Rätedemokratie und das Ende der Politik

in (10.07.2009)

In der Novemberrevolution, deren 90jähriges Jubiläum dieses Jahr gefeiert wird, konnten die Linke und die deutsche Gesellschaft wählen zwischen Sozialismus, der auf die Einheit von Politik und Produktionsverhältnissen in Gestalt einer Rätedemokratie zielte, und Sozialdemokratie, die auf die Herstellung der parlamentarischen, repräsentativen, liberalen Demokratie zielte, die die Emanzipation in der Durchsetzung formaler Gleichheits- und Freiheitsrechte, also in der Überwindung der Feudalität und der Herstellung der Trennung von Markt und politischer Sphäre sah.

1. Das Versagen der liberalen Demokratie

Das Scheitern der sozialistischen Revolution in Deutschland gab gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen Raum, die zu enormer Kapitalmacht führten und massgeblich zu einer autoritären Lösung der Weltwirtschaftskrise nach 1929 beitrugen. Die liberale, repräsentative Demokratie konnte solchen autoritären Tendenzen nicht nur nichts entgegensetzen, vielmehr wurde aus der Mitte des demokratisch gewählten Parlaments heraus und von den bürgerlichen Parteien getragen die Entscheidung für einen von den Nationalsozialisten regierten autoritären Ausnahmestaat getroffen. Wie wenig geeignet die liberale Demokratie ist, autoritären Tendenzen entgegenzutreten, wurde in den vergangenen Jahren von der US-Regierung unter George W. Bush demonstriert. Aber es sind nicht nur die USA, für die eine Schwächung, wenn nicht sogar Aushöhlung der parlamentarischen Demokratie beobachtet wurde. Wieder einmal wird dies auch in Deutschland beobachtet.

„Wirtschaftsführer wie Politiker schwärmen zunehmend offen vom Can-do-Spirit des autoritären Lagers. Während sie in heimischen Landen vorwiegend Stagnation ausmachen, sehen sie anderswo nur den Boom und bewundern ihn oft kritiklos. ... Stimmen also unsere jahrzehntelang gehegten und gepflegten Grundannahmen nicht mehr, etwa jener berühmte Spruch von Winston Churchill, dass die Demokratie zwar unvollkommen und kritikwürdig, aber doch eindeutig das am wenigsten schlechte aller schlechten Regierungssysteme sei? Sind Gewaltenteilung und Menschenrechte eben kein universales Erfolgsmodell - funktionieren repressive Systeme womöglich am besten, kurze Wege statt langer Diskussionen, Sagen-wo's-langgeht statt Kompromissen?" (Der Spiegel, Nr. 19, 5.5.2008)

Was der „Spiegel" hier beschreibt, ist in gewisser Weise selbst schon überholt. Colin Crouch stellt fest, dass die parlamentarische Demokratie nicht mehr funktioniert, sondern in das Stadium der Postdemokratie übergegangen ist: die Fassade der Wahlen und des Parlaments funktioniert, aber die politischen Prozesse werden von den gewählten Politikern entsprechend den Wünschen der global operierenden Unternehmen gesteuert (Crouch 2008). Die Finanz- und Wirtschaftskrise demonstriert dies eindrucksvoll. Die politisch ergriffenen Maßnahmen dienen den Banken und zum geringeren Teil den produzierenden Unternehmen, jedoch nicht denen, die den gesellschaftlichen Reichtum erzeugen. Die Gesetze, die die Hilfsmaßnahmen für die Banken regeln, ermächtigen eine kleine Gruppe von Männern, über Hunderte Milliarden Euro zu entscheiden. Öffentliche, gar demokratische Kontrolle ist derart außer Kraft gesetzt, dass von einer Art Notstandsregierung gesprochen wird.

„Im Gesetz zur Stabilisierung des Finanzmarktes hat diese Funktion eine neunköpfige Gruppe des Bundestags-Haushaltsausschusses. Öffentlichkeit und Parlament delegieren ihre Kontrollfunktion damit an ein geheim tagendes Gremium. Das ist nicht revolutionär. Geheime Kontrolle gibt es von der ökokomisch sensiblen Auftragsvergabe über die Bundeswehr bis zu den Geheimdiensten. Bemerkenswert bleibt es dennoch. Denn die Regierung schirmt ihr Handeln zur Rettung maroder Finanzinstitute auch nach der anderen Seite ab: Es gibt keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. Wann der Souverän was für wen tut, entscheidet allein er - in diesem Fall allerdings weder das Volk noch seine parlamentarischen Vertreter, sondern die gewählte Regierung. Das ist die klassische Logik des Ausnahmezustandes. Die politische Notstandsverfassung von 1968 wurde nie angewendet. Und das ökonomische Notstandsgesetz von 2008?" (Frankfurter Rundschau, 18.10.2008)

Der Neoliberalismus hat in kapitalistischer Manier versprochen, die Wohlfahrt zu steigern - eine Wohlfahrt, von denen alle, die etwas leisten, etwas abbekommen würden. Doch im Reproduktionsprozess hat das wundersame finanzdominierte Akkumulationsregime, das endlich die Lösung eines sich immer weiter steigernden und selbsttragenden Wachstums bringen sollte, zu einer Krise geführt, die in einer beinahe unvorstellbaren Größenordnung gesellschaftlichen Reichtum vernichtet sowie viele Millionen Menschen in Arbeitslosigkeit, Elend, Obdachlosigkeit und Tod führt. Die Bundesrepublik Deutschland bezeichnet sich als sozialen und demokratischen Rechtsstaat. Doch de facto kam es zu einem Rückgang der Einkommen aus Lohnarbeit und zu einer sozialen Polarisierung. Während der vergangenen Jahrzehnte erreichte Wohlfahrtsgewinne wurden und werden vernichtet. Der liberal-demokratische Staat will Gleichheit und Freiheit nur formal gewährleisten. Nicht einmal das ist immer sicher; einen darüber hinaus gehenden sozialen Gehalt dieser Normen will und kann er nicht einlösen.

Die Beobachtungen der problematischen Aspekte der parlamentarischen Demokratie sind nicht neu. Seit der Französischen Revolution gerät die bürgerliche Demokratie immer wieder in Krisen. Kontinuierlich wird sie deswegen von gegen den Kapitalismus gerichteten sozialen Bewegungen und den mit ihnen verbundenen Intellektuellen kritisiert, die allen Anlass sahen, die parlamentarische Demokratie als bürgerliche in Zweifel zu ziehen - und als eine positive Alternative Konzepte der Rätedemokratie entwickelten.

Unter kapitalistischen Bedingungen verkehre sich Gleichheit vor dem Gesetz in die Gleichheit in der Beherrschung und Ausbeutung durch das Kapital, Freiheit in die Freiheit des Verhungerns und Brüderlichkeit in die schmachvolle Wohltätigkeitsprotzerei. Mit der Herrschaftskritik an den Mängeln des Parlamentarismus soll die Demokratie über die kapitalistische Ordnung hinausgetrieben werden.

„Einen wirklichen sozialen Inhalt können alle diese Ideen [wie Gleichheit, Freiheit oder Gerechtigkeit; AD] nur und erst dann erhalten, wenn sie auf ein System der wirtschaftlichen Gleichheit aufgebaut werden. ... Und so verlangt gerade die Verwirklichung der Demokratie den entscheidenden Schritt hinaus über die Welt des Bürgertums, über die Welt des Kapitalismus zu einer neuen Gesellschaftsordnung." (Adler 1919, 134)

Die liberale Demokratie mit ihren Institutionen der Repräsentation, des Parlaments und der politischen Parteien ist nicht nebenbei und zufällig unzulänglich. Auf dem Boden der Klassengesellschaft könne die Volksvertretung niemals Ausdruck eines Volkswillens sein. Das sich selbstbestimmende Volk gebe es noch nicht, denn das Volk ist gespalten in soziale Klassen (ebd., 137ff). Diese Spaltung reproduziert sich in den Verfahren der repräsentativen Demokratie, die darauf zielen, Bedingungen zu schaffen, unter denen die politischen Entscheidungen zwar in Wahlen durch die Bürger legitimiert und Kritiken und Proteste aufgenommen, gleichzeitig aber gerade die Mehrheit der Bürger von der realen Beteiligung an den Entscheidungen fern gehalten werden. Sie können keine eigenen Kandidaten aufstellen. Wahlen zum Parlament finden periodisch alle paar Jahre statt. Das Mandat des Abgeordneten ist nicht gebunden, er ist deswegen auch nicht durch die Wähler kontrollierbar. Er hält sich für den „Fachmann der Politik", den Spezialisten „in Sachen der Gesetzgebung; er kann sich nicht von den Instruktionen unwissender Leute leiten lassen". Als Vertreter der Allgemeinheit, des ganzen Volkes, lässt er sich angeblich nicht von privaten Interessen, sondern nur von höheren politischen Grundsätzen bestimmen, seine Aufgaben in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sind die Politik und die allgemeine Regulierung. Obwohl es sich um die Gesamtgesellschaft bindende Entscheidungen geht, werden jene Aufgaben zu einer aus gesellschaftlicher Sicht betrachtet untergeordneten Aktivität einer kleinen Gruppe von Spezialisten, während der wesentliche Teil der alltäglichen gesellschaftlichen Arbeiten der Produktion und Reproduktion als Tätigkeiten von Privatpersonen gilt. Die Parlamente entscheiden nicht allein über Gesetze, sondern werden ihrerseits von zweiten Kammern und Verfassungsgerichten eingeschränkt; sie regieren auch nicht selbst, sondern entscheiden nur über Gesetze, während die ausführende Staatsgewalt in der Bürokratie verkörpert ist. Dies alles legt es nahe, in der parlamentarischen Demokratie kein der bürgerlichen Klasse entgegenstehendes Prinzip, sondern im Parlamentarismus die Herrschaftsform der Bourgeoisie zu sehen (Pannekoek 1946, 67f, 266ff; Adler 1919, 134f).

Angesichts der Tatsache, dass die parlamentarische Demokratie nicht nur nebenbei Unzulänglichkeiten aufweist, sondern diese systematisch zur Herrschaft des Bürgertums und seiner spezifischen Eigentumsverhältnisse beitragen, stellt sich seit zweihundert Jahren die Frage nach Alternativen. Die sehr weit reichende Alternative, die von den sozialen Bewegungen hervorgebracht wurde, sind die Erfahrungen mit und die Diskussionen über Rätedemokratie. Die Rätedemokratie dehnt die kollektive Selbstbestimmung auf den Bereich der Ökonomie, der gesellschaftlichen Arbeit insgesamt, der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und damit auf die Anordnung von Ökonomie und Politik, von alltäglicher Reproduktionsarbeit und gesellschaftlicher Entscheidung, von Privat und Öffentlich aus. Sie nimmt in Anspruch, dies nicht nur für einzelne Betriebe oder Regionen zu leisten, sondern auch das Gemeinwesen insgesamt zu reorganisieren: sie will die planmäßige Verwaltung von Produktion und Verteilung durch die Gesellschaft mit der Kontrolle der Produktion von unten vereinbaren (vgl. Korsch 1919a, 164).


