Das System Berlusconi

Il Furbo ("Der Schlaukopf")

„In Italien verschlechtert sich das politische und soziale Klima von Tag zu Tag. Die fortgesetzten Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz und die rassistische Welle, die von den Medien und der reaktionären Politik der Regierung Berlusconi genährt wird, sind die klassischen Symptome für das autoritäre Abdriften des gesamten politischen und sozialen Systems unseres Landes", schreibt mir ein italienischer Freund aus Mazzano Romano, einem Dorf im Norden Roms, das ich seit vielen Jahren besuche.

 

Wenige Wochen später sitzen wir gemeinsam auf dem Dorfplatz vor der Bar. Einen Augenblick lang wackelt die Erde unter unseren Füßen. Es sind die Nachbeben des schweren Erdbebens, das einen Tag zuvor die Abruzzen heimgesucht hat. Eine Welle der Hilfsbereitschaft ergreift das ganze Land. „Jetzt müssen wir zusammen stehen über alle politischen Gräben hinweg", lautet von links bis rechts die allgemeine Devise. Fast alle Führer der politischen Parteien drängen sich zwischen Trümmern und improvisierten Zeltstädten vor die Kameras, um ihre Anteilnahme loszuwerden. Berlusconi auf allen Kanälen. In der Hauptnachrich­tensendung der staatlichen RAI erzählt ihm eine alte Frau unter Tränen vom Verlust ihres Gebisses, wenige Stunden später überreicht ihr der Premier vor laufenden Kameras ein neues. Und aus Agenturberichten erfahren wir, dass er zwei  alten Damen ein schwarzes Kostüm versprochen hat. Die Umfragewerte seiner neu gegründeten „Partei der Freiheit" steigen um weitere 10 Prozentpunkte an.  Die Rolle des Nestbeschmutzers fällt wieder einmal dem Journalisten und Moderator Miche­le Santoro und seiner Mannschaft zu. Sie stören das große nationale Melodram und fragen in ihrer populären Fernsehsendung nach den Hintergründen für die große Anzahl der Opfer und das Ausmaß der Zerstörungen. Die Ursachen sind längst bekannt und in der Presse veröffentlicht worden: die Verspätung der Ersten Hilfe, die fehlenden Einsatzpläne für die Evakuierung von Krankenhäu­sern und öffentlichen Einrichtungen, die illegale Bauweise zahlreicher Häuser, Schulen und öffentlicher Gebäude. Nur 8,5 Prozent der Schulgebäude in den Abruzzen haben eine statische Abnahme durch die Baubehörden, und nur ein Viertel verfügt über ausreichende Brandschutzvorrichtungen. „In der Türkei werden die Normen der Erdbebenvorsorge besser eingehalten als in Italien", sagt ein Erdbebenwissenschaftler aus Aquila, der sich während des Erdbebens zufälligerweise in der Türkei aufhielt. „Es kommt einem wie der Kongo vor, tatsächlich aber ist man in Italien", schreibt Paolo Rumiz. Im malerischen Tal unterhalb des Borgo, des mittelalterlichen Teils von Mazzano, stinkt es. Die Fäkalien und Abwässer werden nach wie vor ungefiltert in das Flüsschen im Tal geleitet, das pikanterweise vor 20 Jahren unter Naturschutz gestellt wurde. Das stört die alteingesessenen Dorfbewoh­nerInnen wenig. Sie wohnen in­zwischen weit genug weg im oberen, neuen Teil des Ortes. Die bereits zur Verfügung gestellten, teilweise aus EU-För­dermitteln stammenden Gelder für den seit Jahrzehnten diskutierten Bau der Kläranlage sind irgendwo versickert. Ich brauche nur durch die nahe Umgebung des Ortes zu fahren, um zu verstehen, wie das System Berlusconi funktioniert. Überall verstreut und ohne erkennbaren Bebauungsplan stehen Villen und Einfamilienhäuser. Die meisten sind ohne Baugenehmigung errichtet worden. Die Gemeindeverwaltung ist im Nachhinein gezwungen, Straßen zu bauen und die Häuser an die öffentlichen Ver­sor­gungsnetze anzuschließen. Eine eher symbolische Geldstrafe schützt die HausbesitzerIn­nen vor weiterer gerichtlicher Verfolgung. Alle machen mit, alle drücken ein Auge zu, wenn es den eigenen Interessen nützt. Alle wollen so „furbo", so clever und verschlagen wie Silvio Berlusconi sein, der den Staat verhöhnt und der öffentlichen Ordnung ein Schnippchen nach dem anderen schlägt. Es sind bestimmt schon 100 Bü­cher über die Frage geschrieben worden, warum es seit dem Untergang der bis dahin staatstragenden Parteien 1992 in der größten Schmiergeldaffäre Italiens seit 1945 und der Auflösung der Kommunistischen Par­tei Italiens 1991 nach dem Zusammenbruch des Ostblocks nur Berlusconi gelingt, die Mehrheit der ItalienerInnen für sich einzunehmen. Sein neuestes Vorhaben zur Bewältigung der Wirtschaftskrise erklärt diesen durchschlagenden Erfolg: Per Dekret erlaubt er den privaten HausbesitzerIn­nen, ihr Wohneigentum ohne jede behördliche Baubewilli­gung um bis zu 20 Prozent zu erweitern. Wenn nur jeder zehnte Hausbesitzer davon Gebrauch macht, wird das ein In­vestitionsvolumen von ca. 60 Milliarden Euro auslösen. Die geplante Deregulierung bedeutet die Legalisierung des illegalen Bauens. „Das wird eine Rückkehr zur wilden Bauspe­kulation der sechziger Jahre zur Folge haben und auch noch den letzten Rest unseres schönen Landes mit einer Zementlawine zudecken", befürchtet der umweltpolitische Sprecher der Demokratischen Partei.

