Abschreibung des Wertgesetzes?

Kritische Anmerkungen zur Marx-Interpretation Antonio Negris

in (14.01.2009)

Der folgende Text ist die Teilübersetzung eines 2007 in der englischsprachigen Online-Zeitschrift ephemera erschienenen Artikels.1 Der hier übersetzte Auszug formuliert eine Kritik an der von A. Negri seit den späten 1970er Jahren vertretenen Position bezüglich des so genannten „Wertgesetzes“. Negris Position lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass Marxens auf Smith und Ricardo aufbauende Behauptung eines gesetzmäßigen Zusammenhangs zwischen zeitlich definierten Arbeitsquanten und dem „Wert“ warenförmiger Arbeitsprodukte heute unhaltbar geworden sei. Andere wichtige Bestandteile des Marxschen Theoriegebäudes, etwa der Ausbeutungsbegriff, seien aber weiterhin ausreichend realitätshaltig und sollten als wesentliche Bezugspunkte linker Theoriebildung beibehalten werden. Der Text versucht zu zeigen, dass diese Position sich in unauflösbare Widersprüche verstricken muss und daher selbst unhaltbar ist. Für den Vorschlag, diese Kritik an Negris Position einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich zu machen, danke ich der grundrisse-Redaktion und insbesondere K. Reitter. Es wäre erfreulich, wenn der Text nicht allein als Negri-Kritik rezipiert würde, sondern auch als Anregung zu einer weiter angelegten Auseinandersetzung mit der Marxschen Arbeitswerttheorie und ihrer Bedeutung für linke Theoriebildung heute. Eine solche Auseinandersetzung könnte ein wesentlicher Beitrag sein zu jener Theoriedebatte, auf deren Dringlichkeit etwa K. H. Roth bereits seit mehreren Jahren verweist.2

Zu Beginn der 1990er Jahre lebte, zunächst in Italien und später international, das Interesse auf an der Arbeit militanter Marxisten, die der theoretischen Strömung des Operaismus (bzw. des Postoperaismus) angehören. Autoren wie A. Negri und P. Virno erfreuten sich einer wachsenden Leserschaft, boten sie doch ein theoretisches Instrumentarium, dass die Mysterien kapitalistischer Ausbeutung während der Niedergangsphase der gemeinhin als „fordistisch“ bezeichneten ökonomischen Ordnung zu enthüllen versprach.3 Die von diesen Autoren entwickelten Theorien sind vielen LeserInnen als überzeugende Aufschlüsselung der neuen, mit Informationstechnologie, Wissenschaft und Kommunikation verbundenen Arbeitsformen erschienen, die sich in den vergangenen Jahrzehnten in den kapitalistischen Metropolen herausgebildet haben. Inzwischen ist es geläufig, diese Arbeitsformen unter Einsatz von Begriffen wie „immaterielle Arbeit“ zu beschreiben.

Die Faszinationskraft besagter Theorien scheint zu einem nicht geringen Teil darauf zu beruhen, dass sie einerseits eine Marxsche Begrifflichkeit und Rhetorik bemühen, andererseits eine ganze Reihe althergebrachter Bestandteile des Marxschen Theoriegebäudes für überholt erklären. Das so genannte „Wertgesetz“ war dabei eines der ersten Elemente des orthodoxen Marxismus,4 die auf den Abfallhaufen der Theoriegeschichte verbannt wurden, wurde es doch bereits vor über 25 Jahren von Negri für hinfällig erklärt.5 Der vorliegende Beitrag ordnet Negris Argumentation bezüglich dieser vermeintlichen Hinfälligkeit des Wertgesetzes in den Kontext operaistischer und postoperaistischer Theoriebildung ein, um diese Argumentation anschließend einer kritischen Analyse zu unterziehen.

Proletarische Militanz und kapitalistische Entwicklung im Operaismus

Vorweg eine simple aber wichtige Feststellung: Der Operaismus war nicht die einheitliche Strömung, als die er manchmal dargestellt wird.6 Eine von mehreren Meinungsverschiedenheiten zwischen den Theoretikern dieser Schule betraf den Zusammenhang von proletarischer Militanz und kapitalistischer Entwicklung. M. Tronti vertrat die vielfach rezipierte These, Arbeitskämpfe und insbesondere die proletarische Arbeitsverweigerung würden das Kapital durch Absenkung der Mehrwertraten zur Einleitung immer neuer Produktivitätssprünge zwingen und damit den Übergang von der „formellen“ zur „reellen“ Subsumption des Arbeitsvermögens unter das Kapital, sowie von der Auspressung „absoluten“ zu der „relativen“ Mehrwerts, beschleunigen.7 Im Gegensatz dazu findet sich bei R. Panzieri kaum jemals mehr als der Hinweis auf die Parallelität von proletarischer Militanz und kapitalistischer Entwicklung. Zu Aussagen bezüglich eines möglichen Kausalverhältnisses ließ Panzieri sich so gut wie nie verleiten. Wo sich solche Aussagen finden, neigt er zu einer Auffassung, die der von Tronti diametral entgegengesetzt ist: dass nämlich die von der Kapitalseite eingeleitete Veränderung des Produktionsprozesses zu neuen Kämpfen führe und nicht umgekehrt.8

Panzieris Position bleibt in den heutigen Diskussionen um den Operaismus meist randständig. Die bekanntesten operaistischen Theoretiker, wie etwa Negri, gehen in der Regel von der These Trontis aus. Wenn es so etwas wie einen operaistischen Diskurs über soziale Kämpfe und proletarische Militanz gibt, dann besteht sein Hauptmerkmal darin, dass dieser Diskurs die Geschichte kapitalistischer Entwicklung so nacherzählt, dass die Kämpfe stets als kapitalistischen Entwicklungssprüngen vorhergehend und als diese auslösend erscheinen.

Wie auch immer die richtige Antwort auf die Frage nach der Kausalbeziehung zwischen proletarischer Militanz und kapitalistischer Entwicklung lauten möge, fest steht, dass beide zur Blütezeit des Operaismus, also während der 1960er Jahre, in den industriellen Zentren Italiens kaum zu übersehen waren. Es steht auch außer Zweifel, dass die von italienischen Konzernen wie FIAT Anfang der 1970er Jahre eingeleiteten technologischen Neuerungen tatsächlich eine Reaktion auf die vorhergehende Militanz der Belegschaften darstellten.9 Diese Neuerungen bestanden u. a. in der Ausweitung der Automation,10 was wiederum die Angewiesenheit der Konzerne auf Ingenieure und Techniker steigerte.11 In der Folge gewannen jene Aufzeichnungen von Marx, die sich auf Fragen der Automation und der Eingliederung der Wissenschaft in den Produktionsprozess anwenden lassen, eine neue Aktualität. Das gilt insbesondere für das so genannte „Maschinenfragment“ aus den Grundrissen (Marx 1973, S. 582-590). Negris These bezüglich der Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ geht weitgehend auf die operaistische Lesart des „Maschinenfragments“ zurück. Negri vertritt auch bereits seit längerer Zeit die Ansicht, das konzeptionelle Rüstzeug der Grundrisse sei dem des Kapital, was die Brauchbarkeit für antikapitalistische Politik angeht, überlegen.12

