auf der Konferenz in Poznań hat sich gezeigt, dass in der russischen Geschichtswissenschaft auch ganz andere Positionen vertreten werden. Andrzej Sakson und Marek Kornat sehen im heutigen Russland eine Abkehr von der kritischen Verurteilung der stalinistischen Vergangenheit, welche die Perestroika mit sich brachte, und eine Rehabilitation der Außenpolitik Stalins, der wieder als „erfolgreicher Führer" einer Großmacht gilt.

4. Polen war unbestritten das erste Opfer des Zweiten Weltkrieges. Dies wird in der öffentlichen Debatte in Deutschland und anderen Ländern nicht genügend gewürdigt. Andrzej Sakson hebt den Vernichtungscharakter des Krieges Deutschlands gegen Polen hervor. In der deutschen Geschichtswissenschaft werden vereinzelt auch andere Positionen vertreten, wie sich auch auf der Konferenz in Poznań zeigte.

5. Alle polnischen Autoren in diesem Heft betonen, dass zwei totalitäre Regime über Polen herfielen. Im Westen werden die traumatischen Erfahrungen nach wie vor unterschätzt, die Polen 1939 erlitten hat, als es von den verbündeten Mächten Großbritannien und Frankreich im Stich gelassen wurde. Für die Polen - so Andrzej Sakson - sind die Jahre 1939 und 1989 deshalb auch Beginn und Ende eines tragischen Zyklus: Aus dem Abgrund der Katastrophe vom September 1939 konnte sich Polen erst 1989 befreien. Die - wie sie Marek Kornat nennt - „Erfahrung der Machtlosigkeit" und „des Verlassenseins" hat sich ins Gedächtnis der polnischen Elite tief eingebrannt. Dies macht ihre bis heute andauernde, mitunter verzweifelt wirkende Suche nach einem stabilen, Sicherheit bietenden Platz Polens in Europa und der Welt nachvollziehbarer. „Nichts über uns ohne uns" lautet daher heute das Leitmotiv polnischer Außenpolitik. Ob sich Polens „ewiges geopolitisches Dilemma" am Beginn des 21. Jahrhundert aufgelöst hat, bleibt offen.

6. Eine zentrale Lehre aus dem Weg in den Zweiten Weltkrieg ist die Wechselwirkung zwischen Demokratie im Innern und Friedenspolitik in der Außenpolitik. Rolf Möller schreibt zutreffend: „Die Instabilität des europäischen Staatensystems korrespondierte mit der Instabilität der europäischen Demokratien der Zwischenkriegszeit." Nacheinander fielen die demokratischen Verfassungsordnungen und wurden durch autoritäre Systeme, Militärdiktaturen oder faschistische Regime ersetzt. Fast alle 1918/19 neugegründeten Demokratien in Europa wurden von innen heraus ausgehöhlt. Eine Ausnahme bildete nur die Tschechoslowakei, die dann 1938/39 durch Hitler zerstört wurde. Die entsprechenden Lehren daraus wurden nach 1945 zuerst im westlichen Teil Europas, nach 1989 auch im östlichen Teil des Kontinents gezogen. Europa braucht im Innern der Nationalstaaten demokratische Verhältnisse und zwischen diesen eine integrative Struktur, um eine erneute Katastrophe, wie die des Zweiten Weltkrieges, zu verhindern. Überall dort, wo dies auf unserem Kontinent noch nicht gelungen ist, lauern weiter die Schatten der Vergangenheit ...

7. Schließlich zeigt sich, dass überzogene Analogien zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der Welt von heute nicht weiterführen. Gerade in diesen Tagen werden vielfach solche schiefen Vergleiche gezogen. Stanisław Żerko betont zu Recht, dass die Zeit, in der wir leben, sich fundamental von der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts unterscheidet. Das internationale Umfeld und die Struktur der zwischenstaatlichen Beziehungen sind heute entscheidend anders. Das Jahr 2009, in dem wir heute leben, ist sicher in seiner Dramatik nicht mit der europäischen Zeitenwende des Jahres 1939 vergleichbar. Angesichts der tiefsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit 1929 stellt es aber dennoch genügend ernsthafte Herausforderungen an alle Entscheidungsträger. Die europäischen Integrationsstrukturen müssen dem 21. Jahrhundert angepasst werden, um Renationalisierungstrends und wachsende Europafeindlichkeit zurückdrängen zu können. Die Bewältigung der Folgen der Wirtschaftskrise in allen europäischen Ländern, vor allem in Mittel- und Osteuropa, ist eine entscheidende Voraussetzung für die Stabilisierung ihrer demokratischen Strukturen. Auch hier sind zunehmende autoritäre Tendenzen nicht zu übersehen.

Die europäische Diskussion über die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg wird weitergehen. Die nächsten Gedenkdaten stehen schon fest: 2011 der 70. Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, 2014 der 100. Jahrestag des Ureignisses des 20. Jahrhunderts, des Ersten Weltkrieges, und 2015 der 70. Jahrestag des Kriegsendes. Wie wird Europa diese begehen?


[1] So Bundeskanzlerin Merkel in ihrer Rede auf der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs in Danzig am 01.09.2009, http://www.bundeskanzlerin.de/Content/DE/Rede/2009/09/2009-09-01-bkin-danzig.html

[2] Ansprache des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/index.html

[3] Bereits am 23. Mai 1939 - lange vor Kriegsausbruch - hatte Hitler vor der deutschen Generalität erklärt:

„Weitere Erfolge können ohne Blutvergießen nicht mehr errungen werden ... Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um die Erweiterung des Lebensraumes im Osten und Sicherstellung der Ernährung ... Es entfällt also die Frage, Polen zu schonen, und bleibt der Entschluss, bei erster passender Gelegenheit Polen anzugreifen ... Hierbei spielen Recht oder Unrecht oder Verträge keine Rolle."

[4] Solche Positionen vertritt z. B. der russische Militärhistoriker Sergej Kowaljow, dessen Analyse der Ursachen des Zweiten Weltkrieges Anfang 2009 auf der Internetseite des russischen Verteidigungsministeriums veröffentlicht worden waren (mittlerweile ist diese wieder aus dem Netz genommen worden). In Deutschland hat zuletzt z. B. der Historiker Stefan Scheil eine solche Position vertreten (vgl. FAZ, 22. Juni 2006).