Endstation Sonderschule

Wieder einmal ist die Bundesrepublik in Bildungsfragen trauriger Spitzenreiter: Fast fünf Prozent aller Schülerinnen und Schüler werden in sogenannten Förderschulen anstatt in allgemeinbildenden Schulen unterrichtet. Zum Vergleich: In Italien lernen so gut wie alle Schüler gemeinsam, ungeachtet etwaiger Behinderungen. Die Sonderschulen wurden dort bereits in den 70er Jahren abgeschafft. Hierzulande jedoch ist es nach wie vor unwahrscheinlich, dass man mit einer Behinderung an einer regulären Schule lernen kann.

Mehr als 480 000 Kindern und Jugendlichen im Schulalter wurde in der Bundesrepublik im Jahr 2006 „sonderpädagogischer Förderbedarf“ attestiert. 1 In den meisten Fällen bedeutet bereits diese Feststellung den Ausschluss aus der Gesellschaft. Die Kinder werden isoliert, beschämt und ins verkümmerte vierte Glied außerhalb des regulären Schulsystems abgeschoben. Denn nur jeder Sechste erhält die zusätzliche Förderung an Regelschulen. Dort besteht auch für sie die realistische Möglichkeit, einen Abschluss zu erwerben, wohnortnah zu lernen, Freundschaften in der Freizeit zu pflegen und vor intellektuelle Herausforderungen gestellt zu werden.

Von den 408 000 Schülerinnen und Schülern an den sogenannten Förderschulen bleiben hingegen mehr als drei Viertel ohne Abschluss und somit ohne Aussicht auf ein selbstorganisiertes und selbstfinanziertes Leben. Nicht einmal ein Prozent erreicht das Abitur. Und hier sind wohlgemerkt auch jene Schülerinnen und Schüler erfasst, die lediglich ein körperliches Handicap haben. Obwohl sie nichtbehinderten Kindern intellektuell in nichts nachstehen, wird ihnen der normale Lehrplan verweigert. Kurz: Auch wenn die Sonderschulen inzwischen „Förderschulen“ heißen, sondern sie nach wie vor aus. 2

Fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler an Sonderschulen fällt unter den Förderbereich „Lernen“ – eine Kategorie, die es in vielen anderen Ländern überhaupt nicht gibt. Mit weitem Abstand folgen geistig Behinderte, Kinder mit Sprachschwierigkeiten, jene, denen Probleme in der „geistigen und sozialen Entwicklung“ bescheinigt wurden sowie körperlich beeinträchtigte.

Ob man das Glück hat, trotz einer Behinderung oder Lernschwäche in einer regulären Schule zu lernen, das hängt vom Bundesland und auch der Kampfbereitschaft der Eltern ab: Denn die Unterschiede zwischen den Bundesländern sind gravierend. Zwischen 3,5 Prozent (Schleswig-Holstein) und 8,65 Prozent (Mecklenburg-Vorpommern) aller Schüler lernen außerhalb der Regelschulen. Und während in Baden-Württemberg viermal mehr Kinder mit körperlichen Beeinträchtigungen als in Brandenburg in Förderschulen lernen (müssen), haben wiederum in Brandenburg lernschwache Kinder ein fast doppelt so hohes Risiko, an eine Förderschule abgewiesen zu werden. In Schleswig-Holstein lernen nur knapp 0,07 Prozent aller Schülerinnen und Schüler wegen Defiziten in ihrer „emotionalen und sozialen Entwicklung“ in Förderschulen, zugleich verweist Thüringen 14 Mal so viele dorthin.

Gefordert: Die inklusive Schule

Mit dieser Unsicherheit sollte jetzt eigentlich Schluss sein. Denn mit der Unterzeichnung der „UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ hat sich die Bundesrepublik unter anderem verpflichtet, das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung anzuerkennen und für ein inklusives Bildungssystem zu sorgen.

Doch schon in der deutschen Übersetzung der Konvention wurde der Versuch unternommen, dieses Ziel abzuschwächen: Statt der im englischen Original geforderten inklusiven Schule, wird in der deutschen Übersetzung lediglich ein integratives Bildungssystem verlangt. 3 Dieser durchsichtige Versuch, die Konvention zu unterlaufen, steht exemplarisch für die deutsche Behindertenpolitik und insbesondere für die diskriminierende Bildungspolitik.