Im „Maschinenfragment“ schreibt Marx: „Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die große Quelle des Reichtums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maß zu sein und daher der Tauschwert [das Maß] des Gebrauchwerts“ (Marx 1973, S. 593). Marx prognostiziert also eine auf einer bestimmten Entwicklungsstufe des Kapitalismus sich einstellende Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“. Dabei setzt er diese kommende Hinfälligkeit zum zunehmend „wissenschaftlichen“ oder auf dem Einsatz hoch entwickelter Technologie beruhenden Charakter der Produktion in Beziehung:

„In dem Maße aber, wie die große Industrie sich entwickelt, wird die Schöpfung des wirklichen Reichtums abhängig weniger von der Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit, als von der Macht der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt werden und die selbst wieder – deren powerful effectiveness – […] in keinem Verhältnis steht zur unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie, oder der Anwendung dieser Wissenschaft auf die Produktion.“ (Marx 1973, S. 593)

Weiter heißt es:

„[Der Arbeiter] tritt neben den Produktionsprozeß, statt sein Hauptagent zu sein. […] Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhnde Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift.“ (Ebd.)

Die Entscheidung, diese Sätze als Beschreibung des gegenwärtigen Kapitalismus auszulegen oder nicht, ist ausschlaggebend für die politische Stoßrichtung und die praktischen Schlussfolgerungen einer jeden auf das „Fragment“ sich stützenden Kapitalismusanalyse. Nun ist eine Interpretation der Marxschen Aussagen, die diese als einfache Beschreibung der Welt, in der wir heute leben und arbeiten, begreift, zweifellos problematisch. Im Zeitalter weltweiter Handels- und Produktionsketten, dank derer ein Informatiker in den USA zur Herstellung derselben Ware beiträgt wie ein kongolesischer Minenarbeiter, lässt sich schwerlich behaupten, die „auf dem Tauschwert ruhnde Produktion“ sei „zusammengebrochen“, noch weniger, der „unmittelbare materielle Produktionsprozeß“ sei der „Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit“ verlustig gegangen. Der Eindruck historischer Notwendigkeit, den die Marxsche Formulierung „hört und muß aufhören“ hinterlässt, widerspricht offenkundig der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Dieser verfügt zweifellos über die Mittel, um den Übergang von den innerhalb seiner vollzogenen Produktivitätssprüngen zum Kommunismus zu verhindern, seien diese Produktivitätssprünge auch noch so gewaltig.13 Einen eben solchen Übergang scheint Marx im „Fragment“ aber zu prognostizieren.

Was ist also zu halten von der Marxschen Bemerkung, die Arbeitszeit müsse aufhören, „Maß des Reichtums“ zu sein, sobald die Arbeit „in unmittelbarer Form“ aufhöre, als seine „große Quelle“ zu fungieren? Läuft diese Bemerkung nicht auf die letztlich unvermeidliche Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ hinaus? Die vernünftigste Antwort auf derartige Fragen besteht wohl in dem Hinweis, dass ein Grad technologischer Entwicklung, wie er Marx bei der Niederschrift des „Fragments“ vorgeschwebt zu haben scheint, längst nicht in allen Bereichen der kapitalistischen Weltökonomie zu erkennen ist. Auch gibt es triftige Gründe für die Annahme, dass diese Weltökonomie nicht aufhören wird, von solcher Ungleichzeitigkeit gekennzeichnet zu sein. Während sich in high-tech-Sektoren tatsächlich immer wieder beobachten lässt, wie „der Arbeiter […] neben den Produktionsprozeß [tritt], statt sein Hauptagent zu sein“, ist zugleich unübersehbar, dass die Entwicklung solcher Sektoren mit der gleichzeitigen Ausbreitung von low-tech- (oder high-touch-) Sektoren einher gegangen ist. Dazu schrieb G. Caffentzis bereits vor mehr als 26 Jahren:

„In den „niedrigen“ Sektoren muss eine gewaltige Menge an Arbeit geleistet und abgeschöpft werden, um in Kapital für den „höheren“ Sektor verwandelt werden zu können. Um die neue kapitalistische „Utopie“ der nach high-tech dürstenden und auf „venture capital“ basierenden Industrien in den Bereichen Energie, Computer und Genetik zu finanzieren, muss noch eine ganz andere kapitalistische „Utopie“ geschaffen werden: eine Welt der „arbeitsintensiven“, niedrig entlohnten und zerstreuten Produktion. […] An diesem Wendepunkt wird, wie stets in der Geschichte des Kapitalismus, ein Technologiesprung auf Kosten der technologisch am schlechtesten ausgestatteten Arbeiter bewerkstelligt.“ (Caffentzis 1992, S. 249)

Wenn die Ausbreitung von high tech mit der von low tech Schritt hält, und wenn dies in der Begrifflichkeit der politischen Ökonomie bzw. in der ihrer Kritik erklärt werden soll, dann stellt sich die Marxsche Arbeitswerttheorie als relativ viel versprechender Erklärungsansatz dar, verweist sie doch auf das unternehmerische Interesse an einer „Hauptagent“ des Produktionsprozesses bleibenden Arbeitskraft (d. h. an einem maximalen Einsatz der lebendigen Arbeit).

Der uneinheitliche oder ungleichzeitige Charakter kapitalistischer Entwicklung wirft allerdings schwer wiegende Fragen auf bezüglich der von Negri unter Bezugnahme auf das „Maschinenfragment“ entwickelten Theorie. Wie gleich noch näher auszuführen sein wird, behauptet Negri, kapitalistische Entwicklung sei tendenziell gleichbedeutend mit der fortschreitenden Ablösung technologisch rückständiger Arbeitsformen durch die im „Fragment“ angedeuteten Formen „immaterieller Arbeit“. Wenn aber, um die Diktion von Caffentzis zu verwenden, „niedrige“ und „höhere“ Sektoren zeitgleich expandieren, und zwar aufgrund eines einheitlichen, mit den ökonomischen Vorgängen der Wertschöpfung und des Werttransfers zusammen hängenden Prozesses, dann erzählt uns Negri nur die eine, heitere Hälfte einer insgesamt wenig erbaulichen Geschichte. Negris Verweise auf die historische „Tendenz“ des Kapitalismus beginnen, wie eine argumentative Hintertür auszusehen, die es ihm erlaubt, all jene Merkmale der gegenwärtigen Weltökonomie, die nicht recht zu seinen Prognosen passen wollen, mit dem Hinweis beiseite zu schieben, sie würden ohnehin bald der Vergangenheit angehören.14

Zur postoperaistischen Lesart des Begriffs „reelle Subsumption“

Die Etappe kapitalistischer Entwicklung, die Marx als die der „reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital“ bestimmt, ist die fortgeschrittenste, der er eine ausführliche Analyse gewidmet hat. Aus dem vorigen Abschnitt geht bereits hervor, dass manche Marxsche Aussagen zu dieser Etappe nahelegen, auf sie könne einzig der Kommunismus folgen. Die von Negri in den letzten Jahren verfassten Arbeiten machen sich diesen Sachverhalt zunutze, indem sie die „reelle Subsumption“ mit der Gegenwart gleichsetzen und also eine bevorstehende Überwindung des Kapitalismus suggerieren. Negri und andere Operaisten behandeln das „Maschinenfragment“ als Beschreibung der gegenwärtigen Arbeitsverhältnisse und schließen daraus auf einen „vollständigen Bankrott“ des „Wertgesetzes“ (Hardt u. Negri 1994, S. 10). In den 1960er und 1970er Jahren sei es zu Produktivitätssprüngen gekommen, aufgrund derer „das Kapital über die Wertbeziehung hinausgetrieben“ worden sei: „Mit der radikalen Entwertung der Arbeit geht die Unterdrückung des Arbeitswerts einher, und schließlich ist jede Beziehung zwischen Wert und Preis in Mitleidenschaft gezogen“ (Montano 1978, S. 228).

