Biokapitalistische Werte

Interview mit Kaushik Sunder Rajan


Die biotechnologische Forschung ist untrennbar verbunden mit einer neuen Phase des Kapitalismus. Dies ist die zentrale Aussage des kürzlich auch auf deutsch erschienenen Buchs „Biokapitalismus” des US-amerikanischen Anthropologen Kaushik Sunder Rajan. Der GID sprach mit dem Autor über die Wertschöpfungsstrategien auf dem globalen Pharmamarkt und das symbolische Kapital der Bioethik.



Interview mit Kaushik Sunder Rajan

In Ihrem Buch „Biocapital” führen Sie aus, wie die globale Zirkulation von biologischen Substanzen und Informationen auch durch das symbolische Kapital der Lebenswissenschaften genährt wird. Vor allem die großen Pharmafirmen können sich im öffentlichen Diskurs als „Lebensretter” oder sogar als „Erlöser” präsentieren. Gleichzeitig wird über den „Innovationsstau” der Pharmaindustrie diskutiert und es gab immer wieder Skandale aufgrund der Nebenwirkungen bereits zugelassener Medikamente. Führt dies nicht zu einer Destabilisierung des Biokapitals?

Das hängt davon ab, was man unter Destabilisierung versteht. Es wäre falsch, davon auszugehen, dass solche Vorwürfe keine Auswirkung auf die Pharmabranche haben. Vielmehr hat die Pharmaindustrie derzeit ein Public-Relations-Problem erheblichen Ausmaßes, und zwar sowohl in den USA als auch international. Besonders heikel ist dabei die Debatte um staatliche Preiskontrollen, die derzeit in den USA ein heiß diskutiertes Thema sind. Ich denke, dass die Obama-Administration solche Preiskontrollen einführen wird - und die Industrie weiß, dass das auf sie zukommt.
Aber auch strukturell steckt die Pharmabranche in der Krise. Die leichter zu erntenden Früchte unter den Wirkstoff-Kandidaten sind fast alle schon gepflückt - das ist eine der Gründe für das Innovationsproblem. Der Ansatz, einfach nach natürlich vorkommenden Substanzen zu suchen, die in ein therapeutisches Molekül verwandelt werden können, trägt also nicht mehr. Man muss nach Wegen einer „rationaleren” Medikamentenentwicklung suchen; aber nur weil ein chemisches Molekül unter rationaler Betrachtung therapeutische Qualitäten zu haben scheint, muss das nicht notwendigerweise heißen, dass es in der Anwendung ausreichend sicher und wirksam ist.
Die innovativste Forschung findet meist in den kleineren Biotechfirmen statt. Aber diese haben oft nicht ausreichend Ressourcen, um ein Medikament bis zur Marktzulassung zu bringen. Außerdem sind sie vom spekulativen Markt (meist Risiko-Kapital) abhängig, um investieren zu können. Das führt am Ende dann meist dazu, dass die kleineren Biotechfirmen vielversprechende Moleküle per Lizenz an große Pharmaunternehmen abtreten oder selbst aufgekauft werden.
Wenn man jetzt noch das Szenario der Preiskontrollen dazunimmt, entsteht das Bild einer Industrie, die sich durchaus in einer potentiell instabilen Situation befindet.

Wie reagieren die Pharmafirmen auf diese Situation?

Die größten Pharmaunternehmen versuchen, das durch aggressive Fusionierungen und Aufkäufe kleinerer Firmen zu kompensieren. Pfizer ist ein wahrer Meister darin. Auf diese Weise kann die Pipeline anderer Unternehmen einfach eingegliedert werden. Es gab auch Versuche, die Indikationsbreite von Medikamenten durch Off-Label-Use zu vergrößern, also den Gebrauch der bereits zugelassenen Medikamente auf andere Krankheitsbilder auszuweiten. Auch auf diesem Gebiet ist Pfizer ein Pioneer. Viagra ist das Paradebeispiel für eine solche Strategie. All dies hält am bestehenden Modell der Entwicklung von Blockbuster-Medikamenten fest - ich bin aber der Meinung, dass die Ära der Blockbuster-Medikamente eigentlich vorbei ist. Große Pharmaunternehmen, die sich als große Einheiten, die sie ja sind, nur sehr langsam umorganisieren, mögen das realisieren oder nicht; aber eine solche Einsicht in die alltägliche Unternehmenspraxis umzusetzen ist wesentlich schwieriger.

