Jenseits von Diktat und Zynismus

Thesen der Redaktion zum Verhältnis von Kunst und Politik

1.In seinem Roman „Ästhetik des Widerstands“ lässt Peter Weiss den Arzt Hodann sagen, Kunst sei gleichbedeutend mit Humanität, denn „ohne diese Anteilnahme am Leben, an diesem ständigen Kampf gegen die Selbstaufgabe, ohne diesen Drang, die Situation von immer wieder neuen Gesichtspunkten aus zu erhellen, ließe sich die weittragende Wirkung von Kunst nicht verstehen. Die Antworten der Kunst seien immer ungeheuerlich gewesen, denn als einzige wagten sie es, die Thesen der Zeit zu widerlegen, stets seien sie, auch im Schutz der Verkleidung, ihrer Gegenwart vorausgeeilt und hatten den Zerrbildern die Wahrheit entgegen gestellt.“
Tatsächlich kann Kunst Erkenntnisprozesse und das Infragestellen von eindimensionalen Positionen befördern. In Kunst finden sich zudem Erlebnisse, Gedanken, Sorgen, Freuden und Widersprüche des täglichen Lebens wieder, die auf andere Art nicht oder nur schwer auszudrücken oder vermittelbar sind. Über die Form der Kunst suchen sie sich einen Weg in die Öffentlichkeit.
Sie wirkt außerdem als Seismograf für Veränderungen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind Veröffentlichungen wie der Roman „Die Schule der Arbeitslosen“ von Johannes Zelter, die in besonderer Weise den Wandel der Arbeitswelt wiedergeben und dabei eine Sensibilität erreichen, die man in politischen Debatten vergebens sucht.

2. Kunst kann nicht Sache einer Kaste von KünstlerInnen sein. Die Beschränkung des Künstlerischen auf die ästhetischen Vorstellungen einer bestimmten Klasse oder Schicht kastriert die Inspiration, die von Kunst ausgeht, und verkrustet die Gesellschaft. Fortschrittliche Kräfte kämpfen daher für die ästhetische Uneingrenzbarkeit und soziale Egalität von Kunst. Gerade Subalterne sind darauf verwiesen, sich weder Kunst noch KünstlerInnen von den Kräften der Macht vorschreiben zu lassen. Insofern ist der Kampf um die Kunst auch Teil des Kampfes um die Macht.

3. Die linke Geschichte ist leider reich an Ignoranz gegenüber der Eigenrationalität von Kunst. Insbesondere im realexistierenden Sozialismus wurde nur zu oft auf eindimensionale Lösungen gedrängt, avantgardistische Kunst wurde dabei als pessimistisch und nihilistisch angeklagt. Endpunkt der Kolonisierung der Kunst bildeten Vorgaben für „Grundaufgaben der Entwicklung entwickelter sozialistischer Nationalkultur“ durch W. Ulbricht oder etwa die Festlegung der Kunst auf den „sozialistischen Realismus“ als „verbindliche Methode“ durch den sowjetischen Schriftstellerverband. Dabei wurde der Wert eines künstlerischen Pluralismus, die Kraft des Zweifels bzw. die Radikalität der Moderne nicht erkannt. Daraus folgt heute die Verantwortung, allen Kolonisierungsversuchen eine Absage zu erteilen.

4. Bei aller Verschiedenheit der Eigenrationalitäten, bestehen doch zwischen Politik und Kunst Interdependenzen. Dieses Verhältnis wird treffend von Heiner Müller beschrieben: „Die Zeit der Kunst ist eine andere Zeit als die der Politik. Das berührt sich nur manchmal. Und wenn man Glück hat, entstehen Funken.“ Ein solcher Funkenaustausch ist im Umfeld der globalisierungskritischen Bewegung zu beobachten. Man denke an die Clowns Army, die auf Demos auftaucht und wie Kunst auf das Mittel der Irritation, auf das Durchbrechen gewohnter Wahrnehmungsmuster setzt.
Hinzu kommt: Sozialistische Politik zielt ab auf eine Befreiung des Menschen aus seiner Entfremdung. Viele KünstlerInnen beschreiben eben jene Entfremdung. In dieser Auseinandersetzung mit Entfremdung blitzt eine konstitutive Gemeinsamkeit auf. Die Eigenrationalität der Kunst zu respektieren, bedeutet nicht die Freiheit der Kunst von einer Kritik ihrer Implikationen. Weil Kunst und Politik Interdependenzen bilden, muss sich Kunst die kritische Frage nach ihrem Anteil an der Überwindung der Entfremdung gefallen lassen. Meint: Ist „54, 74, 90, 2006“ von Sportfreunde Stiller Teil einer nationalen Mobilmachung oder nicht? Führte Pawel Kortschagin zur Industrienation UdSSR oder (auch) in den Archipel Gulag?

5. Es braucht ein produktives Verhältnis von Kunst und Politik. Dieses muss allen Kolonisierungsversuchen durch die Politik eine Absage erteilen und trotzdem den Interdependenzen, dem gelegentlichen Funkenaustausch, Rechnung tragen. Damit einher geht die Suche nach einer neuen Ästhetik des Widerstandes jenseits von Diktat und Zynismus. Eine solche Ästhetik muss nicht bei Null anfangen, sondern kann sich inspirieren lassen; zum Beispiel von Peter Weiss’ Roman oder dem Band zur Ausstellung „nicht alles tun“ über zivilen Ungehorsam an den Schnittstellen von Kunst, Politik und Technologie.

6. Gesellschaftliche Aufbrüche gehen Hand in Hand mit kulturellen. Erwähnt sei hier nur die Gleichzeitigkeit einer revolutionären Aufbruchstimmung in der Politik und der Malerei um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Auch um das Jahr 1968 lässt sich eine solche Gleichzeitigkeit im Bereich der Gesellschaftspolitik und der Musik beobachten. Die Neugründung der LINKEN spricht dafür, dass wir uns in einer Phase verdichteter gesellschaftlicher Veränderungen befinden.
Die Frage ist nun, inwieweit diese politischen Verschiebungen einhergehen mit kulturellen Aufbrüchen. Vordergründig scheint der politische Aufbruch ein einspuriger zu sein. Engagierte KünstlerInnen melden sich jedoch längst zu Wort — betrachtet man etwa den neuen Realismus im Film, Aktionskunst gegen Überwachung vor Videokameras oder partizipatives Theater wie die „Dresdner Weber“, wo Erwerbslose mitwirkten.
Auffällig ist, dass es zwischen diesen Akteuren und der neuen LINKEN kaum Berührungspunkte gibt, kein Funkenaustausch stattfindet. Hier wartet auf die LINKE eine Herausforderung. Diese wird alles andere als bequem. Denn: Der Dialog mit der Sphäre der Kunst setzt die Bereitschaft voraus, die Rationalitäten des politischen Alltagsgeschäftes und die eigene kulturelle Praxis in Frage zu stellen. Gut möglich, dass die LINKE sowohl die Schärfe des gesellschaftlichen Widerspruchs als auch die AkteurInnen, die diese Widersprüche künstlerisch sagbar machen, bei der Etablierung von Fraktionsapparaten noch nicht erfasst oder sich bereits an ihnen vorbeietabliert hat. Und doch, sich ihr zu stellen lohnt doppelt. Kunstwerke enthalten Hinweise, deren Wert den Wert von kurzatmigen Umfragen weit übertrifft. Und grundlegende Gesellschaftsveränderung erfordert den Funkenaustausch. Darunter ist es nicht zu machen.