Bevor näher darauf eingegangen wird, wie Negri solche Behauptungen begründet, soll kurz angedeutet werden, was die Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ bedeuten würde. Sie hätte mindestens zwei Konsequenzen. Erstens bestünde keinerlei Beziehung mehr zwischen dem Tauschwert einer Ware und dem Quantum an Arbeitskraft, das zur Herstellung dieser Ware im gesellschaftlichen Durchschnitt verausgabt werden muss. Zweitens bestünde auch zwischen dem Wert der Arbeitskraft und ihren Reproduktionskosten keinerlei Beziehung mehr (denn auch die Arbeitskraft ist Marx zufolge eine Ware).15 Letztlich hätten wir es nur noch mit Preisen (bzw. Löhnen) zu tun, nicht mehr mit (Arbeits-)Werten. Aussagen wie die, eine Ware werde über oder unter ihrem Wert verkauft, wären jedenfalls so lange unzulässig, wie sich kein nicht mit dem Preis in eins fallender Ersatz gefunden hätte für das Marxsche Wertmaß (das zur Herstellung dieser Ware im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige und zeitlich gemessene Arbeitsquantum). Jenseits der Preise gäbe es überhaupt keine wertmäßige Vergleichbarkeit verschiedener Waren mehr, auch keine der Ware Arbeitskraft mit anderen Waren.16

Wenn die von Marx behauptete Beziehung zwischen dem Wert der Arbeitskraft und ihren Reproduktionskosten entfällt, stellt sich die Frage, wie überhaupt noch von einem Wert der Arbeitskraft gesprochen werden soll, der nicht mit dem tatsächlich gezahlten Lohn identisch ist. Dann müsste aber auch die Unterscheidung zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit neu begründet werden, und dies wiederum würde es zunächst einmal unmöglich machen, von Ausbeutung im Marxschen Sinne zu sprechen – besteht Ausbeutung Marx zufolge doch gerade in der Auspressung von Mehrarbeit.17

Natürlich leugnen Postoperaisten wie Negri weder die Realität des Marktes noch die der Ausbeutung. Sie behaupten aber tatsächlich, der Warentausch sei jeder wertmäßigen Grundlage verlustig gegangen und werde nur noch durch den politischen Zwang erhalten, den nationalstaatliche Regierungen und transnational agierende kapitalistische Institutionen ausübten. Aus Sicht der Postoperaisten sind quantitative, auf dem Wertbegriff gründende Analyseansätze schlichtweg unzeitgemäß. Wenn sich der im Zeitalter der „reellen Subsumption“ geschaffene Reichtum dem „Wertgesetz“ und sogar jeglichem Maß entzieht, dann sind quantitative Ansätze zur Analyse der kapitalistischen Weltökonomie von keinerlei Interesse.18

Aus den von Negri und anderen Postoperaisten gebrauchten Begriffen der Arbeit und der Ausbeutung geht der Verzicht auf jeglichen quantitativen Erklärungsansatz denn auch deutlich hervor. Beispielsweise brechen die Postoperaisten insofern mit Marx, als sie nicht mehr von Mehrarbeit sprechen, ist Mehrarbeit doch quantitativ bestimmt. Wie noch zu zeigen sein wird, tendiert Negri dazu, nicht nur die Unterscheidung zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit einzuebnen, sondern auch die zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit sowie die zwischen Produktion und Reproduktion. Daraus ergibt sich ein dramatisch erweiterter Arbeitsbegriff, der tatsächlich jede menschliche Tätigkeit mit einschließt.19

Eine andere Marxsche Unterscheidung, für die Negri und andere Postoperaisten nicht viel übrig haben, ist die zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit.20  P. Virno zufolge ergibt sich die Hinfälligkeit dieser Unterscheidung aus der Ausbreitung „immaterieller“ und „affektiver“ Arbeit, d. h. aus dem, was die meisten Ökonomen als Ausdehnung des Dienstleistungssektors bezeichnen würden.Virno wirft Marx vor, er bestimme jene Arbeitsformen, die nicht in einer dauerhaften und greifbaren Ware münden (also etwa die Pflegedienste einer Krankenschwester oder die Lehrtätigkeit eines Universitätsprofessors), vorschnell und zu unrecht als unproduktiv und somit als für die Kapitalakkumulation nebensächlich (Virno 1994, S. 90-93).  

Eine flüchtige Lektüre der betreffenden Aussagen von Marx könnte dazu verleiten, Virno beizupflichten. Dennoch betont Marx im ersten Band des Kapital ausdrücklich, Arbeit müsse nicht unbedingt unmittelbar in einer dauerhaften und greifbaren Ware münden, um produktiv zu sein. Dies gelte insbesondere dann, wenn sich die kapitalistische Produktionsweise bis zu dem Punkt entwickelt habe, an dem sie eine ausgeprägte Arbeitsteilung aufweise.21 Virnos These stützt sich auf die weit verbreitete Beobachtung, dass der Kapitalismus immer mehr „unproduktive“ Arbeiten in „produktive“ verwandelt, dass also immer mehr Tätigkeiten, die bislang eine gewisse Autonomie gegenüber der Kapitalakkumulation behaupten konnten, nun in diese integriert und ihr dienstbar gemacht werden. Ob diese Beobachtung allerdings zur Aufgabe der Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit zwingt, ist nicht ausgemacht – ein solcher Schritt könnte auch überstürzt sein.22

Negris Neigung zur Aufgabe zentraler Bestandteile des Marxschen Theoriegebäudes ist nicht weniger ausgeprägt als Virnos. Das wird in Negris Argumentation bezüglich der vermeintlichen Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ deutlich. Es lohnt sich, diese Argumentation genauer zu betrachten. Der Einfachheit halber unterteile ich sie im Folgenden in zwei Teile, von denen der erste auf die jüngsten qualitativen Veränderungen der Arbeit in den kapitalistischen Metropolen, der zweite auf die von Marx im ersten Band des Kapital vorgenommene Unterscheidung zwischen Wertsubstanz und Wertmaß Bezug nimmt. Diese Unterteilung dient nur der Exposition. Was hier der Reihe nach verhandelt wird, bildet bei Negri eine Einheit.