Woran liegt das?

Es gibt da zwei strukturelle Probleme, die sich in extrem großen und erfolgreichen Industrieunternehmen, wie es die Pharmafirmen sind, manifestieren: eines betrifft die Biologie, das andere den Wert. Das biologische Problem ist Folgendes: Eine großangelegte klinische Studie ist die Testung eines Medikaments an bestenfalls ein paar tausend Menschen. Ein erfolgreiches Medikament kann aber bei einem kleinen Prozentsatz der PatientInnen Nebenwirkungen auslösen, die selbst bei einer groß angelegten Studie nicht erkannt werden und sich erst manifestieren, wenn Hunderttausende dieses Medikament einnehmen. Genau das ist mit Pfizers Medikament Trovan passiert: Bei einem sehr kleinen Prozentsatz der PatientInnen hat das Medikament Nierenversagen ausgelöst. Der Prozentsatz war zu klein, um ihn in einer klinischen Studie zu identifizieren. Aber die Nebenwirkungen waren zu schwerwiegend, um sie zu tolerieren, als das Medikament dann auf dem Markt war und viel mehr Menschen es einnahmen.
Das zweite Problem ist, dass die großen Unternehmen, zumindest in den USA, an der Börse notiert sind und damit institutionell den Aktionären Rede und Antwort stehen. Nach US-amerikanischem Unternehmensrecht ist die Rechenschaftspflicht gegenüber den Aktionären eine treuhänderische Pflicht des Geschäftsführers eines Börsenunternehmens. Aktionäre wollen aber keinen Profit, sie wollen Wachstum. Wachstum ist zwar auch abhängig vom Profit, ist aber nicht nur eine Frage der Profitabilität. Entscheidender ist die Erwartung zukünftiger Profitabilität. Das heißt, es ist durch und durch spekulativ. Diese Erwartung zukünftiger Profite ist natürlich schwerer aufrecht zu erhalten, wenn man in einer Innovationskrise steckt. Aber auch unabhängig davon haben die großen Unternehmen ein strukturelles Problem: Sie sind ja schon ungemein profitabel, das heißt, damit ihr Wert bei den Anteilseignern steigt, müssen sie relativ gesehen ein viel größeres Wachstum projizieren als kleinere Unternehmen. Es ist daher durchaus möglich, dass ein Unternehmen profitabel ist, aber dennoch aus Sicht der Aktionäre einen geringen Unternehmenswert besitzt. Bei den großen Pharmaunternehmen ist dies oft der Fall.

Um noch einmal auf das symbolische Kapital zurückzukommen: In Ihrem Buch diskutieren Sie ja auch die Rolle der Ethik. Dabei kritisieren Sie, dass vor allem der US-amerikanische Bioethik-Mainstream in erster Linie Mehr-Wert für Unternehmen generiert. Außerdem üben Sie Kritik an der Art und Weise, wie in der Bioethik Handlungsanweisungen aus allgemeinen Normen und Prinzipien abgeleitet werden und dabei von den konkreten machtpolitischen Kontexten vor Ort abstrahiert wird. Ihr Vorschlag, Ethik stattdessen im Sinne von Michael Fortun als Qualität einer Begegnung zu definieren, hat mir gefallen.

Fortuns Ethikkritik basiert auf seiner Unterscheidung zwischen dem Moralischen und dem Ethischen. Er beschreibt die Moral als etwas, bei dem es um „eine gute oder eine schlechte Antwort” geht und das Ethische als etwas, das „die Qualität einer Begegnung” betrifft. Zu dieser Leseweise des Ethischen kommt er über Jacques Derrida. Auf einer vereinfachten Ebene verweist dies auf eine Mittel-Zweck-Unterscheidung, also darauf, dass es auch auf die Mittel ankommt, mit denen man zu Entscheidungen kommt, und nicht nur auf endgültige Antworten. Fortun argumentiert, dass Bioethik sich viel zu oft mit moralischen Entscheidungen beschäftigt. Dies war besonders in den späten 1990er Jahren und zu Beginn dieses Jahrtausends der Fall, als eine ganze Menge von Fragen über die Genomforschung und über das Klonen und Stammzellen und so weiter in starken Begriffen von „gut” oder „schlecht”, „richtig” oder „falsch” verhandelt wurde. Damals tauchten sehr rasch die Bioethiker als Expertengruppe auf, ausgestattet mit der Autorität, über solche Fragen Urteile fällen zu können. Dass sich diese Bioethik gut in die Unternehmenswertschöpfung einfügen lässt, ist nur ein Teil des Problems; aber auch abgesehen davon ist die Selbsternennung einer Gruppe von Menschen zu - wie es Donna Haraway in einem Gespräch ausgedrückt hat - „Wert-Klärungs-Spezialisten” problematisch.