2. Die Räte als Sphäre politischer Freiheit

In der offiziellen Geschichte der politischen Theorie - die wie auch in anderen Fällen eine Geschichte der Sieger ist -, kommt Hannah Arendt das Verdienst zu, an die rätedemokratischen Traditionen erinnert und die demokratietheoretische Bedeutung der Räte herausgearbeitet zu haben. Gleichzeitig jedoch gibt sie den Räten eine Bedeutung, durch die ihr sozialer Gehalt, die Transformation der Produktionsweise, verloren geht, und sie gegen die sozialistische und kommunistische Tradition ausgespielt werden können. Damit enteignet sie diese Tradition allerdings eines wesentlichen, wenn nicht entscheidenden Emanzipationspotentials.

In jeder Revolution seit 1789 - und ergänzend könnte gesagt werden seit der englischen Revolution - haben sich spontan Räte gebildet, „ohne daß irgendeiner der Beteiligten je wußte, daß es dies schon einmal gegeben hat" (Arendt 1963, 336; vgl. Kottler 1925). Die Räte stehen, Hannah Arendt zufolge, für ein Projekt, das nicht „staats-, regierungs- und ordnungsfeindlich ist, sondern im Gegenteil die Neugründung des Staates und die Errichtung einer neuen Ordnung bezweckt" (ebd., 336). Die Berufsrevolutionäre, zu denen sie Marx und Lenin, Proudhon und Bakunin zählt, seien den revolutionären Ereignissen nicht gewachsen gewesen, hätten die Bedeutung der Räte nicht erkannt und die Institution der Räte „bis zur Vergessenheit vernachlässigt". Das sei Ergebnis der Tatsache, dass Revolutionäre üblicherweise an der Entstehung von Revolutionen keinen Anteil hätten, für sie deswegen auch solche spontanen Erfindungen keine Bedeutung hätten, sie das Neue gar nicht sehen könnten, sondern sie vielmehr nur das Vergangene nachahmten und das, was ihm widerspreche, als konterrevolutionär denunzierten. Was ist dieses Alte? Der Staat, das nationalstaatliche Regime, das parlamentarische Parteiensystem. An diesen Institutionen seien sie orientiert und könnten sich die Revolution nur als Machtergreifung, als Inbesitznahme des Monopols der staatlichen Gewaltmittel vorstellen (ebd., 328). Aus der Sicht der Berufsrevolutionäre seien die Räte deswegen nur Kampforgane für eine Übergangszeit bis zur Erlangung der Macht. Das Neue an den Räten ist aus der republikanischen Sicht Hannah Arendts, dass es sich bei ihnen um eine Wiederbelebung der Demokratie handelte und um das Gestaltungsprinzip einer neuen Gesellschaft: sie stellten den Anspruch, sich als bleibende Staatsorgane zu etablieren. Sie erlaubten es den Einzelnen, möglichst unmittelbar und unbeschränkt am öffentlichen Leben ihrer Zeit teilzunehmen und mit anderen gemeinsam zu handeln: in Nachbarschafts-, Schriftsteller- und Künstler-, in Studenten- und Jugendlichen-, Arbeiter-, Soldaten- und Beamtenräten. Das mehr oder weniger zufällige Beisammensein wird durch die Bildung eines Rates zu einer politischen Institution (ebd., 343). In den Räten selbst spiele die Parteizugehörigkeit keine Rolle, es komme deswegen auch nicht zu Fraktionsbildung. Aufgrund dieser Eigenschaft bilden die Räte für Hannah Arendt einen neuen Raum der politischen Freiheit, in dem die Bürger durch Teilhabe an der öffentlichen Sphäre über ihr gemeinsames Leben entscheiden. Es gehe nicht um die Herstellung eines Paradieses auf Erden, nicht um die klassenlose Gesellschaft und die Abschaffung des Eigentums, sondern um die Konstituierung der Republik.

Hannah Arendt trug mit ihrem Buch viel dazu bei, den Rätebewegungen eine angemessene politische Bedeutung zu geben. Ihre positive Betrachtung der Räte steht jedoch in einem systematischen Zusammenhang, der nicht außer Acht gelassen werden darf. Denn es ging ihr darum, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges eine Unterscheidung zwischen zwei Arten der Revolution zu konstruieren: auf der einen Seite die Tradition der französischen Revolution, die sich vom Terror der Jakobiner über Marx bis zu den russischen Revolutionären hinzieht, die mit dem Ziel der klassenlosen Gesellschaft eine Form des autoritären Regierens betreiben; auf der anderen Seite die Räte in Russland 1905 und 1917, in Deutschland 1918/19, in Ungarn 1956, die in einer Traditionslinie mit den föderativen Räten in den USA stehen sollen, die als Elementarrepubliken einen öffentlichen Raum der Freiheit konstituieren, der für die amerikanische Republik kennzeichnend sei. So stehen die USA in einer revolutionären Tradition, die sich aus Arendts Sicht als der französisch-russischen als überlegen erwiesen hat, und im politischen System der USA fortlebt (vgl. Demirovic 2003). Zweitens versteht Arendt die Bildung von Räten - entsprechend ihren allgemeinen Überlegungen - allein als Gründung eines Raums der öffentlichen Freiheit, der von ihr entschieden von der sozialen Frage abgetrennt wird. Die Räte entscheiden demnach nicht über die Art und Weise, wie die Produktion und Verteilung geregelt werden soll, sondern sollen die politische Öffentlichkeit revitalisieren, die ihrer Ansicht nach durch die konsumistische Befriedigung sozialer Bedürfnisse geschwächt worden sei. Drittens entscheiden die Räte auch nicht darüber, ob die liberale Trennung der Politik von der Ökonomie und dem Sozialen, die Arendt nicht in Frage stellt, weiter Bestand haben soll. Für sie ist klar, dass die Räte eine staatliche Ordnung wollen. Die Überlegungen von Arendt verdichten sich zu der Kritik, dass seit Marx die ihm folgende Tradition - etatistisch befangen, wie sie angeblich gewesen ist - für die Frage der Räte wenig Sinn hatte und sie allenfalls als Kampforgane während einer Übergangsphase begreifen konnte, nicht aber als Keimzellen einer grundlegend umgestalteten, bürgerschaftlichen Gesellschaft, die sich als politisches Gemeinwesen konstituiert. Faktisch werden damit das aufopferungsvolle Engagement vieler Linker im Rahmen der Rätebewegung, die Ziele und die theoretischen Arbeiten ignoriert, die von Aktivisten vorgelegt wurden. Viele wollten die demokratische oder soziale Republik, doch dies als Grundlage einer weiteren Emanzipation eines gesellschaftlichen Lebens ohne Staat und ohne die Knechtschaft der Ausbeutung.


3. Marx' Verständnis von Politik und die Bewertung der Kommune

Zwischen Marx' Analysen der Pariser Kommune und seinen frühen Schriften gibt es hinsichtlich der Bewertung des Staates und der Politik eine grosse Kohärenz. In den Massnahmen der Kommune sieht er Schritte in Richtung der Ziele, die er in den 1840er Jahren formuliert hatte. Marx nimmt in Anspruch, den politischen Staat auf der Höhe seiner Prinzipien zu kritisieren. Das ist der Repräsentativstaat, die demokratische Republik auf der Grundlage der Volkssouveränität (vgl. Marx 1843, 352; Marx 1875, 29). Dieses repräsentative System will er durch Kritik über sich hinaustreiben. Charakteristisch für den politischen, repräsentativen Staat ist Marx zufolge, dass er ein Freistaat ist, der sich von der Gesellschaft emanzipiert, indem er gesellschaftliche Unterschiede wie den der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung zu unpolitischen Unterschieden erklärt und jedes Glied des Volkes zu einem „gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft". Im Gegensatz zu diesen dem Staat nun als privat geltenden Besonderheiten erhebt er selbst den Anspruch auf Allgemeinheit. Damit wird das moderne Leben in zwei Bereiche gegliedert, ein himmlisches und ein irdisches Leben, ein Leben im politischen Gemeinwesen, in dem die Menschen Bürger, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft, in der sie als Privatmenschen tätig sind. Marx beobachtet einen Chiasmus: Das lebendige Individuum in seiner konkreten Wirklichkeit gilt als bloss privat und partikular und deswegen als unwahr. Doch dort, wo der Mensch als Gattungswesen, als Mitglied des Gemeinwesens, als Staatsbürger gesehen wird, im Staat, ist er „das imaginäre Glied einer eingebildeten Souveränität, ist er seines wirklichen individuellen Lebens beraubt und mit einer unwirklichen Allgemeinheit erfüllt" (Marx 1843, 355). So tritt der Repräsentativstaat auf einem höheren historischen Niveau an die Stelle der Religion: die Individuen setzen sich zu allen anderen Individuen durch dieses Medium des Staates in Beziehung. Dies bedeutet aber, dass sie sich nur in einer beschränkten, partiellen Weise aufeinander beziehen und viele Aspekte ihres Lebens, nämlich alle die, die als privat gelten, ausser Betracht lassen müssen. Da der politische Staat zum Mittler zwischen den Menschen wird, sie ihre Freiheit allein durch die Gesetze des Staates erlangen, bezeichnet Marx diesen Staat als religiös und christlich. „Christlich ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch, nicht nur ein Mensch, sondern jeder Mensch, als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch in seiner unkultivierten, unsozialen Erscheinung, der Mensch in seiner zufälligen Existenz, der Mensch, wie er geht und steht ..., mit einem Wort, der Mensch, der noch kein wirkliches Gattungswesen ist" (ebd., 360). Die Konstitution des politischen Staates im Akt der Revolution trennt die bürgerliche Gesellschaft vom Staat, sammelt alle Formen von Politik, von Herrschaft und konstituiert sie als Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheit im Gegensatz zu den bestimmten Lebenstätigkeiten der Individuen. Diese politische Revolution ist ihrer Logik nach autoritär, denn um die politische Emanzipation zu vollziehen, versucht der Staat, die besonderen Lebenssphären aufzuheben und sich als das „wirkliche, widerspruchslose Gattungsleben des Menschen zu konstituieren". Doch das gelingt ihm allenfalls kurzfristig und nur mit Gewalt, indem die Politik die Revolution gegen die gesellschaftlichen Bedingungen, auf denen sie ruht: das Privatleben der bürgerlichen Gesellschaft, für permanent erklärt. Das bleibt eine vergebliche Anstrengung, denn wie Marx zeigt, folgt auf den Terror der Jakobiner mit Notwendigkeit die „Wiederherstellung der Religion, des Privateigentums, aller Elemente der bürgerlichen Gesellschaft" (ebd., 357).