Abschreibung des Wertgesetzes (1): Qualitative Veränderungen der Arbeit

Negri unterscheidet zwei Funktionen des „Wertgesetzes“. Erstens garantiere es die wertmäßige Vergleichbarkeit nicht nur verschiedener Waren, sondern auch verschiedener Wirtschaftssektoren, zweitens biete es einen Index für den Wert der Arbeitskraft.23 Im ersten Fall diene das „Wertgesetz“ dem Nachvollzug von Werttransfers auf der makroökonomischen Ebene, im zweiten – den Negri zurecht als den interessanteren ansieht – erlaube es die Bestimmung des Verhältnisses der notwendigen Arbeit zur Mehrarbeit und damit auch des Wertes der Arbeitskraft, d. h. es ermögliche letztlich eine Einschätzung der jeweils gegebenen Machtverhältnisse zwischen Arbeit und Kapital (Negri 1992, S. 32).

Nachdem er diese zwei Funktionen des „Wertgesetzes“ unterschieden hat, betont Negri, dass zwischen beiden eine Beziehung bestehe: Sobald das Verhältnis zwischen notwendiger Arbeit und Mehrarbeit infolge von erfolgreichen Arbeitskämpfen zugunsten der notwendigen Arbeit verschoben werde, sehe sich das Kapital gezwungen, umzustrukturieren, und zwar nicht nur auf der innerbetrieblichen, sondern auch auf der makroökonomischen Ebene. Wie schon Marx zählt Negri eine gesteigerte organische Zusammensetzung des Kapitals zu den typischen Folgen solcher Umstrukturierungen. Ebenfalls in Anlehnung an Marx setzt Negri diese Steigerung der organischen Zusammensetzung mit Produktivitätssteigerungen gleich, also letztlich mit dem Übergang von der formellen zur reellen Subsumption und vom absoluten zum relativen Mehrwert.

Negri beschließt seine Argumentation mit der Aussage, besagte Produktivitätssteigerungen hätten heute ein Ausmaß angenommen, aus dem die Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ im Sinne einer Nichtmessbarkeit des Wertes resultiere. Diese angebliche Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ verbindet Negri mit der Zuspitzung dreier „innerer Widersprüche“ des Kapitalismus (Negri 1992, S. 32). An erster Stelle nennt er den Gegensatz von einfacher und komplexer Arbeit, dann den von produktiver und unproduktiver Arbeit und drittens die Unmöglichkeit, intellektuelle Arbeit anhand der Begriffe der einfachen Arbeit und der Kooperation zu erklären. Kurzum, Negri ist der Ansicht, die Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ folge aus den qualitativen Veränderungen der Arbeit. Diese sei immer komplexer, produktiver und „immaterieller“ geworden. Jeder dieser „Widersprüche“ verdient es, genauer untersucht zu werden.

„Komplexe Arbeit“ ist der arbeitswerttheoretische Begriff für das, was gewöhnlich als qualifizierte Arbeit bezeichnet wird. In der Marxschen Arbeitswerttheorie fungiert etwa die Arbeitskraft eines Ingenieurs als komplexe Arbeit, und zwar in dem Sinne, dass die Produktion und Reproduktion dieser Arbeitskraft über die üblichen, mit dem Überleben auf einem gegebenen gesellschaftlichen Durchschnittsniveau verbundenen Kosten hinaus weitere Kosten (Ausbildungskosten, Fortbildungskosten usw.) beinhaltet. Die Arbeit des Ingenieurs ist „komplex“ im Verhältnis zur „einfachen“ Arbeit etwa eines Fließbandarbeiters, d. h. der Wert ersterer ergibt sich aus der Multiplikation des Wertes letzterer durch eine zwar nicht historisch unveränderbare, aber unter gegebenen Verhältnissen mehr oder weniger exakt bestimmbare Größe.

Der „Widerspruch“ zwischen einfacher und komplexer Arbeit, von dem Negri spricht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen lediglich als Empörung über die oft willkürliche Bestimmung dieser Größe. Soweit ich sehe, erlaubt Negris Behauptung, komplexe Arbeit könne nicht auf einfache reduziert werden, einzig diese Lesart, wenn das Ergebnis kein kontrafaktisches sein soll (Negri 1992, S. 32). Von einer „Unmöglichkeit“ besagter Reduktion lässt sich also bestenfalls in einem verschwommen moralischen Sinne sprechen. Dann würde Negri weiter nichts behaupten, als dass dem Verhältnis von komplexer und einfacher Arbeit etwas respektloses oder auch skandalöses anhaftet. Damit würde aber lediglich Missfallen gegenüber dem rein quantitativem Wertbestimmungsverfahren, das dem Kapitalismus eigen ist, zum Ausdruck gebracht. Die gestaffelte Bewertung verschiedener Arbeitskräfte gehört jedenfalls zum kapitalistischen Alltag.

Als nächstes verweist Negri auf die mögliche Differenz zwischen dem Wert einer qualifizierten Arbeitskraft und dem Wert ihrer Produkte, also darauf, dass etwa der kluge Einfall eines Kopfarbeiters dem Unternehmer unter Umständen einen Mehrwert liefert, der in keinem Verhältnis steht zum Gehalt des Kopfarbeiters (Negri 1992, S. 32). Aber auch das ist grauer Alltag, besagt es doch nichts weiter, als dass das Kapital aus seinem Gebrauch menschlicher Arbeitskraft mehr Wert bezieht, als es selbst vorstreckt. Das ist alles andere als ein Beweis für den Zusammenbruch des „Wertgesetzes“. Es bestätigt vielmehr dessen Funktionsweise: Auch wenn die Arbeitskraft formal gerecht, also entsprechend ihren Reproduktionskosten bezahlt wird, produziert sie unter kapitalistischen Verhältnissen nicht nur ein Äquivalent ihres eigenen Werts, sondern auch einen dem Kapitalisten zufallenden Mehrwert. Negri hat also nichts weiter vor Augen, als was der Marxsche Ausbeutungsbegriff beschreibt.

Negris Ausführungen zum „Widerspruch“ zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit laufen schlichtweg auf die Beobachtung hinaus, dass sich produktive Arbeit unter den Bedingungen der reellen Subsumption durch ein hohes Maß an Kooperation auszeichne. Negri weist darauf hin, dass Arbeitskräfte auch dann einzeln entlohnt werden, wenn sie zusammen arbeiten und aufgrund ihrer Zusammenarbeit (Kooperation) mehr Wert liefern, als sie ohne solche Zusammenarbeit tun würden (Negri 1992, S. 31-32). Dass sich aber Unternehmer die Vorteile der Kooperation gratis aneignen, stellt Marx bereits im Manufakturkapitel fest (Kapital I, Kapitel 12). Es handelt sich also keineswegs um ein dem „Postfordismus“ eigenes Phänomen. Auch hier verweist Negri lediglich auf die von Marx unter den Stichworten „Mehrwert“ und „Ausbeutung“ beschriebenen Sachverhalte. Nichts, was Negri anführt, rechtfertigt mehr als moralische Empörung über die Funktionsweise des „Wertgesetzes“. Von einem Beweis seiner Hinfälligkeit kann auch hier keine Rede sein.

