Herr, gib ihnen Frieden!

Die meisten, die da kämpfen, leiden und sterben im Nahen Osten, in Palästina,
in Israel, sind gläubige Menschen. »Herr, gib ihnen Frieden!« möchte
man ihnen zurufen. Anderes verbietet sich scheinbar, angesichts des fortgesetzten
Irrsinns des Krieges.


In der ersten Kriegswoche, die am 27. Dezember 2008 mit den israelischen
Luftangriffen gegen Ziele im Gaza-Streifen begann, gab es Tote: vier auf
israelischer Seite und etwa fünfhundert auf palästinensischer. Jeder Tote ist
einer zuviel; doch die Zahlen sind Ausdruck der Asymmetrie dieses Krieges.
Nach zwölf Tagen sind es etwa 700 getötete Palästinenser und 3100 verletzte.
Die Hälfte der getöteten Palästinenser sind Frauen sowie Kinder und Jugendliche
unter 18 Jahren, teilten dort tätige UNO-Mitarbeiter mit. Fünf israelische
Soldaten kamen in dieser Zeit bei den Bodenangriffen ums Leben; vier
von ihnen starben durch eine israelische Granate.


WeltOnline beschwert sich, die Fernsehbilder vom Krieg in Gaza würden
lügen: Es seien nur immer palästinensische Opfer zu sehen. Der Berliner Politikprofessor
Herfried Münkler wird als Bildauswerter zitiert: Die arabischen
Medien hätten realisiert, »daß das Zeigen von Opfern die effektivste Waffe in
der politischen Auseinandersetzung mit Israel ist«. Was meint er? Hätten die
Araber die Bilder nicht zeigen oder die Israelis die Araber nicht töten sollen?
Am zwölften Tag hat die israelische Armee für drei Stunden den Krieg gestoppt;
während einer Feuerpause werden Hilfslieferungen in den Gaza-Strei-fen gelassen. Das wird bereits von allen Seiten mit großer Erleichterung aufgenommen.


Ist all das nur Irrsinn, oder gibt es untergründige Rationalitäten? Zbigniew
Brzezinski – der einstige Vater des Afghanistan-Krieges und »Sicherheitsberater
« des früheren US-Präsidenten Carter, der zuweilen auch im Beraterteam
des Barack Obama gesehen wurde – sagte im Fernsehen, in den letzten acht
Jahren unter Bush jun. habe es keinerlei Bemühungen mehr gegeben, den Friedensprozeß
im Nahen Osten voranzutreiben; die jetzige Situation sei die Konsequenz
dessen. Obama indessen schweigt zum Krieg. Zunächst sagt er, in den
USA gäbe es »zu jeder Zeit nur einen Präsidenten«, und das ist eben Bush jun.
Dann fügt er hinzu, später werde er um so mehr sagen. Change auch im Nahen
Osten? Jetzt ist nichts davon zu hören. Bush wiederum erklärte, da war
der Krieg noch gar nicht richtig losgegangen, die volle Schuld liege bei der
Hamas, weil sie Raketen auf israelische Siedlungen geschossen hatte. Israel
habe nur reagiert. Und das, obwohl der für das Militär zuständige israelische
Minister, Ehud Barak, stolz erklärte, die Operation sei lange vorbereitet worden.
Einen rechtzeitigen Beschluß des UNO-Sicherheitsrates zur Beendigung
des Krieges haben die USA verhindert.


Die deutsche Bundeskanzlerin pflichtete – wie stets – Bush bei und meinte,
die Verantwortung für die jüngste Entwicklung liege »eindeutig und ausschließlich
« bei der Hamas. Am 10. Februar werden die vorgezogenen Wahlen zur
Knesset in Israel sein. Es heißt, die Wahlchancen für Baraks Arbeitspartei und
für die Kadima-Partei der Außenministerin Zipi Livni hätten sich durch den
Krieg verbessert. Kritische Beobachter vermerken, daß an die neunzig Prozent
der israelischen Bevölkerung diesen Krieg unterstützen – zumindest so lange,
wie es nur geringe israelische Verluste gibt.


Um nach Rationalitäten zu schauen, wird wieder stärker nach der Geschichte
gefragt. Nach dem Teilungsplan der UNO von 1947 sollten zwei Staaten im
vorherigen britischen Mandatsgebiet Palästina gegründet werden: ein jüdischer
und ein arabischer. Gemäß dem Teilungsplan der UNO sollte der jüdische
56,5 Prozent des Mandatsgebietes umfassen; nach dem arabisch-israelischen
Krieg von 1948/49 umfaßte er 78 Prozent. 800 000 Palästinenser waren
vertrieben und durch den jungen israelischen Staat enteignet worden. Im Ergebnis
des Sechs-Tage-Krieges von 1967 hatte Israel ganz Palästina unter seiner
Kontrolle (nebst der Sinai-Halbinsel und den syrischen Golanhöhen), und
es wurden weitere 300 000 Araber vertrieben.