Es sind vier Schlussfolgerungen, die sich aus diesen Überlegungen ziehen lassen. 1) Erst, wenn der wirkliche individuelle Mensch den abstrakten Staatsbürger in sich zurücknimmt, wenn der Mensch seine eigenen Kräfte als gesellschaftliche erkennt und organisiert - also nicht mehr als staatliches Gemeinwesen jenseits der isolierten privaten Individuen, sondern in Gestalt der bewussten Kooperation mit allen anderen - sei „die menschliche Emanzipation vollbracht" (ebd., 370). Es geht um die Herstellung des wirklichen kooperativen Gemeinwesens ohne Klassen und ohne Staat als oberhalb der sozialen Klassen und Individuen stehendes Medium des Allgemeinwohls.

2) Dieser Gedanke der Zurücknahme wird von Marx immer wieder formuliert. Es wird aber deutlich, dass es sich nicht einfach um die Zurücknahme des Staates und der Politik in die Gesellschaft handeln kann, denn die bürgerliche Gesellschaft ist als materielle Grundlage konstitutiv für die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat und muss selbst grundlegend verändert werden, ja, die Veränderung und Überwindung des Staates erfordern vorrangig eine Veränderung seiner gesellschaftlichen Grundlagen. Beide, sowohl die bürgerliche Gesellschaft als auch der Staat, stellen in der besonderen bürgerlichen Art und Weise, wie sie artikuliert werden: als Sphäre partikularer, privater Individuen und als abstraktes Gemeinwesen, ein Problem dar. Deswegen geht es Marx um eine Überwindung der konstitutiven Differenzierungslinie, durch die sich diese beiden Sphären voneinander trennen. Aber diese Differenzierungslinie fällt selbst in die Gesellschaft. Indem sich diese zukünftig um die bisher verleugneten Formen der gesellschaftlichen Arbeit herum reorganisiert (also die angeeignete Mehrarbeit von Lohnabhängigen und die Familienarbeit), werden politische Herrschaftsfunktionen allmählich überflüssig.

„Das Eingreifen einer Staatsgewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebiete nach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein. An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltung von Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. Der Staat wird nicht ‚abgeschafft', er stirbt ab." (Engels 1882, 224).

Die für die Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht, bestimmenden Antinomien: das Besondere und das Allgemeine, das konkrete, lebendige Individuum und das Gattungswesen, das Private und das Öffentliche, werden aufgehoben.

3) Ins Zentrum seiner Überlegung rückt Marx die menschliche Emanzipation. Es geht ihm darum, dass weltgeschichtlich die Existenzbedingungen der Bildung von Klassen überwunden werden.

„Sind im Laufe der Entwicklung die Klassenunterschiede verschwunden und ist alle Produktion in den Händen der assoziierten Individuen konzentriert, so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter." (Marx/Engels 1848, 482)

Mehr noch, die öffentliche Gewalt als organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen wird selbst überflüssig. Die proletarische Klasse soll Marx zufolge nicht mehr das Projekt der politischen Emanzipation und der politischen Revolution verfolgen. Diese würde autoritäre Folgen haben und die Grundlagen der Gesellschaft nicht ändern. Die Revolution muss von unten ausgehen und sich als eine soziale Revolution vollziehen, die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen ändern.

„Eine soziale Revolution befindet sich deswegen auf dem Standpunkt des Ganzen, weil sie - fände sie auch nur in einem Fabrikdistrikt statt - weil sie eine Protestation des Menschen gegen das entmenschte Leben ist, weil sie vom Standpunkt des einzelnen wirklichen Individuums ausgeht, weil das Gemeinwesen, gegen dessen Trennung von sich das Individuum reagiert, das wahre Gemeinwesen des Menschen ist, das menschliche Wesen. Die politische Seele einer Revolution besteht dagegen in der Tendenz der politisch einflusslosen Klassen, ihre Isolierung vom Staatswesen und von der Herrschaft aufzuheben. Ihr Standpunkt ist der des Staats, eines abstrakten Ganzen, das nur durch die Trennung vom wirklichen Leben besteht, das undenkbar ist ohne den organisierten Gegensatz zwischen der allgemeinen Idee und der individuellen Existenz des Menschen." (Marx 1844, 408)

4) Allerdings ist das Problem, dass die menschliche Emanzipation nicht unmittelbar zu erlangen ist: ein Appell an das Menschliche in einem jeden Individuum würde verhallen; die Menschenrechte reichen nicht über die kapitalistische Knechtschaft hinaus, weil sie die bestehenden Eigentumsverhältnisse verteidigen. Ihrer realen Existenzgrundlage und ihrer symbolischen Bedeutung im Zusammenhang aller anderen sozialen Klassen nach sieht Marx in der Arbeiterklasse diejenige Klasse, die den Übergang organisieren muss, den er als „Diktatur des Proletariats" bezeichnet (Marx 1875, 28). Die Arbeiterklasse ist die universelle Klasse, weil sie universelles Leiden symbolisiert: In der Arbeiterklasse erkennt Marx die Klasse, die durch ihre Arbeit in besonderer Weise zur Erhaltung der Gesellschaft beiträgt. Gleichzeitig wird ihr lebendiges Arbeitsvermögen ausgebeutet und als Privatreichtum von wenigen angeeignet, die auf diese Aneignung ihre Herrschaft stützen. Will die Arbeiterklasse sich emanzipieren, kann sie dies nur durch eine Emanzipation von sich selbst und von den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie überhaupt Arbeiterklasse ist, also nur durch die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft, unter denen auch alle anderen zu leiden haben. „Diese Auflösung der Gesellschaft als besonderer Stand ist das Proletariat." (Marx 1844a, 390) Die Arbeiterklasse ist demnach doppelt und widersprüchlich bestimmt: einerseits gewinnt sie ihre bestimmte Identität innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise und ist - demokratietheoretische gesprochen - nur eine partikulare Gruppe mit partikularen Interessen; andererseits symbolisiert sie etwas Universelles und bildet in ihrer Existenz die Grundlage dafür, über sich selbst hinauszugehen und ein radikales Anderes zu sein, Emanzipation der Menschen im allgemeinen, die sich nicht mehr in der bürgerlichen Gesellschaft einlösen lässt. Menschliche Emanzipation bedeutet in der Konsequenz, dass es weder die Klasse gibt noch den Volkssouverän - die privaten Einzelnen, die die Grundlage des Staates bilden.

Diese vier Schlussfolgerungen bestimmen auch Marx' Analyse der Massnahmen der Pariser Kommune von 1871. Marx legt hier dar, wie er sich die ersten Schritte der Transformation der Trennungslinie von Politik und Ökonomie vorstellt. Damit wird diese Analyse eine der bedeutenden Grundlagen für die weitere „historische Entfaltung des marxistischen Rätegedankens" und darüber hinaus für „alle direkt-demokratischen Organisationsansätze" (Bermbach 1973, 19). Anders als Udo Bermbach will ich Rätedemokratie von direkter Demokratie unterscheiden. Direkte Demokratie besteht aus Verfahren des Volksentscheids, die das parlamentarische Verfahren ergänzen. Direkte Demokratie hält sich an die formale Definition des Volkssouveräns. Demnach haben die Wahlberechtigten das Recht auf eine Gesetzesinitiative oder sie können in einem Referendum über Entscheidungen der Legislative oder der Regierung entscheiden (obligatorisches Referendum) (vgl. Abromeit 2003). Rätedemokratie soll auch von Basisdemokratie unterschieden werden, denn das Verständnis von ‚Basis' war in den Diskussion der 1980er Jahre hinsichtlich der gesellschaftlichen Bereiche unspezifisch und meinte in der Topographie von ‚unten' und ‚oben' oft nicht mehr als die Mitspracherechte der Anwesenden unabhängig von formellen Regelungen (so konnte sich auch die Landtagsfraktion der Grünen im hessischen Landtag als ‚Basis' definieren, um ihre Politikvorstellungen gegen Ansprüche der Parteimitgliederversammlungen als basisdemokratische zu behaupten, vgl. Demirovic 1989).

Marx zufolge zeigen die enttäuschenden Erfahrungen mit der Regierungsform der Republik, dass diese nur als eine soziale möglich ist. Die soziale Republik wird von der Pariser Kommune in die Praxis umgesetzt, indem sie die Staatsmaschine der Kapitalisten- und Grundbesitzerklasse entreisst sowie „die ‚soziale Emanzipation' offen als das große Ziel der Republik bekennt und so jene soziale Umgestaltung durch die kommunale Organisation garantiert" (Marx 1871, 554, vgl. Marx 1871a, 338). Die Träger dieses Prozesses sind nicht mehr die verschiedenen bürgerlichen Klassenfraktionen, sondern die „produzierenden Massen" (ebd., 556). Im Unterschied zu vorangegangenen Revolutionen habe das „Volk" - die Verbindung von Arbeitern, kleiner und mittlerer Bourgeoisie und Bauern (ebd., 553; Marx 1871, 344) - aufgrund der Initiative der Arbeiter durch die Errichtung der Kommune die „wirkliche Leitung seiner Revolution in seine eignen Hände genommen" und die „Regierungsmaschine der herrschenden Klassen durch seine eigne Regierungsmaschine ersetzt". Aber bei der Kommune handelt es sich gleichzeitig um mehr als nur die Ersetzung einer Maschine durch eine andere. Denn die Kommune entspricht dem von Marx formulierten Ziel der Zurücknahme des Staates.

„Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klasse an die andre zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen." (Ebd., 541, vgl. auch 543, 591)

Marx greift auf Abraham Lincolns Bestimmung der Demokratie zurück: Demokratie als eine Form des Regierens für das Volk, durch das Volk, mit dem Volk, um den politischen Ort der Kommune zu bestimmen. Hauptmerkmal ist, dass das Volk und vor allem die Arbeiterklasse sich in den Gemeinden wirklich selbst regiert (ebd., 595, 556). Aber die Kommune ist lediglich ein erster Schritt der sozialen Emanzipation. Die kommunale Form der politischen Organisation ermögliche es, sofort grosse Fortschritte für die „Bewegung für die Arbeiterklasse selbst und die Menschheit" zu erreichen (ebd., 549). Doch ist die Kommune immer noch eine politische Form, noch nicht die „Bewegung einer allgemeinen Erneuerung der Menschheit", noch nicht die Abschaffung aller Klassen. Denn sie vertritt ein Sonderinteresse: die Befreiung der Arbeit von der „Usurpation ... der Monopolisten der Arbeitsmittel, die von den Arbeitern selbst geschaffen oder Gaben der Natur sind" (ebd., 545). Die Kommune ist immer noch Klassenkampf, „aber sie schafft das rationelle Zwischenstadium, in welchem dieser Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann" (ebd., 546). Die ökonomischen Reformen, die Veränderung der Verteilung und die Reorganisation der Produktion, die Einrichtung von Bedingungen für das spontane Wirken der Gesetze der gesellschaftlichen Ökonomie der freien und assoziierten Arbeit, benötigen Zeit.

Marx führt eine Reihe von Entscheidungen der Kommune an. Als soziale Massnahmen werden die Abschaffung der Nachtarbeit für Bäckergesellen oder die Übergabe von geschlossenen Werkstätten und Fabriken an Arbeitergenossenschaften genannt (Marx 1871a, 347; 1871, 528). Vorrangig geht es ihm jedoch um die politischen Massnahmen, denn die Kommune versteht er als „Hebel, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klassen und damit der Klassenherrschaft ruht" (Marx 1871a, 342). Die unproduktiven und schädlichen Tätigkeiten des Staates, die einen „riesigen Anteil des Nationalprodukts" in Anspruch nehmen, werden beseitigt und, soweit sie notwendig sind, in eine örtliche und nationale Verwaltungsarbeit übergeleitet. Dies bedeutet, den kostspieligen Militärapparat mit einem vom Volk getrennten stehenden Heer, Berufsoffizieren und aufwendiger Ausrüstung durch eine Volksmiliz zu ersetzen. Die unabhängige Polizei wird aufgelöst, die Sicherheits- und Ordnungsfunktionen werden von den Bürgern selbst übernommen. Dies könnte Anlass geben, Willkür zu befürchten. Doch Marx betont den demokratiepolitischen Kontext, in dem diese Massnahmen stehen. Das allgemeine Stimmrecht wird ausgedehnt und dient erstmals dem Volk (Marx 1871, 544; Marx 1871a, 340). Es wird nun nicht mehr nur wie in parlamentarischen Systemen auf die Wahl von repräsentativen Volksvertretern beschränkt, die einmal in vielen Jahren gewählt werden. Die Kommune wählt in den verschiedenen Bezirken ihre Vertreter nach allgemeinem Stimmrecht in die Selbstregierungsorgane. Die Stadträte sind verantwortlich und jederzeit absetzbar; sie übernehmen die Aufgaben der Gesetzgebung und der Verwaltung. Öffentliche Ämter sind kein „Privateigentum" der Zentralregierung mehr, die die Ämter verleiht, alle öffentlichen Funktionen werden von kommunalen Beamten und unter der Kontrolle der Gemeinden wahrgenommen. Die allgemeinen und lebenswichtigen Funktionen des Landes sollen keinen Anlass zur Herausbildung einer über der Gesellschaft stehenden hierarchischen Beamtenschaft geben; vielmehr sollen auch sie von kommunalen Stellen wahrgenommen werden.

„Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann noch für eine Zentralregierung übrigblieben, sollten nicht, wie dies absichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommunale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden. Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegenteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; sie sollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war." (Marx 1871a, 340)

Das Staats- und Amtsgeheimnis wird beseitigt; die Bezahlung der kommunalen Räte entspricht der von Facharbeitern (Marx 1871, 544, 596; Marx 1871a, 339).

Von besonderer demokratietheoretischer Bedeutung ist, dass die Kommune sich selbst regiert und die gewählten Gremien sowohl legislative als auch exekutive Funktion auf sich vereinigen. Die Kommune, also die vereinigten Mandatsträger, sollte keine nur parlamentarische, sondern „eine arbeitende Körperschaft" sein (ebd., 596; Marx 1871a, 339), davon getrennt gibt es eine gewählte, verantwortliche und absetzbare Richterschaft. Die Zusammenführung von gesetzgebender und ausführender Funktion kann im Lichte der liberalen politischen Theorie als ein Rückschritt hinter das erreichte Niveau der Gewaltenteilung erscheinen, von der erwartet wird, dass sie ein gewisses Mass an Freiheit und demokratischen Rechten sichert. Demgegenüber wird aus rätedemokratischer Sicht in der Gewaltenteilung ein antidemokratisches Prinzip gesehen und die „Vereinigung aller Gewalten in der Hand des Volkes" gefordert (Adler 1919, 160f). Es gibt eine Reihe von Argumenten gegen die Gewaltenteilung. a) Wie Gewaltenteilung gefasst wird, ist in der demokratietheoretischen Diskussion selbst keineswegs eindeutig. John Locke zufolge ist das gewählte Parlament das höchste Vertretungsorgan des Volkes, das die Gewalt aber nicht verliert (Locke 1689, § 149). Die Gewalt des Volkes bleibt also - anders als im Grundgesetz - beim Volk und wird nicht zwischen Parlament, Exekutive und Judikative aufgeteilt. b) In den historischen Analysen zur Diskussion über die Einführung der Gewaltenteilung in die Verfassung der USA konnte gezeigt werden, dass sie vom Bürgertum erdacht wurde, um die Äusserung des freien Willens des Volkes und damit die Möglichkeit zu behindern, die Verfassungsinstitutionen und vor allem die Eigentumsverhältnisse verfassungsmässig in Frage zu stellen (vgl. Beard 1913). c) Die Gewaltenteilung ist aus dem Blickwinkel einer materialistischen politisch-soziologischen Analyse eher eine Verteilung der Macht der verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen auf die Staatsapparate. Der Staat in seiner Gesamtheit jedoch arbeitet das Gesamtinteresse der herrschenden Klassen gegenüber den Subalternen aus (vgl. Poulantzas 1974, 303ff). d) Die Gewaltenteilung existiert nur als strategisches Moment der staatlichen Herrschaftsausübung. Fraktionelle und Parteiinteressen durchdringen die einzelnen staatlichen Apparate (so werden Staatsanwälte oder Richter von den Regierungsparteien von Untersuchungen gegen Politiker oder Unternehmer abgehalten oder gegebenenfalls versetzt; Positionen in Militär und Polizei nach parteipolitischen Gesichtspunkten besetzt; parlamentarische Gesetzes- und Haushaltsentscheidungen fallen nach Massgabe der Regierung und Verwaltung aus). Eine gewaltenteilige Unabhängigkeit eines Apparats ist nur dann gegeben, wenn Amtsgrenzen und Zuständigkeiten in den politischen Konflikten für besondere Interessen strategisch genutzt werden. e) Gewaltenteilung gilt als Schutz vor totalitären Übergriffen. Doch ist es eine abwegige Vorstellung, dass die Legislative durch die Exekutive kontrolliert werden muss, denn Übergriffe in die Rechte der Bürger gehen von exekutiven Apparaten aus: Polizei, Verwaltung, Militär. Gerade die Gewaltenteilung ermöglicht verselbständigte bürokratische Vorgänge. Wenn nun in der Rätedemokratie Legislative und Exekutive zusammenfallen, könnte befürchtet werden, dass die schwache Form parlamentarischer Kontrolle der Exekutive noch weiter geschwächt wird und dies zu Willkür und der Austragung von politischen Entscheidungen mit Mitteln der Gewalt führt. Dem steht entgegen, dass diejenigen, die die Geschäfte für die Allgemeinheit wahrnehmen, sich an die Beschlüsse der kommunalen Räte halten müssen, dass sie unter Bedingungen der öffentlichen Kontrolle entscheiden und handeln und direkt von unten gewählt werden. Willkür- und Gewalthandlungen wären weniger wahrscheinlich als unter der heutigen Form bürokratischer Herrschaft: dort wo sie vorkommen, wären sie nicht hinter dem Dienstweg und Amtsgeheimnis des formal-rationalen Anstaltsstaats versteckt, sondern offen skandalisierbar.

Auch aus einer demokratietheoretischen Sicht gibt es keine zwingenden Gründe für die Gewaltenteilung. Rousseaus Überlegungen zufolge sind der Volkssouverän und sein Wille unteilbar (Rousseau 1762, 85ff). Zugunsten der Gewaltenteilung kann argumentiert werden, dass das Volk sich durch die Trennung von Gesetzgebung und Ausführung selbst an seine Entscheidungen bindet. Denn indem die Legislative sich auf Gesetzgebungskompetenz beschränkt und die Ausführung der Exekutive, also Regierung und Verwaltung, überlassen wird, vermeidet es der Gesetzgeber, sich zu sehr von aktuellen Situationen beeinflussen zu lassen. Der Allgemeinwille wird durch die Exekutive mediatisiert. Doch demokratietheoretisch ist gerade dies mit Problemen verbunden. Der Volkssouverän wird bei diesem Argument als ein kleines, launenhaftes Kind verstanden, doch es ist nicht plausibel, warum der Volkssouverän nicht tatsächlich aufgrund von Einsicht oder Veränderung von Präferenzen seine vorangegangenen Entscheidungen umstossen können sollte. Wenn die Exekutive ihn dabei behindert, wird sie zu einer transzendenten Macht und dem Parlament gegenüber selbst zu einer politischen Partei oder zu einem Ort der Parteibildung. Sowohl die empirischen als auch die demokratietheoretischen Argumente sprechen dafür, den Nutzen der Gewaltenteilung für die Demokratie für gering zu halten. Die Zusammenlegung von legislativer und exekutiver Macht verhindert, dass sich in Staatsapparaten Machtgruppen organisieren und ihre Macht steigern können, indem sie ihre Kompetenzen vermehren. Im Sinne der Überlegung von Marx sind alle Gremien von unten durch die Stimmbürger und -bürgerinnen kontrolliert, die Räte üben ihre Tätigkeiten öffentlich und ohne Rückgriff auf das Amtsgeheimnis aus, die Mandatsträger sind verantwortlich und jederzeit abwählbar. Es geht also darum, politische Bedingungen zu schaffen, die die Herausbildung von Macht verhindern. Dies ist insbesondere deswegen möglich, weil es keinen politischen Ort mehr gibt, an dem sich eine Macht bündelt, die im Namen des Volkssouveräns spricht. Auf diesen entscheidenden Punkt möchte ich kurz eingehen.

