Raketenabwehrschach

Der Wahlsieg von Barack Obama war gerade 24 Stunden alt, als ihn der russische
Präsident Dimitri Medwedjew am 5. November 2008 mit einem Paukenschlag
auf eine Erblast der Bush-Administration verwies: Als Antwort auf
die geplanten amerikanischen Raketenabwehrsysteme in Polen werde Rußland
in seiner Exklave Kaliningrad modernste Kurzstreckenraketen stationieren.
Deren Aufgabe, das liegt auf der Hand, wäre im Konfliktfall die Ausschaltung
der amerikanischen Systeme.


Der Begriff Raketenabwehr umreißt einen der militärstrategischen und politischen
Hauptstreitpunkte im Verhältnis zwischen den USA und Rußland
während der Bush-Administration. Diese hatte 2002 den 1972 zwischen beiden
Staaten abgeschlossenen ABM-Vertrag zur beiderseitigen Begrenzung der
Raketenabwehrsysteme einseitig aufgekündigt und Pläne zur Stationierung
derartiger Systeme in Polen sowie von zugehöriger Aufklärungstechnik in
Tschechien durch Abschluß entsprechender Abkommen mit beiden Staaten vorangetrieben.
Washington begründete diese Schritte mit dem Hinweis auf zunehmende
Fähigkeiten von »Schurkenstaaten« wie Iran, Ziele im Westen mit
ballistischen Raketen anzugreifen. Zugleich wurden wiederholte russische Angebote,
dieser Gefahr durch Kooperation – auch hinsichtlich neuer Raketenabwehrsysteme
– zu begegnen, abgelehnt.


Um zu verstehen, warum Moskau diese Entwicklung als Angriff auf die zwischen
den Großmächten seit Jahrzehnten bestehende nuklearstrategische Pattsituation
und damit als schwerwiegende Bedrohung der eigenen Sicherheit interpretiert,
bedarf es eines Blickes auf die Vorgeschichte des ABM-Vertrages.
Nachdem die UdSSR das Nuklearmonopol der USA bereits 1949 gebrochen
hatte, führte die durch den Kalten Krieg angeheizte Rüstungsspirale zu immer
größeren Atomarsenalen. Der Sputnikschock von 1957 führte den USA dabei
erstmals vor Augen: Im Kriegsfall wären amerikanische Städte durch nuklearbestückte
sowjetische Interkontinentalraketen verwundbar.


Es dauerte noch eine Reihe von Jahren, bis auf beiden Seiten die Erkenntnis
Raum griff, daß es in einem nuklearen Schlagabtausch keinen Sieger geben
würde. Angesichts der Zerstörungskraft der Waffen sowie ihrer Vielfalt und
Vielzahl würde die Reaktion auf einen überraschenden Angriff – einen sogenannten
Erstschlag – in Gestalt des Gegen- oder Zweitschlags auch den Angreifer
unvermeidlich in die Vernichtung reißen. Es galt, aphoristisch formuliert:
»Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter.« Im Fachjargon der NATO bürgerte
sich dafür der Begriff mutual assured destruction – gegenseitige gesicherte Vernichtung
– ein, dessen Abkürzung zugleich ein treffendes Akronym lieferte: MAD (verrückt). Auf seiten des Warschauer Vertrages sprach man von nuklearstrategischer
Parität.


Diese Situation führte zu einer relativ stabilen Brandmauer gegen einen Dritten
Weltkrieg – unter der Voraussetzung, daß die Konfliktpartner, auch bei verschärften
Spannungen, rational handeln und das nukleare Schwert in der Scheide
lassen.
Natürlich hat der Sachverhalt, daß man über die mächtigsten Waffen in der
Menschheitsgeschichte verfügte, sie aber nur bei Strafe des eigenen Untergangs
hätte benutzen können, nicht wenige Strategen und Entscheidungsträger
frustriert. Einen Ausweg – nämlich Schutz vor Vergeltung durch einen Zweitschlag
– schien in den sechziger Jahren die Entwicklung von Raketenabwehrsystemen
zu bieten. Es wurde aber ziemlich rasch offenbar, daß der Vorsprung
der Offensivwaffen rüstungstechnologisch und -ökonomisch so nicht zu kompensieren
war.


