Manu Chao: "Clandestino"

in (06.05.2009)

Die Geschichte hinter dem Song von Yaak Pabst

Gerade einmal 12,9 Kilometer trennen Spanien an der Meerenge von Gibraltar von Nordafrika. Bei guten Wetterbedingungen ist die jeweils andere Küste zu sehen - trotzdem liegen Welten dazwischen. Über jene, die für ein besseres Leben diese kurze Strecke überwinden müssen, schrieb einer der kreativsten Solokünstler der letzten Jahrzehnte ein Lied. Er schuf damit einen charismatischen Soundtrack für eine weltweite globalisierungskritische Bewegung.

Wenn ein Boot untergeht oder gerammt wird, wenn die Leichen an die Strände gespült werden, sind die Unsichtbaren plötzlich sichtbar. Wie jetzt. Sie nennen es die "Tragödie von Tripolis": "Über 300 Flüchtlinge ertrunken". Der Aufbruch in ein vermeintlich besseres Leben endet tödlich. Doch trotz der Toten werden weltweit die Mauern immer höher, die solche Dramen verursachen.

Seit 1988 sind an den EU-Außengrenzen nach Angaben des Europäischen Flüchtlingsrats 13.444 Menschen ums Leben gekommen. Dabei werden nur die registrierten Toten auflisten. Wer das rettende Ufer erreicht, lebt ein Leben ohne Pass, ohne Aufenthaltsgenehmigung und meist mit dem Ausweisungsbefehl in der Tasche. In Frankreich heißen diese Menschen "Sans Papiers", zu Deutsch: ohne Papiere. In Deutschland sprechen die Behörden von »Illegalen«- als seien sie Verbrecher. In Spanien heißen sie »Clandestinos«, weil sie sich im Verborgenen durchschlagen, eben klandestin, heimlich.

Als der Musiker Manu Chao 1998 ein Lied über sie schreibt, ahnt er noch nicht, dass es in den folgenden Jahren bei Demonstrationen und Kundgebungen zum Klassiker des »Volks von Seattle« wird. Es ist eine freundliche Ballade, wehmütig aber nicht rebellisch, nicht verzweifelt. Traurig ja, aber von einer Traurigkeit ohne Klagen: Was wie eine Grenzsituation erscheint, wie eine ständige Flucht, eine andauernde Unsicherheit, eine bedenkliche Lage, ist stattdessen unbestrittene harte Wirklichkeit für Millionen von Menschen. Das Lied "Clandestino" dagegen ist wie eine hübsche Ansichtskarte, ein freundlicher Rhythmus, der eine kleine Geschichte begleitet von einem der da ist, aber nicht da sein darf, den man sieht, aber nicht sehen sollte, der existiert, aber nicht auf dem Papier, nicht in den Dokumenten der Behörden, nicht in den Genehmigungen.



"Pa' una ciudad del norte / Yo me fui a trabajar / Mi vida la dejé / Entre Ceuta y Gibraltar / Soy una raya en el mar / Fantasma en la ciudad / Mi vida va prohibida / Dice la autoridad"
(In eine Stadt im Norden / Bin ich gegangen um zu arbeiten / Mein Leben ist zurückgeblieben / Zwischen Ceuta und Gibraltar / Ich bin ein Strich im Meer / Geist in der Stadt / Mein Leben läuft verboten / Sagen die Behörden).

Der "Clandestino" ist einer der unter hohem Risiko die Grenze zwischen zwei Staaten überwindet, jedoch Mühe hat, die Grenzen der Bürokratie, den Stumpfsinn der Regeln des Kapitalismus zu überwinden und alleine mit seinem Schicksal ist. Die Strophe geht weiter:

"Solo voy con mi pena / Sola va mi condena / Correr es mi destino / Para burlar la ley / Perdido en el corazón / De la grande Babylon / Me dicen el clandestino / Por no llevar papel"
(Allein gehe ich mit meiner Strafe / Allein geht meine Verurteilung / Zu laufen ist mein Schicksal / Um das Gesetz zu täuschen / Verloren im Herzen / Des großen Babylon / Man nennt mich den Gesetzeswidrigen / Dafür dass ich kein Papier habe).

Mit seinem Lied fängt Manu Chao die Tristesse eines solchen Lebens ein. Trotzdem vermittelt der Song Stolz und Würde - darüber die Reise nach »Babylon« geschafft zu haben, darüber am Leben geblieben zu sein, den Behörden und der Polizei Widerstand zu leisten.