Denn der Teufel steckt wie immer im Detail: Während der Integrations-Ansatz davon ausgeht, dass die betroffenen Kinder sich in das bestehende System integrieren sollen und dann eben rausfallen, sofern das nicht gelingt, fordert die UN-Konvention weit mehr: Die Unterzeichnerstaaten haben sich verpflichtet, nicht die Behinderten als das Problem zu sehen, sondern dafür zu sorgen, dass die Behinderungen, die jenen das Leben schwer machen, abgebaut werden. Und dazu zählt neben hohen Bordsteinkanten oder Websites, die nicht für Sehbehinderte darstellbar sind, sowie fehlenden Gebärdendolmetschern im öffentlichen Fernsehen auch ein Schulsystem, das all jene abweist, die andere als die „normalen“ Anforderungen an die Schule stellen.

Der skandalöse Zustand ist auch in der Bundesregierung keineswegs unbemerkt geblieben. So gesteht sie in ihrem jüngsten Behindertenbericht zwar ein, dass der geringe Prozentsatz der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die an Regelschulen verbleiben, die Frage nach „einer Anpassung der deutschen Bildungssituation an die Vorgaben des Artikels 24 des UN-Übereinkommens“ nahelege. Doch hält sie sich gleich darauf zugute, dass angesichts der in den Länderschulgesetzen vorgesehenen Möglichkeit einer integrativen Beschulung sowie der dafür „in vielen Fällen“ vorgesehenen Präferenz, die Rechtslage nach ihrer Auffassung „den derzeitigen Mindestanforderungen des UN-Übereinkommens“ entspreche. 4

Diskriminierende Praxis

Doch schon das ist eindeutig nicht der Fall. 5 Dies zeigt ein Blick in ebenjene Schulgesetze. Zwar gibt es durchaus Bundesländer, die es mit einem gemeinsamen Unterricht ernst meinen und allmählich den Großteil der betroffenen Schülerinnen und Schüler in den Regelschulen unterrichten: Vorreiter sind hier Bremen, wo Eltern inzwischen einen Rechtsanspruch auf inklusiven Unterricht haben, und Schleswig-Holstein, das binnen zehn Jahren die Quote der gemeinsam unterrichteten Kinder von derzeit 32 auf 85 Prozent erhöhen will. Dagegen dürften Schulgesetze und Praxis etwa von Baden-Württemberg oder Sachsen nicht mit der Konvention vereinbar sein.

In Sachsen werden relativ gesehen doppelt so viele Kinder und Jugendliche in Sonderschulen unterrichtet wie in Schleswig-Holstein. Das sächsische Schulgesetz sieht vor, dass „Schulpflichtige, die über eine längere Zeit einer sonderpädagogischen Förderung […] bedürfen, […] für die Dauer ihrer Beeinträchtigung zum Besuch der für sie geeigneten Förderschule verpflichtet“ sind. Die Eltern der Kinder werden angehört, doch die Entscheidung über den Schulort trifft die zuständige Verwaltung. 6

Wer dauerhaft auf sonderpädagogische Förderung angewiesen ist, und sei es nur aufgrund einer diagnostizierten Lese-Rechtschreib-Schwäche, ist in Sachsen einer viermal höheren Wahrscheinlichkeit als in Bremen ausgesetzt, auf einer „Schule für Lernförderung“ zu landen, die nicht einmal die Möglichkeit eines Hauptschulabschlusses anbietet. Die gleiche Schülerin würde in Bremen innerhalb der Regelschule gefördert und hätte so die Möglichkeit, selbst das Abitur zu erlangen. Würden die Förderschüler in PISA-Erhebungen einbezogen – Sachsen wäre sicher nicht mehr Spitzenreiter.