Was genau ist problematisch an dieser Form von „Bioethik”?

Ich sage nicht, dass Bioethik schlecht ist. Auf jeden Fall habe ich interessante Bioethiker getroffen - allerdings vor allem außerhalb der USA. Aber ich habe drei grundsätzliche Einwände gegen die Bioethik, jedenfalls so wie sie in den USA betrieben wird, auch abgesehen davon, ob sie im Sinne der Unternehmen funktioniert oder nicht:
Erstens stammt die vorherrschende inellektuelle Genealogie der US-amerikanischen Bioethik aus der analytischen Philosophie. Das bedeutet, dass bestimmte Lösungen durch logische Ableitung aus idealisierten und abstrakten Prinzipien gewonnen werden. Meinen eigenen Neigungen zum Empirischen und Historischen widerspricht das komplett, und ich bin nicht der Einzige, der das so empfindet. Vielmehr ist die Bioethik schon länger ein Gegenstand lebendiger anthropologischer Kritik und es gibt einige exzellente Beiträge in der Sonderausgabe von Daedalus („Beyond Bioethics”), die vor rund einem Jahrzehnt veröffentlicht wurden und das deutlich illustrieren. Aber wir müssen ja gar nicht auf die Geschichte oder die Anthropologie zurückgreifen - auch die kontinentale Philosophie operiert sehr viel stärker vom Standpunkt der verbundenen Kausalität („Conjunctural Standpoint”); viele der philosophischen Debatten in Frankreich und Deutschland beispielsweise reagieren auf bestimmte Ereignisse oder deren Kreuzungspunkte („conjunctures”) - auch wenn sie nicht explizit empirische Debatten sind. Ich finde, diese Wahrnehmung von Kontextualisierung und Responsitivität ist sehr wichtig für jede Form von Zuteilung, die potentiell sowohl progressiv als auch rechenschaftspflichtig ist.
Außerdem stört mich die Art und Weise, wie sich die Bioethik - wiederum besonders auf den Kontext der USA bezogen - selbst als Experten-Diskurs etablieren kann. Das heißt, die Bioethik operiert nicht nur durch die Ableitung und Klärung von abstrakten und idealen Prinzipien. Sie schafft es außerdem, dies mit der Autorität von Expertise zu tun. Wir bewegen uns hier also nicht auf einem neutralen oder ebenen diskursiven Spielfeld. Das Bioethische kann auf eine bestimmte Weise als das Universale, Generalisierbare oder das Normative autreten, während das Historische oder Anthropologische auf „Fallstudien” reduziert werden kann. Aber ihre Normen kommen nicht irgendwoher - sie sind nicht zeitlos, ortsunabhängig oder kontextlos - und wenn sie beginnen, so zu funktionieren, als ob sie das seien, dann ist das problematisch.
Und schließlich ist die Bioethik in bestimmter Weise als Derivat der medizinischen Ethik entstanden - so dass eine Reihe von Fragen zu Themen wie Respekt für das Individuum, Autonomie, Datenschutz, Würde und so weiter, automatisch zur Basis für normative Grundlagen und Überlegungen wurden. Ich sage nicht, dass diese Basis ungeeignet oder wertlos ist - im Gegenteil. Aber ich sage, dass eine bestimmte ethische Infrastruktur, die als Reaktion auf eine bestimmte historische Konstellation entworfen wurde, nämlich auf die Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde durch die Menschenversuche der Nazis, und die später auf ähnlich drastische Verletzungen in anderen Teilen der Welt, wie zum Beispiel die Tuskegee Syphilis Experimente reagierte, vielleicht nicht geeignet ist, um auf andere techno-politische Konstellationen („conjunctures”) zu reagieren, die einige Gemeinsamkeiten mit den alten Konstellationen aufweisen, aber nicht unbedingt aus diesen ableitbar sind.