So beförderte das nuklearstrategische Patt der Kontrahenten schließlich das
beiderseitige Interesse, die Stabilität des Systems kooperativ abzusichern. Die
Einsicht, daß Raketenabwehrsysteme dabei zuvörderst als destabilisierend, weil
der Illusion möglicher Unverwundbarkeit Vorschub leistend, einzustufen waren,
wurde zum Geburtshelfer des ersten sowjetisch-amerikanischen Rüstungskontrollvertrages,
des ABM-Vertrages vom Mai 1972. Er ebnete den Weg für
die sogenannten SALT-, später START-Vereinbarungen zur Begrenzung und
nachfolgend zur Abrüstung strategischer Kernwaffen.


Schon dieser knappe historische Exkurs macht verständlich, warum in Moskau
die Alarmglocken schrillten, als die Bush-Administration Kurs auf eine
Renaissance der Raketenabwehr nahm. Hinzu kam, daß der ökonomische und sonstige Niedergang Rußlands in
den neunziger Jahren auch vor dem Militär nicht Halt gemacht hatte. Zu den
Folgen gehörten unter anderem ein dramatischer Verlust an funktionstüchtigen
elektronischen Frühwarnkapazitäten sowie ein erheblicher Rückgang im Umfang
und in der Einsatzbereitschaft der nuklearstrategischen Streitkräfte. Das
russische Vergeltungspotential ist dadurch soweit erodiert worden, daß strategische
Parität praktisch nicht mehr besteht. Das ist für die Bewertung eines
amerikanischen Raketenschildes in Polen ein entscheidender Punkt. Die USExperten
Keir A. Lieber und Daryl G. Press haben dazu bereits 2006 Ergebnisse
komplexer Untersuchungen vorgelegt (The End of Mad? The Nuclear
Dimensions of U.S. Primacy, in: International Security, No. 4 [Spring 2006],
pp. 7-44. Eine kürzere Fassung ihrer Analyse hatten die Autoren unter dem Titel
»The Rise of U.S. Nuclear Primacy« bereits zuvor in »Foreign Affairs« (March/
April 2006) publiziert. Daraus sind die nachfolgenden Zitate entnommen) und geschlußfolgert: »Für die Vereinigten Staaten könnte es bald möglich sein, die
nuklearen Langstreckenarsenale Rußlands … mit einem Erstschlag zu vernichten
… An diesem Punkt könnte selbst ein relativ moderates … Raketenabwehrsystem
sehr wohl ausreichend sein, um gegen jeglichen Vergeltungsschlag
zu schützen, weil der vernichtete Gegner so wenig Sprengköpfe und
Trägermittel übrigbehalten würde.«
Fazit: »Rußlands Führer können nicht länger auf eine überlebensfähige nukleare
Abschreckung vertrauen.«


Medwedjews Signal einen Tag nach Obamas Wahl kam also nicht von ungefähr.
Daß Rußland im übrigen nach wie vor eher an einer einvernehmlichen
Lösung dieses Konfliktes als an seiner Austragung interessiert ist, wurde eine
knappe Woche nach Obamas Amtseinführung deutlich. Unter Bezug auf den
russischen Generalstab verlautbarte aus Moskau, daß Rußland seine Stationierungspläne
für Kaliningrad eingefroren habe. Zuvor war aus Obamas Umfeld
signalisiert worden, daß der neue Präsident die amerikanischen Raketenabwehrpläne
überprüfen lassen wolle. Damit ist das Vorhaben amerikanischerseits noch keineswegs ad acta gelegt,
aber auch der langwierige Weg zum ABM-Vertrag hatte einmal mit dem Austausch
von Entspannungssignalen begonnen.