Negris Ausführungen über die vermeintliche Unmöglichkeit, intellektuelle Arbeit anhand der Begriffe der einfachen Arbeit und der Kooperation zu erklären, wiederholen lediglich dieselbe ungenügende Argumentation in leicht abgewandelter Sprache. Negri bemüht den Begriff der „Kreativität“, um auf das Gefälle zwischen den Gehältern von Kopfarbeitern und den aus den Entdeckungen dieser Kopfarbeiter entspringenden Gewinnen aufmerksam zu machen. Der Wert solcher Entdeckungen steht Negri zufolge in keiner Beziehung zu den voran gegangenen unternehmerischen Ausgaben, auch dann nicht, wenn bei der Bezifferung dieser Ausgaben zusätzlich zu den Gehaltskosten auch die Kosten für Produktionsmittel berücksichtigt würden. Der geschaffene Wert lasse sich auch nicht aus dem kooperativen Charakter der Arbeit erklären (Negri 1992, S. 33). Zu diesem Hinweis auf die Rätsel menschlicher Kreativität ist nicht mehr zu sagen als: Thema verfehlt. Die schöpferischen Potenzen des menschlichen Intellekts mögen wohl auf ein außerökonomisches Terrain verweisen, dem mit einem rein quantitativen Ansatz nicht beizukommen ist. Den gewöhnlichen Unternehmer interessiert dieser Aspekt intellektueller Arbeit aber wenig. Ihm geht es um exakt bestimmbare Größen wie Arbeitszeiten und Lohn- bzw. Gehaltskosten. Auch intellektuelle Arbeit findet bekanntlich als kapitalistisch kommandierte in den entsprechenden Kalkulationen ihren Platz.

Abschreibung des Wertgesetzes (2): Wertsubstanz und Wertmaß

Negris zweiter Argumentationsstrang hat einen recht scholastischen Beigeschmack. Zugrunde liegt ihm Negris eigenwillige Auslegung des Begriffs „reelle Subsumption“. Wie oben ausgeführt, geht Negri davon aus, dass der Übergang von der „formellen“ zur „reellen“ Subsumption sehr viel jüngeren Datums ist, als meist angenommen. Dieser Übergang hat sich Negri zufolge im Anschluss an die betrieblichen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der 1960er und 1970er Jahre vollzogen. Die im Gefolge dieser Auseinandersetzungen entstandene Gesellschaftsordnung charakterisiert Negri nicht nur als „postfordistisch“, sondern auch als „postindustriell“ und „postmodern“.24

Negris Ausführungen zu Wertsubstanz und Wertmaß stützen sich auf zwei Thesen, die vielen LeserInnen als wenig einleuchtend oder sogar kontrafaktisch erschienen sind, wo ihre zuweilen kryptische Formulierung nicht einfach Verwirrung hervorgerufen hat. Im Folgenden versuche ich, mehrere mögliche Interpretationen dieser Thesen aufzuzeigen, um dann die ihnen zugrunde liegenden Prämissen näher zu untersuchen.

Der ersten These zufolge sind heute, im Zeitalter der reellen Subsumption, alle Gebrauchswerte zu Tauschwerten gemacht, d. h. vom Kapital subsumiert worden (Negri 1992, S. 34). Das ließe sich etwa auf die Privatisierung vormals im kommunalen Besitz befindlicher Güter oder auf die Kommodifizierung natürlicher Gebrauchswerte (beispielsweise Wasser) beziehen. Negris These liefe dann auf die offenkundig kontrafaktische Behauptung hinaus, dass solche Vorgänge heute zum Abschluss gelangt seien.25 Tatsächlich scheint Negri in erster Linie den Gebrauchswert der menschlichen Arbeitskraft im Sinn zu haben. Seine These würde also besagen, dass die menschliche Arbeitskraft weltweit zur Ware geworden sei, dass sich also das dem Kapitalismus eigene Verständnis der menschlichen Arbeitskraft als einer Ware weltweit durchgesetzt habe. (Auch dies wäre kontrafaktisch.)26 

Der zweiten These Negris zufolge steht mittlerweile alle Zeit dem Kapital als produktive zur Verfügung. Diese These behauptet bedeutend mehr, als dass der gesellschaftliche Gesamtarbeitstag seine größtmögliche Ausdehnung erfahren habe, jedenfalls wenn davon ausgegangen wird, dass der Gesamtarbeitstag weiterhin in notwendige Arbeit und Mehrarbeit zerfällt, denn notwendige Arbeit schafft keinen Mehrwert und ist damit unproduktiv in dem von Marx vorausgesetzten Wortsinn.

Negris These ist auch nicht auf den banalen Hinweis zu reduzieren, dass zwar nicht von allen Menschen unentwegt, aber doch zu jedem Zeitpunkt von irgendwem Mehrarbeit geleistet werde. Die These ist viel radikaler: Alle Menschen seien Zeit ihres Lebens produktiv im Sinne der politischen Ökonomie. Diese These ist nur haltbar, wenn die restlose Hinfälligkeit jeder Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, Produktion und Reproduktion, notwendiger Arbeit und Mehrarbeit vorausgesetzt wird. Eben darauf zielt Negris erste These möglicherweise ab. Würden Nicht-Arbeit, Reproduktionsarbeit und notwendige Arbeit einem vom Tauschwert abgetrennten Bereich reiner Gebrauchswerte zugeschlagen, dann würde die Hinfälligkeit der Unterscheidung zwischen Gebrauchswert und Tauschwert tatsächlich bedeuten, dass Nicht-Arbeit zu Arbeit, Reproduktion zu Produktion und notwendige Arbeit zu Mehrarbeit geworden wäre. Lebenszeit und Produktionszeit würden vollends in eins fallen.

Diese Vorstellung scheint mir logisch unhaltbar. Genauer: Sie entzieht eben jenen Begriffen, auf die sich stützt, jeglichen Sinn. Die Unterscheidung zwischen Produktion und Reproduktion ist tatsächlich auf vielerlei Weise problematisch, wie von der feministischen Marx-Kritik der 1970er und 1980er Jahre ausführlich dargelegt. Was aber die Begriffe der notwendigen Arbeit und der Mehrarbeit angeht, so bleiben sie nur so lange sinnvoll, wie sie als sich wechselseitig ausschließend verstanden werden: Wo notwendige Arbeit geleistet wird, wird keine Mehrarbeit geleistet und umgekehrt. Dasselbe gilt offenkundig von der Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit.27 Eine widerspruchsfreie Verwendung dieser Begriffe wird in dem Moment unmöglich, in dem die mit ihnen einhergehenden Unterscheidungen für hinfällig erklärt werden.