"Clandestino" ist der namensgebende Eröffnungssong der ersten Platte von Manu Chao. Sie erscheint Mitte April 1998. "Ich schrieb diesen Song über die Grenze zwischen Europa und denjenigen, die aus ärmeren Ländern kommen. Schau dich um - vielleicht 30 Prozent der Menschen in den Straßen haben keine Papiere. Es ist über zehn Jahre her, dass ich dieses Lied geschrieben habe und die Dinge haben sich verschlechtert. Die Berliner Mauer fiel und wir alle jubelten, aber jetzt werden neue Mauern gebaut: in Palästina, den USA und in der EU." Manu Chao will, dass sich die Dinge ändern. Nicht nur für seine Musik gilt: So vielschichtig der Sound, so eingängig die Melodien. Dieses Prinzip findet seine Fortsetzung auch auf inhaltlicher Ebene: So komplex die Zusammenhänge, so klar die Botschaften. Eine Kunst, die Chao von seinen beiden Vorbildern, The Clash und Bob Marley, gelernt hat.

"Clandestino" ist ein Album, das sich langsam und misstrauisch bewegt, das nicht sofort einschlägt, an das die Plattenfirma Virgin nicht besonders glaubt. Zu beginn des Sommers 2000, zwei Jahre nach ihrem Erscheinen - nach dem die Platte Preise eingeheimst hat, nachdem Interviews veröffentlicht worden sind und sie bei der Kritik einhellige Begeisterung ausgelöst hat - wurden von "Clandestino" weltweit 2,5 Millionen Kopien verkauft, beinahe eine Million in Frankreich, knapp 300.000 in Italien, Hunderttausende in Südamerika, in Deutschland erreichte sie Gold-Statuts.

Manu Chao vereint in seiner Musik vieles. Die Attitüde des Punk, den Charme des Reggae und Ska, der in einen französischen Chanson übergehen könnte und dabei immer kraftvoll und schnell bleibt. Er ist ein militanter Musikbegeisterter, der von einer Platte mehr erwartet als eine Handvoll Songs: Mut, Kampfgeist, Prinzipientreue und Widerstand gegen die Konditionierung durch die Auslese der Musikindustrie. Manu Chao wuchs in Paris auf und lebt heute in Barcelona. Von 1987 bis 1995 war er Mitglied und kreativer Kopf der Band Mano Negra. Nach deren Auflösung startete er seine Solokarriere. Er ist einer der wenigen Musiker, die Stadien füllen und trotzdem politisch geblieben sind. "Jeder sollte ein Aktivist sein", meint er: "Die Welt wird immer schlechter und wir alle müssen uns engagieren, die Dinge besser zu machen." Das politische Engagement ist ein integraler Bestanteil seines Lebens als Musiker. Beim G8-Gipfel in Genua 2001 spielt er vor Zehntausenden. Die Hälfte der Einnahmen kam der "Bar Clandestino" zugute, die während der Proteste Wasser und Sandwichs an die Aktivisten verteilte. In Chile spielte er im Hochsicherheitsgefängnis vor politischen Gefangenen. Live-Auftritte in Stadtteilradios und vor der Zentrale von HIJOS - Hijos por la identidad y la justicia contra el olvido y el silencio (eine Organisation, die mit Demonstrationen und spektakulären Aktionen an die 30.000 Verschleppten während der Militärdiktatur erinnert) begeisterten seine Fans in Argentinien. Und in Chiapas traf er sich mit dem Guerillaaktivisten Marcos und spielte im Flüchtlingslager von Polhó. Dort fanden die Vertriebenen des Massakers von Acteal eine karge Zuflucht - das mexikanische Militär hatte damals unter der indigenen Bevölkerung von Chiapas Hunderte ermordet. Mittlerweile verweigert der mexikanische Staat Manu Chao die Einreise.

Außerdem ist der Sänger Mitglied des globalisierungskritischen Netzwerkes Attac. Er lehnt es aber ab, als Repräsentant dieser Bewegung bezeichnet zu werden, vielmehr sieht er sich als Teil von ihr. "Der Austausch zwischen Menschen weltweit ist gut. Ich lehne die Diktatur der ökonomischen Globalisierung ab, nicht Globalisierung an sich. Diese Entwicklung, die sie uns aufzwingen, ist kollektiver Selbstmord. Aber zum Glück gibt es immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, die das in Frage stellen. Ich wurde oft gefragt, warum ich in Genua war. Genau deshalb. Hasta siempre."

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