Gegenüber dem strahlenden Ber­­lusconi gibt die politische Oppo­sition ein erbärmliches Bild ab.

Man muss inzwischen bezweifeln, ob die historische Linke Italiens tatsächlich noch in der Lage ist, auf die politische und soziale Krise angemessen reagieren zu können, weil sie angeblich „über mehr Bewusstsein, ein bildungsgeschultes Denken und ein größeres Training der Reflektion verfügt", wie man bei Aldo Schiavone in seinem neuen Buch „Italia contesa" (Italien im Wettstreit) nachlesen kann. Bei den Wahlen im Frühjahr 2008 standen sich Berlusconis Wahlbündnis „Volk der Freiheit" und die „Demokratische Partei" gegenüber, das vorläufige Endprodukt einer jahrzehntelangen Häutung der Kommunistischen Partei über eine sozialdemokratische Variante hin zu einer Zentrumspartei, einem Konglomerat aus ehemals kommunistischen Parteikadern und ÜberläuferInnen aus dem sozialen Flügel der aufgelösten christdemokratischen Partei, die fast fünf Jahrzehnte lang die italienische Politik bestimmte. Dieser Prozess des Wandels ging einher mit der systematischen Entfremdung der Nomenklatura von ihrer Wählerklientel. Sie wählte ganz nach dem Vorbild von Berlusconi Walter Veltroni zu ihrem Führer und setzte auf dessen Charisma, an­statt, wie früher, den direkten Kontakt zu den BürgerInnen zu pflegen. Dieses Konzept ist grandios gescheitert. Die Fabrikarbei­terInnen des Nordens, früher die StammwählerInnen der Kommunistischen Partei, sind inzwischen zur Lega Nord abgewandert, die sie mit billigen Steuerversprechen und der Angst vor der Überfremdung durch dunkelhäutige Auslän­derInnen, die ihnen angeblich die Arbeitsplätze streitig machen, geködert hat. Schuld daran ist auch die „Realpolitik" (im Italienischen direkt aus der deutschen Sprache übernommen) der linken Parteien, ihre Politik der Kompromisse, des Verzichts auf eine linke Sozialpolitik und ihre lasche Haltung gegenüber einem politischen Gegner, der die italienische Verfassung mit Füßen tritt. Bereits 1993 wünschte sich Sil­vio Berlusconi den Neofaschisten Gianfranco Fini zum Bürgermeister von Rom, und Achille Occhetto, der letzte Sekretär der Kommunistischen Partei Italiens, schwieg dazu, obwohl Fini zuvor Mussolinis Marsch auf Rom gefeiert hatte. Damit war der bis dahin gültige Konsens zerstört, dass die ver­fassungsgemäßen Parteien Italiens per definitionem antifaschistisch sind. Jahrzehntelang schien es so, als ob Gramscis Theorie der kulturellen Hegemonie in Italien weitgehend in Erfüllung gegangen war: Auch wenn die konservativen ChristdemokratInnen das Land politisch beherrschten, besetzte die Linke die öffentlichen Plätze und war die Wort­führerin im sozio-kulturellen Diskurs. Als europäischer Linker hielt man sich gern in Italien auf. Darüber haben wir aller­dings vergessen, „dass die Demokratie des Landes auf dem antifaschistischen Widerstand einer Minderheit von Partisanen und auf einer Verfassung gründete, die von einer Handvoll antifaschistischer Intellektueller für ein Land voller Mussolini-Anhänger geschrieben worden war" (Aureliana Sor­rento, FR Nr. 74, 2009). Inzwischen wird Rom von einem Neo-Faschisten mit terroristischer Vergangenheit regiert und Berlusconi hat zum dritten Mal die Wahlen gewonnen. Seine engsten Weggefährten bei dem neuen Marsch auf Rom waren die rassistische und separatistische Regionalpartei Lega Nord sowie die neofaschistische Alleanza Nationale (AN) unter ihrem langjährigen Vorsitzenden Gianfranco Fini. Aus dem Wahlbündnis mit der AN ist inzwischen eine neue „Volkspartei", das „Volk der Freiheit" unter Vorsitz von Berlus­coni entstanden. Damit ist der lang angekündigte Bruch mit der antifaschistischen Genese des Landes endgültig manifest.