Marx spricht von den wahlberechtigten Bürgern in den Kommunen, aber auch von den Arbeitern und den Volksmassen. Wie das Verhältnis dieser verschiedenen Kategorien zu fassen ist, wird von ihm nicht erläutert. Im Sinne eines demokratischen Verfahrens ist eine legitime Körperschaft die Gruppe der Wahlberechtigten. Marx erläutert nicht, wer Wahlrecht hat. Sind zu den Wahlberechtigten alle Erwachsenen ab einem bestimmten Alter zu rechnen, gehören dazu auch Migranten, zählen dazu nur Arbeiter oder auch die Noch- oder die Nicht-Mehr-Eigentümer von Produktionsmitteln? Vom Volkssouverän leiten politische Demokratien die Gewalt des zentralisierten Staates und der Legitimität seiner Organe ab. Offenkundig verfolgt Marx eine andere Vorstellung hinsichtlich des Staates, und deswegen müsste er auch den Begriff des Volkssouveräns in Frage stellen. Er äussert sich nicht dazu, aber es ist die folgende Überlegung möglich. Der Volkssouverän ist ein politischer Körper. Seinen Status erhält er von der Existenz des Nationalstaats, dem er Legitimität verleiht. Obwohl der Volkssouverän für das Selbstverständnis der demokratischen Republik die letzte Instanz ist, von der sich alle Staatsgewalt ableitet, lässt er sich nicht begründen. Denn das Volk, das den Staat gründet, von dem sich die Staatsgewalt ableitet, muss logisch dem Staat vorausgehen. Doch unter den Bedingungen, unter denen es den Staat noch nicht gibt, ist noch nicht entschieden, wer zu dem Volk gehört. Denn die Zugehörigkeit zum Volk, zu den Bürgern wird erst durch den Staat definiert. Der Volkssouverän und der demokratische Staat lassen sich nur zirkulär begründen. Damit erweist sich der Begriff des Volkssouveräns als eine irrationelle Kategorie, die irrational wird, wenn zur Begründung des Volks auf vorpolitische Vorstellungen wie dem Volk als Herkunfts- und Schicksals-, als Sprach- und Kulturgemeinschaft zurückgegriffen wird (vgl. Balibar 2002). In solchen Fällen nimmt das Volk vollends den Charakter eines Mythos an. Aus dem Blickwinkel der Marxschen Theorie betrachtet lässt sich sagen, dass sowohl die bürgerliche Ökonomie als auch die demokratisch-repräsentative Republik irrationell-religiöse gesellschaftliche Formen sind. Denn beide Formen nehmen eine Grundlage in Anspruch, die sie nicht begründen können. Im Fall der Ökonomie wird unterstellt, dass Preise von Waren rational sind. Preise müssen einem Wert entsprechen. Was dieser Wert ist, kann die bürgerliche Ökonomie nicht erkennen und erklären. Der Wert der Waren verkörpert den gesellschaftlichen Zusammenhang der privat erfolgenden Produktion und wird in der bürgerlichen Gesellschaft auf die verausgabte Arbeitszeit zurückgeführt. Doch auch das lebendige Arbeitsvermögen hat so wenig wie irgendein anderer Gebrauchswert einen intrinsischen Wert; der Wert der Ware Arbeitskraft ist insofern ein irrationeller Ausdruck, der nur unter kapitalistischen Produktionsverhältnissen sinnvoll ist. Die demokratische Republik als irrationell-religiöse Form der Allgemeinheit oberhalb der privaten Einzelwillen soll im Volkssouverän begründet sein. Doch gerade diesen Volkssouverän gibt es nicht, er lässt sich nicht begründen, sondern wird selbst durch den politischen Staat erst geschaffen. Demgegenüber argumentiert Marx aus dem Blickwinkel der Menschheit und mit Vorgriff auf sie. Menschheit wird von ihm ausdrücklich als eine Kategorie jenseits der sozialen Klassen, der Politik und des Staates bestimmt. Das Ziel ist der Verein freier Menschen. Marx legt nahe, dass die politische Kategorie des Volkssouveräns hinfällig wird. Dies markiert eine weitreichende Differenz in der Tradition der Linken. Der einen Richtung geht es darum, an Überlegungen von Rousseau anschliessend, den wirklichen und einheitlichen Volkssouverän, das solidarische Volksganze herzustellen, der den Gemeinwillen verkörpert (vgl. Adler 1919, 137f). In der Arbeiterklasse, die dieser Richtung nach die produzierenden, das gesellschaftliche Leben sichernden Funktionen repräsentiert und eine (relative) Mehrheit in der Bevölkerung bildet, könnten in diesem Sinne die Grundlage für einen einheitlichen Volkswillen gesehen werden. Die andere Richtung strebt einen solchen Gemeinwillen nicht mehr an, denn sie sieht in ihm die Grundlage für die Reproduktion von Staat, Politik und Regierung, die doch überwunden werden soll. „Unter der Räteorganisation ist die politische Demokratie verschwunden, da die Politik selbst verschwunden und im gesellschaftlichen Wirtschaftsbetrieb aufgegangen ist." „Räte sind keine Regierung; nicht einmal die zentralen Räte haben regierungsartigen Charakter, denn sie verfügen über kein Organ, den Massen ihren Willen aufzuerlegen." (Pannekoek 1946, 70f). Ganz richtig fragt Pannekoek (ebd., 271), ob für die Räte ‚Demokratie' überhaupt noch die angemessene Bezeichnung ist, da sich das Volk selbst regiert. Dieses Volk aber ist kein politischer Körper mehr, weil der Staat fehlt, der es vereinheitlicht und es regiert. Mit vielgestaltigen Selbstverwaltungskörperschaften von Kommunen und Produktions- oder Vertriebsgemeinschaften entstünde eine Art weitverzweigtes, räumlich grenzenloses und sozial offenes horizontales Netz von Assoziationen, die sich ihrerseits assoziieren, ohne die Gestalt eines Volkes anzunehmen (vgl. Hardt/Negri 2002, 377ff; vgl. Korsch 1920, 225). Jürgen Habermas konnte Hannah Arendt vorwerfen, dass ihrer Konzeption nach die Gesellschaft durch eine regenerierte Bürgerschaft als politische Gesellschaft und Totalität konstituiert würde (Habermas 1992, 360). Das hält er angesichts der funktionalen Differenzierung moderner Gesellschaft für nicht mehr angemessen, die kein Zentrum und keine politische Spitze mehr kennen. Das Rätesystem legt demgegenüber nahe, dass es zu einer solchen Aufspreizung der Politik, die sich als das Ganze der Gesellschaft setzt, nicht mehr käme. Die Räte konstituieren eine völlig neue Art von Komplexität, in der öffentliches und privates, politisches und soziales Handeln zusammenkommen, während sich dieses Handeln dezentriert und dezentralisiert.

Die Analyse von Marx bleibt in einem entscheidenden Punkt blass. Denn er sagt wenig darüber, wie der Staat in die reale Produktion des Gemeinwesens zurückgenommen wird. Der entscheidende Hinweis ist der, dass nun die Volksmassen und vor allem die Arbeiterklasse selbst die Initiative und die Regierungsgeschäfte übernommen haben - insofern ist die Kommune die „endlich entdeckte Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen kann" (Marx 1871a, 342, 347). Damit wird aber die Frage der Demokratie zu einer Frage allein der Klassentheorie: demokratisch sind Verhältnisse dann, wenn die Volksmassen sich selbst regieren. Das ist ein wichtiger Schritt, entspricht jedoch nicht der demokratietheoretischen Forderung, dass alle an der Selbstregierung beteiligt sind. Aber nicht einmal für die Angehörigen der Arbeiterklasse ist die Beteiligung sicher. Denn noch ist mit einer kommunalen Arbeiterregierung nicht die Arbeitsteilung von Ökonomie und Politik überwunden. Es liegt vielmehr nahe, dass die Angehörigen der Arbeiterklasse praktisch in Mehrfachfunktionen aktiv sind. Es sind viele, aber sie machen nun alles: sie produzieren, entscheiden und führen die Entscheidungen aus. Damit kommt auf sie eine erhebliche Arbeitsbelastung zu, die sie auf Dauer nicht hätten aufrecht erhalten können - hätte die Kommune lange genug Gelegenheit gehabt, mit den Formen der Selbstregierung zu experimentieren. Die Konsequenz hätte durchaus die sein können, dass einzelne Personen oder Gruppen zu politischen Experten für die Regierungsgeschäfte in den Selbstverwaltungskörperschaften geworden wären, die im Namen der Volksmassen und der Arbeiterklasse regieren. Selbst eine permanente Kontrolle und Wählbarkeit auf Bürgerversammlungen hätte sich allmählich als zu zeitaufwendig herausgestellt. In der Folge hätte es durchaus wieder zu verselbständigten Formen politischen Entscheidens kommen können, die von allen Beteiligten als Entlastung, als Effizienz-, Effektivitäts- und Rationalitätssteigerung erlebt werden können, die jedoch den Anspruch auf Selbstregierung untergraben. Diese Probleme stellen sich den Vertretern der Rätedemokratie in den Jahrzehnten nach Marx, einige der Antworten vor allem aus dem deutschen Kontext will ich im Folgenden behandeln.


4. Einige Aspekte der Diskussion über Rätedemokratie

In den Rätekonzeptionen nach dem Ersten Weltkrieg wird in ähnlicher Weise wie bei Marx die Arbeiterklasse zur Grundlage staatlicher Macht und Gewalt. Es gibt jedoch eine folgenreiche Differenz. Während Marx die Räte auf der Ebene der Kommune ansiedelt, handelt es sich im Prozess der Revolution in Deutschland zunächst um Arbeiter- und Soldaten-, im Laufe des Jahres 1919 nur noch um Arbeiterräte. Entsprechend heisst es in einem Flugblatt des Vollzugsrat der Groß-Berliner Arbeiter- und Soldatenräte vom 23. November 1918 - bis zum Januar 1919 im formalen Sinn die Regierung des Deutschen Reiches - „Die politische Gewalt liegt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte der deutschen sozialistischen Republik." (Zit. nach Müller 1921). Die Räteorganisation, so Ernst Däumig, „ist praktischer Sozialismus", ein „proletarisch-sozialistisches Kampfgebilde, dazu bestimmt, die kapitalistische Produktion und den auf ihr errichteten Obrigkeitsstaat, selbst wenn er eine republikanische Fassade hat, zu beseitigen, und an ihre Stelle die sozialistische Produktion und ein sich selbst verwaltendes Gemeinwesen zu setzen" (Däumig 1920, 79). Für die Vertreter des Rätegedankens ist diese Verlagerung der das Gemeinwesen konstituierenden Einheit auf die Arbeiterschaft der entscheidende Gesichtspunkt.