Auch das baden-württembergische Schulgesetz ist nur schwer mit der UN-Konvention vereinbar, obwohl die zuständigen Behörden das erwartungsgemäß anders bewerten. Das Gesetz sieht vor, dass die „Förderung behinderter Schüler […] auch Aufgabe in den anderen Schularten“ ist. Doch sollen behinderte Schüler nur dann „in allgemeinen Schulen unterrichtet [werden], wenn sie aufgrund der gegebenen Verhältnisse dem jeweiligen gemeinsamen Bildungsgang in diesen Schulen folgen können.“ 7 Mit anderen Worten: Die Kinder müssen sich an die gegebenen Verhältnisse anpassen. Gelingt ihnen das nicht, werden sie aussortiert und an die Förderschulen weitergereicht.

In diesem Jahr sorgte das Bundesland für negative Schlagzeilen, weil es einer erfolgreich arbeitenden inklusiven Schule die Weiterarbeit sogar verweigern wollte: 13 Jahre lang wurden in Emmendingen in einer Waldorfschule geistig behinderte und nichtbehinderte Kinder zusammen unterrichtet. Stets wurde der Schule gute Arbeit bescheinigt, die Nachfrage war groß. Dennoch weigerte sich das zuständige Regierungspräsidium, den Schulversuch zu verlängern oder gar das inklusive Schulkonzept langfristig zu genehmigen. Die Eltern der behinderten Kinder wurden zugleich gedrängt, diese auf Sonderschulen zu schicken, und darüber informiert, dass sie die Schulpflicht verletzen, wenn sie ihre Kinder weiterhin auf dieser ungenehmigten Waldorfschule beließen. An einer Fortführung des inklusiven Unterrichts bestehe kein „besonderes öffentliches Interesse“, ließ die Vertreterin des Landes während der Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht die gegen den Bescheid klagende Schule wissen. 8 Letztendlich entschied das Gericht jedoch zugunsten der Schule. Den neuen Erstklässlern bleibt erspart, was vielen anderen noch immer droht: die soziale und intellektuelle Isolation unter dem Deckmantel der besonderen Förderung.

Isoliert, beschämt und unterfordert

Denn inzwischen ist durch zahlreiche Studien belegt, dass sich Förderschulen nicht – wie der Name nahelegt – förderlich auf die Schüler auswirken. Ganz im Gegenteil. 9 Zwar sollen sie die Schülerinnen und Schüler durch individuelle Hilfen unterstützen und begleiten, „um für diese ein möglichst hohes Maß an schulischer und beruflicher Eingliederung, gesellschaftlicher Teilhabe und selbstständiger Lebensgestaltung zu erlangen.“ 10

Doch Schülerinnen und Schüler erbringen schlechtere Leistungen und erwerben weniger soziale Kompetenzen, je länger sie auf einer Förderschule verbleiben – im Vergleich mit Kindern und Jugendlichen, die an einer Regelschule inklusiven Unterricht genießen können. Und dies gilt gerade auch unter Beachtung von Geschlecht, sozialem Umfeld und Art der Behinderung.

Zusätzlich wirken die Sonderschulen insbesondere mit den Schwerpunkten „Lernen“, „Sprache“ sowie „emotionale und soziale Entwicklung“ zugleich nicht als der „Schonraum“, der sie sein wollen. Statt die Kinder aufzubauen, ihnen ein positives Selbstbild zu vermitteln und sie optimal zu fördern, drückt die Sonderschule ihnen einen – oftmals neben der Armut – weiteren Stempel auf: Viele fühlen sich stigmatisiert und „beschämt“. 11 Und dies nicht ohne Grund: Sie lernen weniger, haben geringere Zukunftschancen und weisen ein erheblich höheres Aggressionspotential auf als vergleichbare Kinder, die an Regelschulen verbleiben konnten.

Das liegt allerdings nicht an einem per se schlechten Unterricht dieser Schulen oder unmotivierten Lehrern. Der Anspruch, diesen Kindern gerecht zu werden, besteht durchaus. Nur stehen dem strukturelle Schwierigkeiten entgegen: Die Förderschulen sind durch eine „reduktive Didaktik“ 12 gekennzeichnet. – Sie versammeln ein bildungsfernes Milieu und senken die inhaltlichen Ansprüche. Es gibt keine Vorbilder, denen man nacheifern könnte. Außerdem gehen sie methodisch zu kleinschrittig vor und haben zudem damit zu kämpfen, dass der Unterricht häufig gestört wird oder die Kinder ihm nicht folgen.