 

Die Neubewertung des italienischen Faschismus

Auf ihrem langen Marsch zur kulturellen Hegemonie des Landes ist es der politischen Rechten gelungen, die Geschichte des italienischen Faschismus umzuschreiben. Wie erfolgreich sie damit ist, zeigt sich jetzt in den Schulbüchern, die den Kampf zwischen Faschismus und Antifaschismus neu bewerten. Seit den 1970er Jahren bemühen sich Historiker und Publizisten, Mussolinis „edle Absichten" und die „guten Seiten" des historischen Faschismus herauszustellen. Im so genannten italienischen Historikerstreit, der seit 1975 andauert, versuchte vor allem Renzo de Felice, die „positiven" Werte des Faschismus der antifaschistischen Gründungsgeschichte der italienischen Re­publik gegenüberzustellen, um die Deutungshoheit der Geschichte Italiens nicht länger den antifaschistischen und demokratischen Kräften zu überlassen. Der Faschismus sei eine „vitale" und „aufklärerische" Bewegung gewesen, die eine „Modernisierung" Italiens angestrebt hätte. Vergeblich versucht de Felice zu beweisen, dass die Nazis das faschistische Regime gezwungen hätten, ihre Rassenpolitik zu übernehmen, und bemüht den Vergleich mit Nazideutschland, um den italienischen Faschismus „außerhalb des sengenden Lichtkegels des Holocausts" anzusiedeln. „Die deutschen Revisionisten tendieren dazu, den Ausnahmecharakter des Holocaust zu leugnen, die italienischen unterstreichen seinen Ausnahmecharakter, damit sie sich mit dem Holocaust nicht die Hände schmutzig machen." (Enzo Collotti) Die Neubewertung des historischen Faschismus in Italien im intellektuellen Diskurs war eine zentrale Voraussetzung für die Neuformierung der politischen Rechten nach dem Zusammenbruch der etablierten Ordnung 1992, von der sich viele einen Neuanfang, eine „geistig-moralische" Wende versprochen hatten. Mit den Wahlen im „neuen" Italien nach dem Untergang der „Ersten Republik" kam es 1994 zum ersten Mal an die Macht: das Bündnis der von Silvio Ber­lusconi gegründeten populistischen Fernsehpartei Forza Ita­lia mit der rassistischen Lega Nord und dem neofaschistischen Movimento Sociale Ita­liano (MSI), die noch schnell in Alleanza Nazionale (AN) umbenannt worden war. Das kam einer politischen Zäsur gleich: Bis dahin hatten die Neofa­schistInnen zumindest auf nationaler Ebene als nicht regie­rungsfähig gegolten. Dafür stand auch Giulio Andreotti, „il divo", der Göttliche, der jahrzehntelang die Geschicke Italiens bestimmte und trotz seiner Verstrickungen mit der Mafia in 26 Prozessen 26 mal freigesprochen wurde. Historisch gesehen sind die Mafia und der Faschismus unvereinbar. Zu unterschiedlich sind die Wertvorstellungen und das Verhältnis zum Zentralstaat. Die USA nutzten diesen Widerspruch 1943 bei der Landung der Alliierten auf Sizilien und brachten Mafiosi, die vor dem Faschismus in die USA ge­flüchtet waren, als Kundschafter und Berater mit. Anscheinend ist Berlusconi, der seinen Aufstieg der Mafia verdankt, und seinen Kumpanen ein neuer „historischer Kompromiss" gelungen: ein Zweckbündnis zwischen organisierter Unterwelt und Neo-Faschismus. Vor 500 Jahren wünschte sich der italienische Philosoph Fran­cesco Guicciardini, dass sein Land sich zu einem wohl geordneten republikanischen Gemeinwesen entwickelt. Er meinte aber auch, dass die BürgerInnen immer vom Streben nach ihrem „Besonderen" angetrieben würden. Ihre persönlichen Interessen an Besitz oder Ruhm würden sie vor den Erhalt des Gemeinsamen stellen. Die ItalienerInnen haben sich bei den Wahlen 2008 für den Einzelnen und gegen das Kollektiv entschieden. Die vorherige Mitte-Links-Regierung hatte übersehen, dass die Mehrheit der BürgerInnen des Landes von dem Mangel an Ordnung profitiert. Die Mehrheit der Italiener erkennt sich in Berlusconi wieder, dem großen Aufschneider, so wie sie sich einst in Mussolini erkannten. Über die Mattscheibe flimmern Bilder mit Berlusconi, dem die durch das Erdbeben obdachlos gewordenen Menschen ihr Herz ausschütten. Es ist unnütz, sich über die In­strumentalisierung, den Zynismus und den kalkulierten Gebrauch menschlicher Gefühle aufzuregen. Berlusconi macht das so, weil er so ist. Ob Wählerkalkül oder nicht, Tatsache ist, dass es natürlich erscheint. Es erscheint natürlich, wenn er sich einen Pullover anstelle des Jackets anzieht und sich während der Beerdigung bei den Verwandten der Toten und nicht bei den offiziellen Regierungsvertreternaufhält. Er ist die Apotheose seiner antipolitischen Berufung. Er präsentiert sich als Politiker aus Zufall, der im Besitz der politischen Macht ist, aber außerhalb der politischen Macht aufgewachsen ist, als Premier aus Notwendigkeit, der aus Berufung Unternehmer bleibt, zu dem er sich selbst gemacht hat, und der jedem sagt, dass jeder etwas aus sich machen kann, auch wenn er gerade unter einem Zeltdach lebt.

