Drei mögliche Schlussfolgerungen

68 in der DDR

Aus dem Prager Frühling und dem Einmarsch im August waren für einen sozialistischen Oppositionellen drei mögliche Schlussfolgerungen zu ziehen. Lassen wir außen vor, welche Schlüsse die Parteioberen daraus gezogen haben mögen. Die erste Schlussfolgerung war die, man müsse, da die Entwicklung in Prag von der Partei ausgegangen war, selber in die Partei eintreten, um sie von innen heraus zu verändern, und in ihr auf eine der Prager Entwicklung vergleichbare Veränderung hinwirken.

Mein Bruder, der mit mir wegen unseres Protestes gegen den Einmarsch im Gefängnis gesessen hat, hat sie gezogen und mit ihm viele andere. Ich war damals strikt gegen diese Schlussfolgerung, überzeugt dass eher die Partei diejenigen verändern wird, die in sie eintreten, um sie zu verändern. Im Nachhinein weiß auch ich: Es war gut, dass damals so viele kritische Geister zu Genossen der SED wurden, an der sie dann so sehr verzweifelten. Dies hat dazu beigetragen, dass diese Staatspartei, ohne ihre Macht wirklich anzuwenden, 1989 von der Macht gelassen hat.

Die zweite der möglichen Schlussfolgerungen setzte nicht daran an, welche Kräfte die Prager Entwicklung in Gang gesetzt hatten, sondern daran, wer sie so brutal beendet hatte: die sowjetischen Genossen mit ihrer Breschnew-Doktrin. Eine solche Entwicklung wie die in Prag müsse also in Moskau, in der Sowjetunion stattfinden. Im Zentrum des sozialistischen Blocks sollte ein solcherart demokratisierter Sozialismus eine Chance haben, denn sonst kämen immer die imperialen Interessen der Sowjetunion ins Spiel. Ins Spiel käme ihre Furcht im Kalten Krieg, in der Konfrontation mit dem so starken Westen, einen Verbündeten und damit einen vorgeschobenen Posten für die Rote Armee zu verlieren.

Dies war die Schlussfolgerung, die mein Vater gezogen hat. Dies war auch die visionäre Vorwegnahme dessen, was Gorbatschow mit Glasnost und Perestroika wollte. Nur war es da längst zu spät für einen demokratisierten Sozialismus. Zum Glück vielleicht für meinen Vater, hat er diese Enttäuschung nicht mehr erleben müssen.

Die dritte Schlussfolgerung, und das war meine, hieß, dass sich ein Einsatz für einen demokratisierten Sozialismus nicht mehr lohne, und dass es sich schon gar nicht mehr lohne wegen seiner abweichenden Meinung noch einmal ins Gefängnis zu gehen. Dies hätte nicht ausbleiben können oder es wäre, statt des Gefängnisses, die Irrenanstalt gewesen, in die sie einen gesteckt hätten. Mit dem Prager Frühling hatte der Sozialismus seine letzte Chance gehabt. Mit der Niederschlagung dieses Versuchs, den Sozialismus zu demokratisieren, war diese letzte Chance verspielt worden. Dies schloss ich damals - in vielen kleinen Schritten mir darüber klarwerdend - aus dem Prager Jahr 1968.

Mich noch einmal wegen dieses Sozialismus’ zu engagieren, dem ich keine Zukunft mehr gab, das wollte ich nicht. Wegen einem solchen Einsatz noch einmal ins Gefängnis kommen, wollte ich erst recht nicht. Dieser Staat DDR verlangte immer wieder die opportunistische Anpassung. Da ich also immer wieder angeeckt wäre, blieb eigentlich nur die Flucht - nicht die in den Westen, sondern die aus dem Osten weg. Ich war nicht der einzige, der diese Schlussfolgerung gezogen hat, für die es, im Unterschied zu den beiden anderen, keine wirklich rationalen Argumente gab. Die Geschichte hat uns recht gegeben – leider. Mir zumindest wäre doch lieber gewesen, ich hätte mich da geirrt.