„Träger des Rätegedankens kann nur das Proletariat sein, d.h. alle die Hand- und Kopfarbeiter, die gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um leben zu können. Damit steht der Rätegedanke in einem ebenso scharfen wie natürlichen Gegensatz zu dem landläufigen demokratischen Gedanken, der die Staatsbürger als eine einheitliche Masse wertet" (ebd., 80).

Anton Pannekoek (1946, 269f) äussert die Ansicht, dass ein grosser Teil der ArbeiterInnen in Deutschland während der Revolutionsperiode diesen entscheidenden Gesichtspunkt nicht verstand. Denn über Jahrzehnte war die sozialdemokratisch geführte Arbeiterbewegung an dem demokratietheoretischen Ziel der Durchsetzung der demokratischen Republik und des allgemeinen gleichen Wahlrecht orientiert gewesen. Die Macht in den Räten zu monopolisieren, musste aus dieser Sicht als eine Usurpation erscheinen. Demgegenüber, so Pannekoek (ebd., 271), müssten die Arbeiter die „tiefe Überzeugung entwickeln, daß die Räteorganisation eine viel höhere und vollkommenere Form der Rechtsgleichheit ist". Man könne sagen, dass das Rätesystem die höchste Form der Demokratie und jene Form sei, „die zu einer Gesellschaft gehört, die selbst Herrin über ihre Produktion und ihr Leben ist" (vgl. Adler 1919, 144).

Demokratietheoretisch werfen diese Überlegungen aber ein ernstes Problem auf. Denn wie im Fall des Wahlrechts bestimmt werden muss, wer in seinen Genuss kommt, stellt sich nun die Frage, wer ein Arbeiter ist. Diese klassentheoretische Frage gewinnt eine folgenreiche politische Bedeutung. Handelt es sich nur um die manuellen Arbeiter in den grossen Fabriken? Dies würde bedeuten, dass Frauen, Lehrlinge, Migranten mitentscheiden könnten - aber was ist mit Technikern und Angestellten? Durch eine enge Definition besteht die Gefahr, dass grosse Gruppen von Lohnabhängigen und darauf bezogene gewerkschaftliche und sozialistische Strömungen von der demokratischen Teilhabe an der Selbstverwaltung der Wirtschaft ausgeschlossen werden. Schon Marx hatte ein breites Bündnis vor Augen, Ernst Däumig (1920, 87) spricht von einem Bund von Hand- und Kopfarbeitern und zählt zu denen, die mitentscheiden können als die, die ihre Arbeitskraft dem Kapital verkaufen: Ingenieure, Techniker, Buchhalter, Wissenschaftler (vgl. auch Korsch 1919). Ähnliche Beschäftigtengruppen hat Max Adler vor Augen, wenn er von der Notwendigkeit spricht, alle „ökonomisch entscheidenden Schichten" einzubeziehen. Däumig wie Adler ist bewusst, dass es darum geht, die Bildung einer mächtigen Minderheit zu verhindern, die, um den eigenen Willen durchzusetzen, zu Mitteln des Terrors eines Teils der Klasse der Unterdrückten gegen einen anderen Teil, einer sozialistischen Strömung gegen eine andere greift. Die Bestimmungen müssen so beschaffen sein, dass es sich wirklich um die Mehrheit derer handelt, die die gesellschaftliche Arbeit leisten und der Minderheit der bürgerlichen Klasse gegenüberstehen. Darüber hinaus darf auch nicht unterstellt werden, dass die Definition der Klasse, die entscheidungsberechtigt ist, ein für allemal festgelegt ist. Denn das Ziel der Räte ist der Umbau der Produktion und der Gesellschaft, so dass alle einen Anteil an der gesellschaftlichen Arbeit übernehmen können. „Einmal die Arbeit emanzipiert, so wird jeder Mensch ein Arbeiter, und produktive Arbeit hört auf, eine Klasseneigenschaft zu sein." (Marx 1871a, 342). In dem Maße, wie dies der Fall ist, müssen sich die bislang ausgeschlossenen Individuen an den Entscheidungen beteiligen können (Pannekoek 1946, 272). Doch führt dies zu einem Problem, dass die Bestimmung von Technikern, Ingenieuren, Managern als Arbeiter, die verhindern soll, dass sie aus den Entscheidungsprozessen ausgeschlossen werden, ihrerseits dazu beitragen kann, fortbestehende Klassendifferenzen zu verbergen. Mit ihrem Wissens- und Kompetenzmonopol können sich diese Kategorien den Produktionsprozess unterwerfen und derart gestalten, dass er ihrem Interesse entspricht. Deswegen forderten Gramsci und Korsch, dass im weiteren Prozess auch die „bisherige bürgerliche ‚Arbeitsteilung' zwischen körperlicher und geistiger Produktion" überwunden werden müsse (Korsch 1919b, 173).

Sehr eng mit dieser Frage ist ein weiteres Problem verbunden, das sich mit dem Institut des Arbeiter- und Soldatenrats und der Forderung ‚Alle Macht den Räten' verbindet. Insbesondere Max Adler warf die Frage auf, ob tatsächlich Arbeiter als Arbeiter, Soldaten als Soldaten über die Produktion und gesellschaftlichen Belange entscheiden sollen. Sollten sich - wie es Hannah Arendt vertrat - in allen gesellschaftlichen Bereichen und in jedem Berufszweig Räte bilden: Räte der Bauarbeiter, der Architekten, der Studenten, der Uniformschneider, der Beamten und Bauern, dann bestünde die Gefahr, dass das System der Arbeiterräte sich aus einem „Instrument zum Sturze der kapitalistischen Gesellschaft in ein Institut der Interessenvertretung in dieser Gesellschaft" verwandelte (Adler 1919, 153). Mehr noch, es sei zu befürchten, dass sich kleinliche berufliche und ständische Interessen bildeten oder stabilisierten. Die Räte dürften also nicht als „dauerndes Gestaltungsprinzip" missverstanden werden, da auf diese Weise auch der Klassencharakter des Proletariats festgeschrieben und verstetigt würde. Dadurch käme es lediglich zu einem Umkehrung der Machtpositionen ohne eine Veränderung der Verhältnisse selbst: wären die Arbeiter früher die Bedrückten gewesen, so würden sie sich im Rahmen der Rätedemokratie als Herren fühlen (ebd., 149). Diese Sorge vor den reaktionären Möglichkeiten, die in den Rätekonzeptionen enthalten sein können, ist für alle hier genannten Rätetheoretiker der tiefere Grund, sie nur als vorübergehende Kampfform zu begreifen, nicht, wie Arendt vermutet, ihre Geringschätzung. Entsprechend vertritt Adler die Ansicht, dass die Räte nicht als Arbeiter zusammenträten, sondern als Sozialisten; er empfiehlt, dass bei Arbeiterratswahlen nur diejenigen wählbar sein sollten, die sich ausdrücklich auf das Ziel der Überwindung der Klassenspaltung, also das Ziel des Sozialismus, verpflichteten, während berufliche und gegenwartsinteressierte Standpunkte an die zweite Stelle zurück gestellt werden müssten (ebd., 155f).
Würden die Arbeiterräte nur als Arbeiterräte handeln, bestünde auch die Gefahr, dass sie Interessen besonderer Betriebe verträten. Doch in einer emanzipatorischen Perspektive sollen sich die Räte nicht verfestigen. Die einzelnen Betriebe sollen dem Gesamtzusammenhang untergeordnet werden, so dass es zu einer gesellschaftlichen Gesamtplanung kommen kann. Dafür wurde von den Vertretern der Rätebewegung eine entsprechende Gliederung der Willensbildung und Entscheidungsfindung von unten nach oben vorgeschlagen. Die Arbeiter- und Soldatenräte bilden die Einheiten politischen Entscheidens und Handelns. Wie im Fall der kommunalen Räte sind auch diese Räte demokratisch gewählt, sie sind verantwortlich und jederzeit abrufbar. Die Arbeiterräte bilden legislative und exekutive Körperschaften. Direkt gewählt werden die Delegierten auf der untersten Ebene: Arbeiter und Angestellte wählen die Betriebsräte; diese kontrollieren und organisieren gemeinsam mit den Betriebsleitern die Angelegenheiten des Unternehmens. Selbständige und andere Berufsgruppen, die nicht in Betrieben erfasst werden können, wählen bezirksweise einen gemeinschaftlichen Berufsrat. Aus den Betriebs- und Berufsräten werden die Kontrollorgane für das Produktionsgebiet gewählt, die Bezirksgruppenräte, die auch die Betriebsleiter einsetzen. Ein Bezirksgruppenrat vertritt jeweils die Betriebe einer Branche auf der Ebene des Wirtschaftsbezirks. Richard Müller - der Vorsitzende des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlin und neben Ernst Däumig einer der theoretischen Köpfe der rätedemokratischen Bewegung (vgl. Bermbach 1973, 10; Hoffrogge 2008 und in diesem Heft) - nennt 14 Branchen, unter anderen: Landwirtschaft, Bergbau, Metall-, Chemische, Textilindustrie, Banken und Handel, Staats- und Kommunalbeamte und Arbeiter, Freie Berufe (vgl. Müller 1921)1. Die Bezirksgruppenräte bilden ihrerseits ein eigenes Planungs- und Entscheidungsgremium, den Bezirkswirtschaftsrat, und entsenden Delegierte in die Reichsgruppenräte, in denen jeweils eine Branche auf nationaler Ebene organisiert ist. Die Reichsgruppenräte ihrerseits sind noch einmal im Reichswirtschaftsrat zusammengefasst. In Müllers Überlegungen treten politische oder gar demokratiepolitische Überlegungen völlig in den Hintergrund. Er betont vor allem die Notwendigkeit, die Produktion aufrecht zu erhalten und ihre Organisation am Allgemeinwohl zu orientieren. Damit unterstellt er als selbstverständlich, was im rätedemokratischen Prozess eigentlich erst hergestellt werden soll, nämlich eine demokratisch bewusst vollzogene Abstimmung zwischen den Arbeiten der einzelnen Produktions- und Verteilungsstätten und dem gesellschaftlichen Bedarf. Dies bedeutet, dass mindestens drei Aspekte der Demokratisierung Berücksichtigung finden müssen, die in Müllers Modell keine Erwähnung finden.
1) Der erste Aspekt betrifft die unmittelbaren Mitsprache- und Mitentscheidungsrechte der einzelnen Arbeiter und Arbeiterinnen unter Bedingungen der Rätedemokratie. Um eine solche Mitsprache zu ermöglichen, muss die Herrschaft und Kontrolle der Kapitaleigner auf betrieblicher Ebene in drei Hinsichten überwunden werden: a) Kontrolle über die Produkte, die Erträge der Produktion und ihre weitere Verwendung; b) die Herrschaft über den Produktionsprozess (Produktionsmittel, Arbeitsabläufe, Tempo, Hierarchien); c) die Festsetzung der Bedingungen, unter denen die menschliche Arbeitskraft eingesetzt wird (Löhne, Hygiene, Arbeitsschutz) (vgl. Korsch 1919, 92). Mit der Rätedemokratie verbindet sich das Ziel, diese drei Formen von Herrschaft auf betrieblicher und Unternehmensebene zu überwinden, so dass die unmittelbaren Produzenten darüber entscheiden können, was und wie viel produziert wird, mit welchen Produktionsmitteln auf welche Weise und unter welchen Bedingungen für die Arbeitenden produziert wird. Deswegen muss es auf dieser Ebene zu Formen der demokratischen Beteiligung durch die unmittelbaren Produzenten kommen. Erstaunlicherweise findet sich dazu in der rätedemokratischen Diskussion wenig. Müller zufolge besteht die Beteiligung in der Wahl von Delegierten, die ihrerseits in Bezirksräten auf die Produktion und die Wahl der Betriebsleiter Einfluss nehmen; von einer weitergehenden direkten Entscheidungsbeteiligung auf betrieblicher Ebene ist nicht die Rede. Pannekoek zufolge ist die leitende Körperschaft des Betriebs die Gesamtheit der miteinander und zusammen wirkenden Arbeiter. „Sie treten zur Beratung ihrer Angelegenheiten zusammen und treffen ihre Entscheidungen in Versammlungen. Auf diese Weise nimmt jeder, der sich an der Arbeit beteiligt, auch an der Regelung der gemeinschaftlichen Arbeit teil." (Pannekoek 1946, 40). Wenn die Zahl der Arbeiter sehr gross ist, kommt es zur Bildung von Versammlungen auf Abteilungsebene und Versammlung zentraler Delegiertenkomitees. Die Delegierten nehmen als einfache Mitglieder an den Diskussionen der Abteilungen teil und stellen die Verbindung zwischen diesen und den Komitees her. Aus Pannekoeks Sicht gibt es keine Leiter, besondere Fragen werden einzelnen Personen zur Durchführung in voller Verantwortung übertragen. Korsch gibt den Hinweis, dass während der Arbeit die Masse der Arbeitenden dem allein entscheidenden Leiter des Produktionsprozesses „in willenloser Abhängigkeit unterworfen sein" soll; jedoch soll sie jederzeit darüber entscheiden können, wer dieser Leiter ist und wie lange er in der leitenden Stellung bleibt (Korsch 1919c, 179).

