Hunger nach mehr

Iran nach den Wahlen - ein Kommentar

Eines Tages beschloss Mullah Nassredin, seinen Mitbürgern einen Streich zu spielen. Er erzählte jedem, auf der anderen Seite des Marktes werde Suppe ausgeschenkt. Voller Euphorie strömten die Menschen hinüber – so viele, dass Mullah schließlich selber dachte, es gäbe Suppe. Mit diesem Gleichnis des wohl berühmtesten literarischen Antihelden der Region beschrieb Ahmadinedschad einen Tag nach der Wahl die Enttäuschung seiner Herausforderer. Man habe im Vorfeld so lange den eigenen Sieg propagiert bis man schließlich selbst glaubte, er sei unvermeidlich. Dieser falschen Erwartungshaltung sei auch der Westen unterlegen. Sind wir alle der Gier nach Suppe verfallen?

Tatsächlich steht das offiziell verkündete Wahlergebnis nicht im Widerspruch zu einer im Mai landesweit durchgeführten Umfrage eines US-Forschungsinstituts. Dieses sah Ahmadinedschad klar vor seinem größten Konkurrenten Mussavi. Vermeintliche Quellen aus dem iranischen Innenministerium dagegen sprachen nach der Wahl von einem Erdrutschsieg Mussavis. Indizien für einen Betrug gibt es viele, doch einige Stimmen mahnen, Ahmadinežad verfüge über eine sehr viel breitere gesellschaftliche Basis, als man ihm zugestehe. Entscheidend ist jedoch nicht, ob die Wahlen manipuliert worden sind.

Entscheidend ist, dass weite Teile der Bevölkerung von einem Wahlbetrug überzeugt sind – mehr noch, von einem Wahlbetrug ungeheuerlichen Ausmaßes! Ob bei einem knapperen Wahlausgang die Ereignisse sich ähnlich überschlagen hätten, ist fraglich. In diesem als Affront gegen die Mündigkeit des Volkes empfundenen Ausgang lag das eigentliche Konfliktpotenzial. Zehn Jahre nach der blutigen Niederschlagung der Studentenbewegung zogen erneut Massen durch die Straßen. Nur diesmal war die Bewegung breiter, heterogener, aber auch ohne klares Profil. Doch mit Mussavi hatte man ein Gesicht, mit der Forderung nach Neuwahlen eine gemeinsame Parole. Dabei ging es von Anfang an um weitaus mehr: um das Recht auf Selbstbestimmung! 85 Prozent der Wähler haben von ihrem Abstimmungsrecht Gebrauch gemacht. Für einen Großteil der Iraner ist es demnach sehr wohl von Bedeutung, wer Präsident ist, und sie glauben an die Möglichkeit politischer Veränderungen. Doch als sie ihr Votum übergangen sahen, griffen sie zu ihren Waffen: ihren Körpern, ihren Handys und dem Internet. Mit fortschreitender Youtubisierung verschafften sie sich Gehör, weit über die Grenzen des Gottesstaates hinaus. Dieser weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als mit militärischer und paramilitärischer Macht gegen die eigene Bevölkerung vorzugehen – der Anfang eines neuen Militärstaates? Mit Sorge beobachten die arabischen Nachbarn die jüngsten Entwicklungen. Sie befürchten ein Übergreifen der Massenbewegung – iranischer Revolutionsexport mal anders.

Doch sind wir wirklich Zeugen einer Revolution? Wer kann bemessen, wie groß das revolutionäre Potenzial tatsächlich ist? Diese Republik umfasst nicht nur liberale Kräfte, sondern auch Anhänger einer theokratischen Ordnung. Zwischen den ersten landesweiten Unruhen 1978 und der Flucht des Schahs verging ein ganzes Jahr – ein Jahr der Aufstände, des Streiks, des zivilen Ungehorsams. Auch eine Revolution braucht ihre Zeit und Geschichte lässt sich nicht planen.

Nachhaltig ist die Summe kleiner Erfolge und derer gab es in den letzten Monaten viele: In einem beispiellosen Wahlkampf schlagen sich Forderungen zivilgesellschaftlicher Kräfte auf einzelne Wahlprogramme nieder. Frauen sind in den Kampagnenpräsent wie nie zuvor. Korruption wird zum öffentlichen Thema. Fernsehduelle zeigen erstaunlich angriffsfreudige Kandidaten; die politische Elite bekämpft sich, und das ganze Land schaut zu. Heute verweigern sogar hohe geistliche Würdenträger dem religiösen Führer die bedingungslose Loyalität.

Die Zeit war reif, die Risse im Regime auszunutzen und gesellschaftlichen Druck aufzubauen. Jetzt gilt es, daraus politisches Kapital zu schlagen. Jede noch so kleine Lockerung bedeutet eine weitere offene Tür, die sich nicht mehr schließen lässt. Mag es die Suppe auf der anderen Seite des Marktes auch nie gegeben haben, der Appetit scheint ungebrochen und allein die Aussicht darauf hat für Bewegung gesorgt.