Aus der vermeintlichen Identität von Lebenszeit und Produktionszeit schließt Negri auf die Hinfälligkeit des Wertgesetzes (Negri 1992, S. 34).28 Gemeint ist offenbar, aufgrund dieser Identität erübrige sich jede quantitative Bestimmung des Verhältnisses von Lebenszeit und Produktionszeit.29 Dem liegt allerdings eine unzulässige Begriffsverschiebung zugrunde. Denn nicht zur Bestimmung des Verhältnisses von Lebenszeit und Produktionszeit dient das „Wertgesetz“ bei Marx, sondern es zielt auf das Verhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit. Beide gehören der Produktionszeit an: Der Begriff der Lebenszeit tut nichts zur Sache.

Negri bietet noch eine alternative Formulierung seiner Behauptung bezüglich der Identität von Lebenszeit und Produktionszeit: Substanz und Maß, schreibt er, würden nunmehr völlig in eins fallen. Dieser recht dunkel bleibende Ausspruch scheint einfach den bekannten Dichotomien Gebrauchswert / Tauschwert, Qualität / Quantität und Lebenszeit / Produktionszeit eine weitere an die Seite stellen zu wollen – um dann in gewohnter Manier die Identität der Gegensätze zu behaupten und daraus wiederum die Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ abzuleiten.30

Gegen einen solchen Argumentationsgang ließe sich einiges einwenden. Kritisch zu hinterfragen wäre insbesondere Negris Neigung, aus begrifflichen Unterscheidungen absolute Gegensätze zu machen. Diese Neigung ist bei einem Autor, der sich zumindest teilweise auf Marx bezieht, insofern erstaunlich, als sie mit einer wesentlichen Marxschen Denkfigur nicht in Einklang zu bringen ist: Was beschreibt etwa die Marxsche Definition der Ware anderes als das – freilich spannungsreiche – Aufeinandertreffen zweier klar zu unterscheidender Begriffe (Gebrauchswert und Tauschwert) in ein und demselben Gegenstand?31

Tatsächlich scheint es in Negris Ausführungen oft weniger um die Kritik der politischen Ökonomie zu gehen als um seinen langjährigen Zwist mit der Dialektik Hegels. Negri lässt kaum eine Gelegenheit verstreichen, sich zum Gegner dialektischen Denkens zu erklären.32 Wie H. Cleaver und viele andere ausgeführt haben, lassen sich viele Marxsche Unterscheidungen, wie etwa die zwischen Gebrauchswert und Tauschwert, als Hegelsche Gegensatzpaare verstehen.33 Tatsächlich könnte sich hinter Negris Behauptung bezüglich der Hinfälligkeit des „Wertgesetzes“ letztlich wenig mehr verbergen als ein weiterer Ausdruck seiner Bestrebungen, das „Ende der Dialektik“ zu beweisen (Negri 1977b, S. 110). Wenn Negris Ausführungen zu Wertsubstanz und Wertmaß bei vielen um das Verständnis der aktuellen Ausbeutungsverhältnisse bemühten LeserInnen immer wieder Verwirrung hervor rufen, dann liegt das möglicherweise einfach daran, dass es in diesen Ausführungen um etwas ganz anderes geht als um Fragen der politischen Ökonomie, nämlich um die Zurückweisung der in Hegels Logik entwickelten philosophischen Methode.

Eine letzte Anmerkung zu dieser Problematik: Nachdem er die oben referierten Behauptungen formuliert hat, bemerkt Negri, ökonomische Ausbeutung bestehe auch im aktuellen Kapitalismus fort, obgleich sie keine quantitative, arbeitswerttheoretische Bestimmung mehr zulasse. Diese Bemerkung ist jedenfalls so lange widersprüchlich, wie die Marxsche Bestimmung des Ausbeutungsbegriffs (Auspressung von Mehrarbeit) beibehalten wird. Die Auspressung von Mehrarbeit lässt sich nur so lange sinnvoll konstatieren, wie sich zeigen lässt, dass der Arbeitstag einen zeitlichen Überschuss gegenüber der notwendigen Arbeit enthält. Wie das aber unter Preisgabe des „Wertgesetzes“ gezeigt werden soll, verrät Negri nicht.


 

Zitierte und im Text erwähnte Literatur

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Anmerkungen

1. Henninger (2007). Beim Übersetzen habe ich Änderungen am Original vorgenommen. Es handelt sich im Wesentlichen um Ergänzungen und Verdeutlichungen.

2. Vgl. Roth (2005), S. 46-61.

3. Diese Verwendung des Begriffs „Fordismus“ hat sich mittlerweile durchgesetzt, obwohl sie historisch fragwürdig ist. Vgl. Gambino (1996).

4. Dem „Wertgesetz“ zufolge ist der Wert einer Ware durch die zu ihrer Herstellung im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit bestimmt. Eine klassische, von Marx verwendete Illustration: Diamanten werden solange eine besonders wertvolle Ware sein, wie ihre Entdeckung, Förderung und Verarbeitung in der Regel einen vergleichsweise hohen Arbeitsaufwand erfordert (vgl. MEW 23, S. 54). Dass nicht die im Einzelfall tatsächlich verausgabte, sondern einzig die im gesellschaftlichen Durchschnitt notwendige Arbeitszeit den Wert des Arbeitsprodukts bestimmt, wird oft vergessen und soll daher noch einmal ausdrücklich betont werden. Wenn eine Ware, deren Produktion heute noch einen hohen Arbeitsaufwand erfordert, morgen aus welchen Gründen auch immer zur Naturgabe wird und also allerorts gratis zu haben ist, dann werden auch jene Exemplare dieser Ware, die heute noch unter großen Mühen hergestellt werden, morgen vollkommen wertlos sein. Umgekehrt werden Gebrauchswerte, die heute als kostenlose Naturgaben verfügbar und also noch nicht warenförmig oder ohne Tauschwert, d. h. im ökonomischen Sinne wertlos sind, morgen Waren und Träger eines bestimmten Tauschwerts sein, wenn sich im Laufe der Nacht die Welt so verändert, dass diese Gebrauchswerte fortan nur mehr unter der Bedingung zu haben sind, dass sie kapitalistisch, also u. a. unter Verausgabung eines durchschnittlich bestimmbaren Quantums an Arbeitskraft, hergestellt werden. 

5. Siehe etwa Negri (1997b), S. 33-34. Dieses Buch wurde 1980-81 verfasst und entwickelt Überlegungen, die sich bereits in Diskussionspapieren Negris aus den 1970er Jahren finden.