2) Die Absprache zwischen den einzelnen Betrieben auf Branchen-, Bezirks- und nationaler Ebene soll die blinde Koordination durch den Markt und die Entscheidungen des Kapitaleigners ersetzen. Einerseits soll der gesellschaftliche Bedarf mittels bewusster Planung und Verwaltung befriedigt und andererseits sollen Betriebsegoismen verhindert werden. „Boden und Anlagen sind auch im Falle der direkten Sozialisierung den arbeitenden Produktionsteilnehmern des einzelnen Betriebes (Produktionszweigs) nur geliehen, sie gehören als gemeinwirtschaftliche Grundlage der gesamten Produktion und Konsumtion nicht einer einzelnen Gruppe von Arbeitern, sondern der alle Sondergruppen vereinenden Gemeinschaft." (Korsch 1919, 90). Die Fabriken „sollen als getrennte Glieder eines Körpers zu einem gut organisierten Produktionssystem zusammengefaßt werden" (Pannekoek 1946, 33). Es bedarf der Buchführung, der Statistiken, der Rechnungsbüros. Doch wichtiger ist, dass die Betriebe an den Entscheidungen der übergeordneten Instanzen beteiligt sind und sind nicht einfach nur in Form von Kennziffern entgegennehmen. Die Aufmerksamkeit, das Wissen der Individuen, die Kommunikation zwischen ihnen, die Absprache zwischen den Betrieben trägt zur Herstellung des gemeinwirtschaftlichen Zusammenhangs und seiner Regulierung bei (ebd., 37, 67).

3) Auch wenn die unmittelbaren Produzenten die Produktionsprozesse derart aufeinander abstimmen, dass sie sich zu einem gesellschaftlichen Gesamtarbeiter zusammenschliessen, kann es noch zu einem grundlegenden Widerspruch zu den Konsumenten kommen: die Produzenten wollen vielleicht den Umfang ihrer Arbeitsleistung einschränken oder einen geringeren Anteil der Erträge ihrer Arbeit an das Gemeinwesen abführen. Korsch nimmt an, dass erst mit dem Wegfall der Kapitaleigner, die zwischen Lohnabhängigen und Konsumenten vermittelt haben, dieser Interessenkonflikt mit den Konsumenten Gegenstand ausdrücklicher gesellschaftlicher Koordination wird (Korsch 1919, 94). Obwohl er dieses Problem anspricht, finden sich bei ihm keine weiteren Vorschläge zu einer solchen Koordination von unten. Erst bei Michael Albert wird die Idee der Rätedemokratie auch auf den Bereich des Konsums und der Absprache zwischen Produktion und Konsumtion erweitert (Albert 2006; vgl. Demirovic 2007).

Mit der Rätedemokratie wird der gesellschaftliche Gesamtarbeiter als der Bereich des Gemeinwesens konstituiert, wo die alle betreffenden Entscheidungen unter Beteiligung aller getroffen werden. Auf diese Weise soll die Sphäre der Politik in die Gesellschaft zurückgenommen und der Kampf um Machtanteile überflüssig gemacht werden. Es entstehen neue Gegensätze zwischen den Produzierenden und den Konsumierenden. Es gibt allerdings einen weiteren Gegensatz, der angesprochen wird, der jedoch nicht Gegenstand demokratietheoretischer Überlegung ist. Es handelt sich um Gegensätze innerhalb der Klasse der unmittelbaren Produzenten selbst. Hannah Arendt äussert die Ansicht, dass es in den Räten keine Streitigkeiten zwischen Parteien und ihren Fraktionen gibt. Das sehen auch Vertreter der Rätebewegung so.

„Da der Rätegedanke die Befreiung des gesamten Proletariats von der kapitalistischen Ausbeutung zum Ziele hat, kann die Räteorganisation nicht die Domäne einer einzelnen Partei oder einzelner Berufsgruppen sein, sondern muß das Proletariat als Ganzes umfassen." (Däumig 1973, 81).

Dies sah auch Max Adler so:

„Der Arbeiterrat umfaßt die Arbeiter eines ganzen Betriebes ohne Rücksicht auf die Richtung ihrer Parteizugehörigkeit im Sozialismus, das heißt also ebensowohl den Sozialdemokraten wie den Kommunisten etc., und ohne Spaltung in eine gewerkschaftliche und politische Richtung. Damit vollzieht sich nun viel rascher und intensiver als früher die Erweckung des politischen Interesses durch die Schaffung einer Massenteilnahme an der politischen Diskussion. Indem jeder einzelne sich hier mithandelnd findet und seinen Beitrag in den Ergebnissen des Tages gleichsam vor Augen sieht, schlingt sich nun das Band enger zwischen den Massen und den von ihr gewählten, die unter ihrer täglichen, ja stündlichen wirksamen Kontrolle stehen." (Adler 1919, 149, auch 159)

Faktisch kommt es, wie Adler beobachtet, zur Bildung verschiedener Strömungen und Fraktionen, zu vielen Konflikten in den Räten und zur Durchsetzung der Interessen von Parteien. Däumig (1920, 83f) ist der Ansicht, dass dies das Ergebnis eines historischen Zufalls sei, weil die Arbeiterräte nicht aus der proletarischen Revolution hervorgegangen seien, sondern ihr „Entstehen zufälligen Parteikonstellationen verdankten". Unterstellt wird, dass es unter den unmittelbaren Produzenten nur einen Willen gäbe. Soweit dies nicht der Fall ist, wird die Ursache bei den Parteien der Arbeiterbewegung gesucht. Dass aber auch auf betrieblicher Ebene, zwischen den Betrieben, zwischen Produzierenden und Konsumierenden neue Formen der Meinungsverschiedenheiten über alle Aspekte der Produktion entstehen können, wird nicht weiter in Rechnung gestellt. Diese Konflikte sind keine Konflikte zwischen Klassen mehr, sie müssen auch nicht mehr die Form der Politik und der staatlichen Herrschaftsausübung annehmen. Aber sie werfen Fragen nach der Formen der Koordination und der Entscheidung auf, in die alle einbezogen sind.