Mit dem israelisch-ägyptischen Friedensvertrag von 1979 kam der Sinai
wieder an Ägypten, das dafür Frieden an seiner Grenze zu Israel garantierte.
Die Frage der Rückgabe der Golanhöhen an Syrien ist weiter offen. Die palä-
stinensischen Gebiete – Ostjerusalem, der Gaza-Streifen und das Westjordangebiet
– sind weiterhin israelisches Okkupationsgebiet.


In Israel leben 5,7 Millionen jüdische Israelis und in dem Gebiet zwischen
Mittelmeer und dem Jordan etwa fünf Millionen Palästinenser: im Gaza-
Streifen 1,5 Millionen, in der Westbank 2,2 Millionen, in Ostjerusalem 0,25
Millionen und in Israel 1,3 Millionen. Die vier verschiedenen Gruppen von
Palästinensern werden jedoch alle unterschiedlich behandelt. Bei den Wahlen
in Palästina 2006 siegte die islamistische Hamas. Es waren die ersten wirklich
freien Wahlen im arabischen Raum. Doch der Westen erkannte das Ergebnis
nicht an. Eine wirkliche »Regierung der nationalen Einheit« mit der
PLO, die weiter den Präsidenten in Ramallah, dem palästinensischen Zentrum
im Westjordangebiet stellte, kam nicht zustande. Nach blutigen Auseinandersetzungen
behielt die PLO die Kontrolle im Westjordangebiet, die Hamas
übernahm sie im Gazastreifen. Toleriert von den USA und der EU riegelte
Israel daraufhin den Gazastreifen ab. Die Industrie dort verfiel, die Anbauflächen
können nicht mehr bewässert werden, weil Energie fehlt.


Inzwischen leben achtzig Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze.
Das Grundwasser versalzt. Trinkwasser und elektrischen Strom erhalten die
Bewohner nur stundenweise. Das Gesundheitssystem verfällt. Die Menschen
sind fast ausschließlich auf Hilfslieferungen von außen angewiesen. In dieser
Situation der Aussichtslosigkeit gab es einen Waffenstillstand zwischen Israel
und der Hamas. Es war Israel, das – so der Berichterstatter der UNO zu Menschenrechtsfragen
in Palästina, Richard Falk, – mit einer Militäraktion im November,
bei der mehrere Palästinenser getötet wurden, diesen Waffenstillstand
brach. Es folgten die Raketenangriffe auf israelisches Territorium von Gaza aus,
die dann zum Anlaß für die Kriegsaktionen Israels genommen wurden.


Im Westjordangebiet wird die Siedlungspolitik Israels fortgesetzt, obwohl
nach der UNO-Resolution 242 von 1967 das gesamte Territorium an die Palästinenser
zurückzugeben wäre. Die repressive Besatzungspolitik wird fortgesetzt:
Die »Mauer« trennt Tausende Palästinenser von lebenswichtigen Gesundheits-
und Bildungseinrichtungen, über fünfhundert Straßenbarrieren
verhindern jeden normalen Verkehr und wirken sich negativ auf die Wirtschaft
aus. In Ostjerusalem werden auf dem palästinensischen Territorium riesige
urbane jüdische Siedlungen errichtet.


Die Trennmauer schneidet auch die palästinensischen Wohngebiete Jerusalems
vom Westjordangebiet ab. Und die arabischen Bürger Israels sind nach
wie vor nicht gleichberechtigte Staatsbürger. Das Fazit ist, daß die Situation
der Palästinenser in den vierzig Jahren Besatzung nicht besser, sondern
schlechter geworden ist. Ihr Leben verläuft, wie der israelische Autor YakovBen Efrat kürzlich schrieb, »zwischen Siedlerpogromen, militärischen Straßensperren,
Abriegelungen, der Sperranlage und mörderischer Armut«. Solange
das so bleibt, wird auch der Boden für terroristische Anschläge und fanatische
Gotteskrieger bleiben. Der Krieg wird diese nicht beseitigen, sondern
neue hervorbringen. Er wird keines der Probleme in der Region lösen, aber sie
weiter vergrößern und neue schaffen.


Nun kam noch die Nachricht, die ebenfalls islamistische Hizbollah hat von
Libanon aus erstmals wieder Raketen gegen Israel abgeschossen – der Libanonkrieg
2006 sollte dies künftig unmöglich gemacht haben. Auch dies ist bereits
eine Ausweitung. Und es bleibt die Frage, ob der Gaza-Krieg »nur« eine
Warnung an die Adresse der islamistischen Kräfte in der ganzen Region sein
sollte, oder ob am Ende doch noch der Krieg gegen den Iran droht, der den
Nahen Osten noch tiefer in den Strudel des Irrsinns reißen würde.