 

Was kann die am Boden liegende Linke noch machen gegenüber einem Populismus, der so spontan und natürlich wirkt?

Sie sollte über den Populismus nachdenken und ihn nicht einfach nur abtun als ein Surrogat der Politik, das notwendigerweise der Rechten zuzuordnen ist. Die Frage ist, inwieweit eine progressive und revolutionäre politische Strategie auf eine po­puläre Botschaft angewiesen ist, wenn sie erfolgreich sein will. Der argentinische Philosoph Ernesto Laclau hat sich intensiv mit dem Thema „Populismus" beschäftigt. Er vertritt die Ansicht, dass die Grenze zwischen der Rechten und der Linken nicht zwischen Populismus und Antipopulismus verläuft. Der Kampf geht vielmehr um die Hegemonie über die Begriffe, die Botschaften, die Erzählungen, auf die sich die Mobilisierung der Bevölkerung stützen kann. Zum Beispiel die Frage nach der Verantwortung vor der Gesellschaft, wie sie im Falle des Erdbebens bisher nur von Giorgio Napolitano, dem ehemaligen Kommunisten und derzeitigen Präsidenten der Republik, und einigen wenigen wie dem Journalisten Michele Santoro, die sich noch nicht haben gleichschalten lassen, gestellt wurde. „Es scheint so, als ob unser weites kulturelles Erbe sich auflöst und an seine Stelle der konfuse und erbärmliche Ausfluss einer so genannten öffentlichen Meinung tritt, die nach der Pfeife der propagandistischen Medien tanzt", endet der Brief meines Freundes. An einem Spätnachmittag sind wir gemeinsam vor den Toren Roms auf der Via Appia Antica unterwegs. Der Verkehrslärm der ruhelosen Stadt dringt kaum durch den breiten Gürtel aus Wiesen und Waldstücken, der die alte Römerstraße umgibt. Unter unseren Füßen 2.000 Jahre alte, sorgfältig verlegte Steinplatten, Teil des kulturellen Reichtums Italiens. Nach jahrzehntelangen Auseinandersetzungen erreichte eine Gruppe von Architekten und Stadtplanern, dass 1988 der „Parco Regionale dell' Appia Antica" gegründet wurde, der die Umgebung der Via Appia Antica zum öffentlichen Kulturgut erklärt. Das hat sie bis heute vor den Verwüstungen durch die Gier persönlicher Interessen schützen können.

Robert Krieg

Anm. der GWR-Redaktion: Dr. phil. Robert Krieg (* 1949) ist Dokumentarfilmer, Autor, Soziologe und Mitherausgeber von „Lebensunwert? Paul Wulf und Paul Brune. NS-Psychiatrie, Zwangssterilisierung und Widerstand" (Verlag Graswur­zelrevolution 2007). Siehe auch: www.krieg-nolte.de und www.graswurzel.net

Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 340, Monatszeitung für eine gewaltfreie, herrschaftslose Gesellschaft, Sommer 2009, www.graswurzel.net