Sie sagen aber auch, dass globale Regularien unverzichtbar sind. Wie ist dann aber das Problem zu lösen, dass globale Standards und Regulationen notwendigerweise von konkreten Situation abstrahieren und generalisieren müssen?


Das ist eine knifflige Frage, weil es auch eine wichtige ist. Und sie führt direkt zur Natur des Politischen. Mit anderen Worten, es gibt politische Notwendigkeiten, die real und dringlich sind. Zum Beispiel muss über Technologien entschieden werden; und oft muss auf der Basis unzureichender Informationen gehandelt werden, in einer Arena, in der sich die Dinge sehr schnell entwickeln. Wie lässt sich das vereinbaren?
Dies ist die Doppelbindung, in der wir gefangen sind - auf der einen Seite ist jede Form von Urteil problematisch, gewaltsam, und ich würde sogar soweit gehen zu sagen unethisch, selbst wenn sie gleichzeitig moralisch ist.
Jetzt sind wir also an dem Punkt in der Argumentation angekommen, an dem Fortun und ich beide auf universalisierende moralisierende Positionen mittels einer Auseinandersetzung mit Derrida antworten. Warum ist Derrida an dieser Stelle so wichtig? Weil - und das ist der entscheidende Punkt - Derridas Antwort auf das Universale gerade nicht das Besondere oder das Lokale ist - seine Antwort ist keine relativistische. Mein Problem mit einer bestimmten Form anthropologischer Kritik ist, dass sie in Relativismus verfällt und dabei mit einer bestimmten Form impliziter Normativität operiert, die impliziert, dass das Universale automatisch immer hegemonial sei und dass das Partikulare, das Lokale, „das Kulturelle” die angemessene Antwort darauf ist.
Ich denke nicht, dass Relativismus eine ausreichende Basis für eine progressive Politik ist.
Ich denke nicht, dass es ausreicht, jedem zu sagen, er solle seine eigene Ethik machen. Ich denke, es gibt durchaus bestimmte universale Prinzipien, die es durchaus wert sind, dass man sie hochhält und für sie kämpft. Vor allem bestehe ich darauf, dass die Ethik der Aufklärung ohne Vorbehalte ist.
Der Bezug auf Derrida ermöglicht mir also einerseits, das Verhältnis vom Ethischen und Moralischen als ein Verhältnis von Mittel und Zweck zu denken, bei dem das Erstere bevorzugt werden muss. Aber gleichzeitig zwingt es mich zu realisieren, dass das Politische nicht einfach nur im Mittel angesiedelt ist; nicht einfach nur im Partikularen oder dem Kontext. Sondern dass es vielmehr in einer Doppelbindung operiert. Das ist nicht komplizierte oder abstrakte Philosophie - es ist eine Beschreibung der Basis, auf der viele der Akteure, die wir untersuchen - seien es Wissenschaftler oder Politiker oder Geschäftsleute oder Rechtsanwälte, Ethiker, Aktivisten oder tatsächlich Philosophen, Historiker oder Anthropologen - operieren.
Beantwortet dies Ihre Frage, wie man das Kontextuelle und das Partikulare und Situierte mit der Notwendigkeit der globalen Regulierung vereinbaren kann? Ich bin nicht sicher, dass es das tut - aber ich denke, zumindest teilweise habe ich versucht zu sagen, dass ich glaube, dass es nicht vereinbart werden kann. Die Natur des Politischen ist, dass wir eine solche Versöhnung nicht im Voraus haben können - das ist die Arbeit der Politik (und möglicherweise auch die Arbeit guter Philosophie oder Ethnographie). Aber ich hoffe, meine Antwort konnte zumindest ein wenig das Terrain klären und beleuchten, auf dem sich das Ethische und das Politische abspielen und die Doppelbindungs-Strukturen andeuten, innerhalb derer wir über solch wichtige Fragen nachdenken müssen.

 

Im nächsten GID (GID 196) wird Kaushik Sunder Rajan seinen Biokapital-Begriff erläutern.

Das vollständige Interview erscheint in Kürze in der englischen Originalfassung auf der Homepage des GeN.