6. Als Theoriegeschichte des Operaismus kann die Studie von Steve Wright (2004) empfohlen werden.

7. Siehe Tronti (1966). Marx zufolge ist die Auspressung „absoluten“ Mehrwerts vor allem frühkapitalistischen Gesellschaften eigen, in denen sich Kapitalisten Arbeitsleistungen aneignen, ohne den Arbeitsprozess wesentlich zu verändern. Dies nennt Marx die „formelle Subsumption der Arbeit unter das Kapital“. Unter solchen Bedingungen entsteht Mehrwert dadurch, dass der Arbeitstag über die Zeit hinaus verlängert wird, die notwendig ist, um ein Produkt herzustellen, dessen Wert dem der vom Unternehmer kommandierten Arbeitskraft entspricht (Verlängerung des Arbeitstags über die „notwendige Arbeitszeit“ hinaus). Nach Marx bringt die weitere Entwicklung des Kapitalismus eine neue, stärker an den Bedürfnissen der Kapitalakkumulation ausgerichtete Organisation des Arbeitsprozesses mit sich. Aufgrund etwa von technologischen Neuerungen können dann bei gleich bleibender oder sinkender Arbeitszeit Waren von höherem Wert hergestellt werden, d. h. die Produktivität der Arbeit steigt. Diesen Vorgang bezeichnet Marx als den der „reellen Subsumption der Arbeit unter das Kapital“. Bleibt der Wert der Arbeitskraft derselbe oder steigt er zumindest nicht so schnell wie der Wert der produzierten Warenmasse, verschiebt sich das Verhältnis von notwendiger Arbeit und Mehrarbeit zugunsten letzterer, so dass auch ohne Verlängerung des Arbeitstages ein größerer Mehrwert produziert wird. Dies bezeichnet Marx als Auspressung „relativen Mehrwerts“. „Die Produktion des absoluten Mehrwerts dreht sich nur um die Länge des Arbeitstags; die Produktion des relativen Mehrwerts revolutioniert durch und durch die technischen Prozesse der Arbeit und die gesellschaftlichen Gruppierungen“ (MEW 23, S. 532-533).

8. Siehe Panzieri (1994), insbesondere S. 79-83.

9. Zur Umstrukturierung bei FIAT vgl. Autonomie / Neue Folge (1982), Revelli (1989) u. Revelli (1996). Bezüglich technologischer Neuerungen und „wissenschaftlicher“ Organisation des Produktionsprozesses im Allgemeinen ist daran zu erinnern, dass ihr Einsatz zwecks Auspressung relativen Mehrwerts und Zerschlagung proletarischer Militanz eine lange Geschichte hat. Von besonderer Bedeutung war die Einführung der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ F. W. Taylors in den US-Stahlbetrieben des frühen 20. Jahrhunderts. Vgl. Braverman (1974).

10. Etwa durch den Einsatz von so genannten „Robotgate“-Mehrzweckrobotern in den Schweißereien. Diese Roboter erforderten zu ihrer Bedienung vier Arbeiter, wo früher zwanzig nötig gewesen waren, so dass schon bald von „Gespensterfabriken“ die Rede war. Vgl. Autonomie / Neue Folge (1982), S. 26-36. Nicht vergessen werden sollte, dass die Automatisierung nur möglich war, weil sie von einer starken Repression flankiert wurde. Bevor die Umstrukturierung begann, wurden die militantesten Arbeiter entlassen.

11. Wobei diese Angewiesenheit freilich bereits vorher sehr ausgeprägt war und in den 1960er Jahren auch intensiv diskutiert wurde. Zu den Ergebnissen solcher Diskussionen in der BRD vgl. etwa Roth (1970) und Krahl (1971). Krahls Thesenpapier wurde auch in Italien rezipiert.

12. Vgl. Negri (1977a), Negri (1979).

13. Die Entwicklung der Fließfertigung, die zivile Nutzung der Atomenergie, der Einsatz genetisch veränderten Saatguts und die elektronische Datenverarbeitung waren alle mit Produktivitätssprüngen verbunden. Sie machten Arbeitsleistungen, auf die Unternehmer zuvor angewiesen waren, entbehrlich und steigerten die organische Zusammensetzung des Kapitals, senkten also den Anteil der Lohnkosten am Gesamtkapital. Bekanntlich führte keiner dieser Produktivitätssprünge zum Niedergang des Kapitalismus. Es bedarf auch keiner besonderen Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass mindestens ein Wirtschaftssektor, der sich durch eine hohe organische Zusammensetzung auszeichnet und dabei dem „allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem Fortschritt der Technologie“ viel zu verdanken hat, nämlich der Nuklearsektor, für die Menschheit möglicherweise ein ganz anderes Schicksal bereit hält als den Kommunismus.

14. Der Begriff der „historischen Tendenz“ (Negri 1997, S. 48-50) wird in dem hier zu verhandelnden Text Negris nicht ausdrücklich ins Spiel gebracht, durchzieht aber dennoch den Großteil von Negris Gesamtwerk und verrät häufig das Bedürfnis, eine solche argumentative Hintertür offen zu halten.

15. Ich gehe hier davon aus, dass die Arbeitskraft tatsächlich eine Ware ist, obwohl dieser Marxsche  Lehrsatz mittlerweile in Frage gestellt wird.

16. Für nicht-marxistische Ökonomen besteht hier überhaupt kein Problem, da sie eine hinter den Warenpreisen verborgene Ebene der Arbeitswerte nicht anerkennen. I. Steedman (1977) und andere sind denn auch zu dem Schluss gelangt, ein zeitgemäßer Marxismus müsse es diesen Ökonomen gleichtun und sich mit der Analyse der Produktionskosten und ihrer Beziehung zu den Warenpreisen begnügen.

17. Tatsächlich sehen sich Ökonomen wie Steedman durchaus in der Lage, ohne Rückgriff auf den Marxschen Wertbegriff von Ausbeutung im Sinne der Auspressung von Mehrarbeit zu sprechen. Sie tun dies, indem sie tatsächlich Preis- anstelle von Wertgrößen setzen, also etwa den Lohn anstelle des Wertes der Arbeitskraft. Ob sich dieser Ansatz allerdings durchhalten lässt, ist kontrovers. Gerade im Fall der Marxschen Theorie ist es zweifelhaft, ob sich einzelne Begriffe aus ihr übernehmen lassen bei gleichzeitiger Verabschiedung anderer, ganz so, als würden diese Begriffe nicht solcherart wechselseitig auf einander verweisen, dass die Richtigkeit des einen von der des anderen abhängt.

18. G. Caffentzis schreibt: „Wenn sich der Wert jeglichem Maß entzieht, dann ist entweder jene antikapitalistische Theorie, die Hardt und Negri als Ideal vorschwebt, erklärtermaßen für quantitative Erklärungen nicht zu gebrauchen oder die Aufgabe quantitativer Erklärung ist sogar insgesamt aufzugeben, da der postmoderne Kapitalismus tatsächlich nichts aufweist, was zu messen sich lohnen würde“ (Caffentzis 2005, S. 99). Im weiteren Verlauf seines Aufsatzes führt Caffentzis auf dankenswerte Weise aus, wie zahlreiche Aspekte des gegenwärtigen Kapitalismus sehr wohl nach einem quantitativen Erklärungsansatz verlangen. Vgl. Caffentzis (2005), S. 100-104.