Die Sonderschule erweist sich somit als viertes – und unterstes – Glied des bundesdeutschen dreigliedrigen Schulsystems. Sie versammelt vor allem sozial extrem benachteiligte, arme Kinder und weist zunehmend einen überproportionalen Anteil an Migrantenkindern auf. 13 Anstatt die strukturellen Ursachen der Lernschwierigkeiten dieser benachteiligten Kinder anzugehen, werden sie von oben nach unten durchgereicht. Einmal auf der Förderschule gelandet, ist ein Wechsel nach „oben“ nahezu ausgeschlossen.

Um die wenigen Plätze an Regelschulen ringen derweil vor allem Eltern aus der Mittelschicht. Kinder mit einem schwierigen familiären Hintergrund können hingegen nur selten auf die Durchsetzungsfähigkeit ihrer Eltern bauen – egal, ob sie körperlich behindert sind oder vermeintlich Lernprobleme haben. Aus diesem Grund weist das heutige Förderschulsystem immer mehr Ähnlichkeiten mit der alten Hilfsschule auf: Auf ihr landeten fast ausschließlich Schüler aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Bei angemessener Unterstützung und über die Schule hinausreichenden Hilfsmaßnahmen, die ebenso die Elternhäuser einbeziehen, müssten diese Kinder heute nicht ohne Aussicht in die Zukunft blicken.

Und auch für die nichtbehinderten Kinder ist der gemeinsame Unterricht zum einen eine wichtige Erfahrung im Umgang mit Menschen, die anders sind als die Mehrheit. Zudem profitieren sie auch intellektuell. Denn anstatt den Ausführungen des Lehrers nur zu lauschen und das Gelernte nach der nächsten Klausur wieder zu vergessen, erarbeiten sie sich in gemischten Klassen jeweils unterschiedliche Aufgaben, tragen die Ergebnisse anderen vor und unterstützen Schwächere. Das so angewandte Wissen prägt sich ihnen entsprechend besser ein.

Deshalb bleibt eigentlich nur eines zu tun: Deutschland muss die Förderschulen abschaffen und endlich für eine frühzeitige und vollständige Inklusion aller benachteiligten Kinder und Jugendlichen sorgen.

1 Vgl. Statistische Veröffentlichung der KMK, Sonderpädagogische Förderung in Schulen 1997-2006, Bonn 2008.
2 Vgl. das anschauliche Porträt in: „Spiegel“, 2/2009, S. 26-29.
3 Vgl. Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz abgestimmte Übersetzung, Art. 24 Abs. 1.
4 Vgl. Behindertenbericht der Bundesregierung, S. 37.
5 Auch ungeachtet des Finanzierungsvorbehalts, der – bis auf Bremen – in allen Bundesländern gilt und der die vorgesehene Präferenz für gemeinsamen Unterricht oft Makulatur werden lässt.
6 Vgl. Sächsisches Schulgesetz, § 30, Abs. 1 und 2.
7 Schulgesetz von Baden-Württemberg, §15, Abs. 4.
8 Vgl. „die tageszeitung“, 25.3.2009.
9 Vgl. zusammenfassend Ulf Preuss-Lausitz und Klaus Klemm, Gutachten zum Stand und zu den Perspektiven der sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Stadtgemeinde Bremen, Essen und Berlin 2008, S. 11.
10 KMK-Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen der Bundesrepublik Deutschland, Abschnitt II, Abs. 1.
11 Vgl. Brigitte Schumann, „Ich schäme mich ja so!“ Die Sonderschule für Lernbehinderte als „Schonraumfalle“, Bad Heilbrunn 2007.
12 Hans Wocken, zit. nach Preuss-Lausitz/Klemm, a.a.O., S. 11.
13 Vgl. Johannes Mand, Integration für die Kinder der Mittelschicht und Sonderschulen für die Kinder der Migranten und Arbeitslosen? In: „Zeitschrift für Heilpädagogik“, 3/2006, S. 109-115.
Kommentare und Berichte - Ausgabe 09/2009 - Seite 20 bis 23