Wenn die kollektiven Entscheidungen in den Betrieben getroffen werden, wenn an ihnen nur Arbeiter teilnehmen, ist eine Vielzahl von Menschen ausgeschlossen. Das ist bei demjenigen Teil von ihnen beabsichtigt, die bislang über die gesellschaftlichen Produktionsmittel verfügt haben, also eine kleine Minderheit. Doch es gibt die Gruppen der Freiberuflichen, Selbständigen, Kleingewerbetreibenden, Bauern, Arbeitslosen. Es gibt darüber hinaus diejenigen, die Hausarbeit leisten - nach einer verbreiteten Arbeitsteilung die Frauen, es gibt die Rentner, die Pflegebedürftigen, die Kinder und Jugendlichen. Angesichts dieser Gruppen stellte sich den Vertretern der Rätedemokratie die Frage nach einer territorialen Vertretung. Die klassische Form der territorialen Vertretung ist das Parlament. Die Beurteilung seiner Bedeutung blieb kontrovers. Aus der Sicht von Ernst Däumig (1973, 82) handelt es sich um eine klare Alternative, er plädiert für Rätedemokratie, stellt sich dem Problem der Interessenvertretung und demokratischen Lebensverhältnisse in anderen gesellschaftlichen Bereichen als der Wirtschaft jedoch nicht. Rosa Luxemburg argumentiert dafür, dass es sich um eine Scheinalternative handelt. Sie plädiert dafür, das Parlament nicht als Ort der politischen Auseinandersetzung zu ignorieren und damit zu einer Selbstmarginalisierung der Linken beizutragen (Luxemburg 1919, 484f). Ihre Argumentation ist taktisch gemeint, aber es ist nicht auszuschliessen, dass sie das Problem sieht, wie eine breite öffentliche, die ganze Gesellschaft ergreifende Diskussion über die Wirtschaft hinaus gewährleistet werden kann. Max Adler, der die Mitgliedschaft in den Arbeiterräten nicht nur an den Status des unmittelbaren Produzenten, sondern auch an ein Bekenntnis zum Sozialismus bindet, will eine Ausschliessung aller anderen vom Gemeinwesen dadurch vermeiden, dass er für die Fortexistenz der Nationalversammlung plädiert. Für Richard Müller ist der Reichs-Wirtschaftsrat, „der alles zur Sicherung und Aufrechterhaltung des gesamten Wirtschaftslebens Erforderliche" veranlasst, mit seinen Kompetenzen der Nationalversammlung nebengeordnet. Beide Körperschaften müssen die von ihnen beschlossenen Gesetze und Verordnungen jeweils der anderen unterbreiten (Müller 1919, 90). Das damit aufgeworfene Problem, dass es zu einer Art doppelter Souveränität, im Bereich der Wirtschaft mit den funktional bestimmten Räten, in der Politik mit den territorial verankerten Parteien, und damit zu komplizierten Macht- und Herrschaftsbeziehungen kommen kann, wird von ihm ebensowenig wie von Adler weiter erörtert. Im demokratietheoretischen Rückblick stellt sich der Eindruck ein, dass die Frage ‚Räte oder Parlament' ein Ergebnis der besonderen politischen Konstellation ist. Marx hatte die Räte der Kommune als territoriale Vertretungs- und Ausführungsorgane gefasst. Demgegenüber werden die Räte von den späteren Rätetheorien als Vertretungsorgane der Betriebe bestimmt. Damit lässt sich auf das Problem der betrieblichen Selbstverwaltung durch die unmittelbaren Produzenten in den Blick nehmen. Das bei Marx unklar bleibende Problem der Zeit, die für Beteiligung und Koordination aufgebracht werden muss, kann hier unmittelbar im betrieblichen und zwischenbetrieblichen Alltag gelöst werden. Doch ist damit von vornherein ein Unterschied zwischen den Betrieben und ihrem gesellschaftlichen Umfeld in der Kommune oder der Region gesetzt, so dass sich dann auch das Problem stellt, wie die Menschen, die dort leben, an den Entscheidungen beteiligt sind. Das bleibt nicht ohne Folgen. Denn auf der Entscheidungsebene der Kommune rücken sofort weitere Fragen in den Blick: öffentliche Sicherheit, Verkehr, Müllentsorgung, medizinische Betreuung, Bildung oder Kultur, denen Marx auch entsprechende Aufmerksamkeit widmet. Dies lässt sich nicht alles im Rahmen von Räten bearbeiten, die im wesentlichen für wirtschaftliche Fragen der Produktion, der Verteilung und des Konsums zuständig sind. In allen diesen Bereichen könnten und sollten Prozesse der Demokratisierung und der demokratischen Selbstverwaltung organisiert werden, so dass sich die Gesellschaft insgesamt demokratisiert und die Räte in der Produktion und Verteilung breite gesellschaftliche Unterstützung finden. Doch in den rätedemokratischen Texten finden jene gesellschaftlichen Bereiche und ihre Demokratisierung kaum Erwähnung. Der Begriff des Arbeiterrats hat seine eigene Dynamik und führt zu einem unübersehbaren Ökonomismus:

„Die Räteorganisation ist eine wirkliche Demokratie, die Demokratie der Arbeit, die das arbeitende Volk zum Herrn und Meister seiner Arbeit macht. Unter der Räteorganisation ist die politische Demokratie verschwunden, da die Politik selbst verschwunden und im gesellschaftlichen Wirtschaftsbetrieb aufgegangen ist." (Pannekoek 1946, 70; Herv. AD)

Es ist, wenn die politische Demokratie - im Sinne von Marx - überflüssig werden soll, äusserst fragwürdig anzunehmen, dass vom gesellschaftlichen Leben nur noch der Wirtschaftsbetrieb übrig bleibt. Denn mit der Rücknahme der allgemeingesellschaftlichen Gesichtspunkte vom Staat in die Gesellschaft selbst kann auch die Wirtschaft nicht mehr Wirtschaft bleiben, sondern wird zum realen Gemeinwesen, in dem die Menschen ihr gemeinsames Leben produzieren, organisieren und verwalten.


5. Schlussbemerkung

In seiner Studie über die Arbeiterräte, die sein eigenes langjähriges Engagement in der Rätebewegung resümiert, hält Pannekoek fest, dass es „diese neue Arbeitsorganisation zu erforschen und uns und anderen klar zu machen" gilt. Die neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in dem die Menschen über ihre Verhältnisse selbst bestimmen und deren spontan wirkende Gesetzmässigkeiten sie gemeinsam in aller Freiheit einrichten, könne „nicht als Phantasiegebilde ersonnen werden. ... Sie kann natürlich auch nicht in Einzelheiten aufgezeigt und geschildert werden; die künftigen Bedingungen, die ihre genauen Formen bestimmen werden, sind uns unbekannt." (Pannekoek 1946, 39). Er war zuversichtlich, dass eine solche neue Form die Rätedemokratie sein wird. Die Zukunft ist jedoch so unbestimmt, dass nicht einmal das sicher ist; aber vielleicht gibt es jene Gesetzmässigkeit, von deren Existenz sowohl Hannah Arendt als auch Marx und die vielen anderen überzeugt waren, dass in den grossen Umwälzungen der Gesellschaft sich Räte bilden. Nicht nur deswegen ist es sinnvoll, über die Konzepte der Rätedemokratie als eine Alternative zur kapitalistischen Vergesellschaftung weiter nachzudenken. Die rätedemokratischen Versuche hatten zu keinem historischen Zeitpunkt die Möglichkeit, das ihnen innewohnende Emanzipationspotential zu beweisen. Im Namen von Demokratie oder Sozialismus wurden sie mit Gewalt niedergeschlagen und ihre Vertreter verfolgt. Die Kritik an ihnen darf nicht solchen Niederlagen noch nachträglich zuarbeiten und der Repression die Rechtfertigung geben. Ebensowenig aber dürfen sie deswegen mystifiziert werden. Die Kritik ist rettend gemeint, nichtsdestoweniger Kritik. Sie mündet darin, dass die Rätebewegung die Diskussion bis zu einer Schwelle getragen hat, an der sie mit erheblichen Problemen bei der weiteren Durchführung konfrontiert worden wäre. Die Vertreter der Rätedemokratie sahen in den Räten die Ermöglichungsbedingung einer von den Arbeitenden verwalteten und koordinierten Produktion. Auf diese Weise sollte staatliche Herrschaft ebenso wie das Kommando über das lebendige Arbeitsvermögen und seine Ausbeutung durch die Kapitaleigner abgebaut werden. Die einzelnen Fertigungs- und Distributionsstellen verstehen sich als Momente des gesellschaftlichen Gesamtarbeiters. Damit aber stellt sich das Problem der Koordination zwischen den einzelnen Einheiten des Gesamtarbeiters. Die Vermittlung zwischen ihnen soll nicht mehr über den Markt oder über den Staat geleistet werden - die Koordination ist eine Leistung, die von allen selbst geleistet werden muss. Erstaunlicherweise wird ausser einem Modell der Räteinstitutionen - das sich von späteren Vorschlägen zu einer Wirtschaftsdemokratie kaum unterscheidet - wenig über diese Art der Koordination angeboten; und dieses Modell, das vom Vollzugsrat der Berliner Arbeiter- und Soldatenräte vertreten wird, bleibt formal. Es behandelt nicht die Frage der Selbstverwaltung der Arbeitenden, sie haben nur ein Recht auf die indirekte Wahl derjenigen, die die Betriebe lenken und kontrollieren. Doch die Probleme sind hier nicht geringer als in der parlamentarischen Demokratie: auf Dauer besteht die Gefahr, dass bestimmte Gruppen der Arbeiterschaft, die gewählten Betriebsleiter, Techniker oder Ingenieure sich allmählich unternehmerische Macht aneignen. Wie wird verhindert, dass erneut eine „hierarchische Investitur" (Marx 1871, 340) entsteht? Die Interessen der einzelnen Betriebe müssen mit den Interessen vieler anderer Betriebe vereinbart werden. Wird für dieses Problem keine demokratische Antwort gefunden, kann es zu Machtbildung und Konflikt zwischen verschiedenen Betrieben, Branchen und Sektoren kommen, die um Rohstoffe, Art und Menge der Produkte oder Arbeitsbelastung streiten. Auf Dauer könnten sich erneut die wenig kontrollierbaren Mechanismen der Koordination durch den Markt, durch staatlich-bürokratische oder Expertenherrschaft einstellen. Ein zweiter kritischer Gesichtspunkt ist, dass das Problem der Koordination zwischen Produzierenden und Konsumierenden kaum erörtert wird. Korsch entfaltet das Problem und weist auf die gegensätzlichen Interessen hin, eine Antwort auf die daraus entstehende Frage der Koordination gibt er nicht. Drittens schliesslich besteht ein Problem in der Berufs- und Arbeitszentriertheit und im Ökonomismus vieler Ansätze. Max Adler weist auf die gefährlichen, nämlich ständischen Folgen hin, die sich daraus ergeben können. Aber ausser knappen Hinweisen setzt auch er sich nicht mit den Bereichen der Kinderbetreuung, der Erziehung, des Haushalts, der Pflege auseinander. Wenn Markt und Staat wegfallen, dann fallen damit paternalistische Mechanismen weg, die bislang die Koordination übernommen haben - im wesentlichen von mächtigen partikularen Gruppen zugunsten ihrer partikularen Interessen organisiert. Damit fällt den Individuen nun die Aufgabe zu, selbst ohne Bevormundung durch andere mit voller Verantwortung die gemeinsamen Probleme zu lösen. Das kostet viel individuelle Lebenszeit. Die Individuen würden zwar auch viel Zeit gewinnen, und ihr Engagement für die Koordination, für das gemeinsame Leben würde zu einem Bestandteil des Begriffs der „Arbeit", der sich insofern selbst veränderte. Doch zur freien Entwicklung eines jeden Individuums gehören auch die positiv verstandene Möglichkeit des Rückzugs vom Gemeinwesen und ein Recht auf Faulheit. Wie kann sich das Gemeinwesen selbst begrenzen und von den einzelnen nicht immer weiter zu fordern, immer noch mehr zu produzieren, immer noch mehr Konsum zu befriedigen, sich immer noch mehr zu engagieren?


Literatur

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Endnoten

1) Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Ralf Hoffrogge.

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Dieser Text erschien zuerst in PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 155, 39. Jg., 2009, Nr. 2