19. G. Caffentzis beschreibt dies als Einebnung der aristotelischen Unterscheidung zwischen Arbeit und Tätigkeit und betont zurecht, dass dieser theoretische Schritt auf eine radikale Absage an Marx und insbesondere an dessen Aufmerksamkeit für die quantitativen Aspekte ökonomischer Vorgänge hinausläuft. Zu Negris Arbeitsbegriff bemerkt Caffentzis, er beziehe sich offenbar „nicht auf das, was Milliarden von Menschen auf dem gesamten Planeten jeden Tag tun, und zwar unter der Aufsicht von Bossen, die sehr daran interessiert sind, wieviel Zeit die Arbeiter bei der Arbeit verbringen und wie gut sie ihre Arbeit von Mal zu Mal erledigen“ (Caffentzis 2005, S. 97). Siehe auch Cleaver (2005), S. 121-122. Cleaver zeigt dort sehr anschaulich, dass sich das Leben vieler Menschen anhand des klassischen Marxschen Arbeitsbegiffs recht wahrheitsgetreu beschreiben lässt.

20. Zu dieser Unterscheidung vgl. Kapital I, Kapitel 14 (MEW 23, S. 531-541), außerdem Marx (1988), S. 144-158, sowie Theorien über den Mehrwert I, Kapitel 4 (MEW 26.1, S. 122-277). Produktive Arbeit ist Arbeit, die gegen Lohn verrichtet wird und Mehrwert produziert. Daraus folgt, dass produktive Arbeit zwar immer Lohnarbeit ist, Lohnarbeit aber nicht zwingend produktive Arbeit. Zu den Lohnarbeitern, die keine produktiven Arbeiter sind, zählt Marx in den Theorien über den Mehrwert etwa Fabrikaufseher: Theorien über den Mehrwert III (MEW 26.3), S. 347-349, 484-488, 495-497.

21. „Das Produkt verwandelt sich […] aus dem unmittelbaren Produkt des individuellen Produzenten in ein gesellschaftliches, in das gemeinsame Produkt eines Gesamtarbeiters, d. h. eines kombinierten Arbeitspersonals, dessen Glieder der Handhabung des Arbeitsgegenstandes näher oder ferner stehn. Mit dem kooperativen Charakter des Arbeitsprozesses selbst erweitert sich daher notwendig der Begriff der produktiven Arbeit und ihres Trägers, des produktiven Arbeiters. Um produktiv zu arbeiten, ist es nun nicht mehr nötig, selbst Hand anzulegen; es genügt, Organ des Gesamtarbeiters zu sein, irgendeine seiner Unterfunktionen zu vollziehn“ (MEW 23, S. 531). Marx betont (in der Nachfolge von Smith) immer wieder, die Bestimmung einer Arbeit als produktiv oder unproduktiv sei „nicht genommen aus der stofflichen Bestimmung der Arbeit (weder der Natur ihres Produkts noch der Bestimmtheit der Arbeit als konkreter Arbeit), sondern aus der bestimmten gesellschaftlichen Form, den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen, worin sie sich verwirklicht“ (MEW 26.1, S. 127). Die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit hat also „nichts zu schaffen weder mit der besondren Spezialität der Arbeit noch mit dem besondren Gebrauchswert, worin sich diese Spezialität verkörpert“ (MEW 26.1, S. 130). Gebrauchswerte müssen bekanntlich nicht stofflich sein.

22. Harvie (2005) diskutiert die Unterscheidung zwischen produktiver und unproduktiver Arbeit im Lichte der aktuellen Arbeitsverhältnisse und geht dabei sehr sorgfältig auf die betreffenden Aussagen von Marx ein. Die Schlüsse, die er aus seiner Untersuchung zieht, sind für mich allerdings nicht nachvollziehbar.

23. Siehe Negri (1992). Ich danke an dieser Stelle A. Corsani dafür, dass sie mich auf diesen Aufsatz aufmerksam gemacht hat. Es handelt sich um die ausführlichste Begründung Negris für seine Position bezüglich des Wertgesetzes.

24. Caffentzis schreibt dazu: „Diese Begriffsbestimmung hat einen gewissen Reiz, entspricht aber sicherlich nicht Marxens historischen Annahmen. Marx begriff die reelle Subsumption nicht als etwas  „zukünftiges“, sondern er sah sie als zu seinen Lebenszeiten vollends verwirklicht an“ (Caffentzis 2005, S. 104).

25. Die Kommodifizierung natürlicher Gebrauchswerte ist längst nicht abgeschlossen, wenn sie auch rasant voranschreitet. Dass Negri auf solche Kommodifizierungsprozesse anspielt, erklärt sicherlich teilweise den Reiz, den seine Theoreme auf viele LeserInnen ausüben. Das gilt auch für Negris Verwendung des Begriffs „Biopolitik“ (M. Foucault), zu der allerdings anzumerken ist, dass sie rein suggestiv bleibt und sich gegen jede empirische Überprüfung sperrt.

26. Unbezahlte Hausarbeit wäre eines unter zahlreichen möglichen Gegenbeispielen.

27. Wenn es so etwas wie eine physiologische Grenze des Arbeitstages gibt, wenn also der Arbeitstag, wie Marx annimmt, „weniger als ein natürlicher Lebenstag“ ist (MEW 23, S. 247), dann gibt es auch eine gültige Unterscheidung zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit. Natürlich handelt es sich letztlich um eine Definitionsfrage: So manches, was Negri als Arbeit bestimmt, hätte Marx als Nicht-Arbeit aufgefasst.

28. Diese Textstelle ist weitgehend identisch mit Negri (1997b), S. 30-31.

29. Unmöglich wäre eine solche Bestimmung zwar nicht, das Ergebnis wäre aber allemal tautologisch. Die Ausdrücke „Lebenszeit“ und „Produktionszeit“ würden sich nicht anders zu einander verhalten als die Ausdrücke „ein Tag“ und „24 Stunden“, d. h. wir hätten es nur noch mit einer logischen oder linguistischen Unterscheidung zu tun.

30. Negris Begrifflichkeit spielt nicht nur auf Hegel (1969, S. 387-445) an, sondern auch auf Marxens Ausführungen zu „Wertsubstanz“ und „Wertgröße“ im ersten Kapitel des Kapital (MEW 23, S. 49-55). Cleaver (1979, S. 87-127) hat in seinem nach wie vor lesenswerten Kommentar zu diesen Ausführungen gezeigt, dass die Bezugnahme auf sie nicht zwingend in spekulativen Höhenflügen nach Art des hier kritisierten Textes von Negri enden muss. Wenn ich in meinen Ausführungen von „Wertmaß“ spreche, dann ist das meine etwas freie, aber um die Herstellung des Bezuges zu Marx bemühte Übersetzung von Negris „misura“ (wörtlich einfach „Maß“). Cleaver spricht von „magnitude“, was dem deutschen Wort „Größe“ genauer entspricht als „misura“. Ich will nicht ausschließen, dass die eine oder andere sprachliche Lockerheit der italienischen Marx-Übersetzung das ihrige zu Negris sehr freiem Umgang mit Marxschen Begriffen beigetragen hat.

31. Vgl. dazu Cleaver (1979), S. 89-99.

32. Solche Erklärungen finden sich insbesondere in Negri (1981) und Negri (1987), siehe aber auch Negri (1977b), insbesondere S. 110.

33. Vgl. Cleaver (1979), S. 87-173. Cleaver warnt freilich auch vor überzogen „dialektischen“ Marx-Interpretationen (S. 31-32).