Gerdas und anderer Schweigen

Obwohl der Film – ob aufgrund stabsmäßig geplanter PR-Arbeit oder
weil er einem im Oktober vor zwei Jahren vielbesprochenen und gelobten
Buche folgte und sein Sujet potentiellen Interessenten quasi geläufig war
– eine sehr gute und sehr ausführliche Presse hatte, war der Dokumentarfilm
Gerdas Schweigen (von Britta Wauer, nach dem gleichnamigen
Buch von Knut Elstermann) in der letzten Novemberwoche gerade noch
in zwei Berliner Kinos zu sehen, er war quasi »durch«; und außerhalb
Berlins wird es kaum anders gewesen sein, eher noch trauriger. Deutsches
Dokfilmschicksal. Da aber an der Produktion des Films auch etliche
öffentlich-rechtliche Fernsehanstalten beteiligt waren, ist es nicht
ausgeschlossen, daß Gerdas Schweigen irgendwann auch im Fernsehen
gezeigt werden wird; nach 23 Uhr, versteht sich.


Ob der heftigen – wenn auch kurzzeitigen – Publizität, die dieser Geschichte
der Berliner Jüdin Gerda, Tante des Knut Elstermann, die Auschwitz
überlebt hatte und seit 1947 in New York lebt, zuteil geworden war,
muß sie hier nicht referiert werden; und »bewerten« läßt sich Leben ohnehin
nicht. Zumal das Schweigen dieser Frau nicht jenen Schweigereienzuzuordnen ist, derer wir uns jahrzehntelang befleißigten und denen wir
– es ist, wie es ist – immer noch allzu gern verfallen. Ich rede jetzt nicht
da-von, daß die vielen Märchen und Sprachregelungen, gerade wenn es
um Geschichte ging und geht, seit jeher in Propagandaabteilungen oder
PR-Stäben ausgeheckt werden, sondern davon, wie bereitwillig wir gegebenenfalls
derartigen Vorgaben folgen; daß es dazu nicht immer einer
»füh-renden Partei« bedarf, können wir Tag um Tag erleben.


Nein, das Schweigen der Gerda hatte sehr persönliche Gründe, Gründe,
die ihr von keiner political correctness oktroyiert worden waren. Wenn in
diesem Falle schon von Correctness gesprochen werden soll, dann ist
diese allenfalls moralischer Natur; was natürlich – unterm Strich – zu
ähnlichen Verwerfungen führen kann, wie die politische. Gerda hatte ihrer
New Yorker Familie jahrzehntelang verschwiegen, daß sie in Auschwitz
ein Kind geboren hatte – das Mengele dann zielstrebig verhungern
ließ: eine gläubige Jüdin, ledig, schwanger … Das wäre für ihre amerikanischen
Familie und vor allem für ihren Sohn nicht zusammengegangen,
es wäre moralisch unzumutbar gewesen. Also schwieg sie, Gerdas
Schweigen. Bis sie Knut Elstermann zum Reden brachte.


Ich kann mir nicht vorstellen, daß es auch nur einen Leser des Buches
oder einen Besucher des Films gegeben haben könnte, der nicht Verständnis
für die Frau gehabt hat, sich nicht jeglicher Besserwisserei enthalten
hat. Obwohl diese Gerda-Geschichte doch eigentlich so gar nicht
unseren oft gestanzten Geschichts- und Geschichtenmustern entspricht,
die wir uns aus Literatur, Unterricht und Begegnung über lange Zeiträume
hinweg angeeignet haben.


Mir will scheinen, es ist irgendwie tragisch, daß Betroffene, auch Überlebende
von Auschwitz und anderen Lagern (von denen immer weniger
Zeugnis ablegen können …), zum Teil mitschuldig an holzschnittartigen
Bildern über ihre Leidenszeit sind. Abgesehen davon, daß wir
Unbetroffenen oder Nachgeborenen jedem Versuch, derartige Bilder zu
»ergänzen«, in der Regel immer mißtrauisch begegneten (wir wollten
Opfer-Helden), war auch von Naziopfern in dieser Hinsicht wenig zu erwarten.
Daß dieses Verhalten in der DDR besonders ausgeprägt war,
wird, wer die Um- und Zustände jener Zeit berücksichtigt, nicht verwunderlich
finden.


Ein in dieser Hinsicht geradezu exemplarisches Beispiel war die Veröffentlichung
– beziehungsweise eben Nichtveröffentlichung … – des
Buches Das Mädchenorchester von Auschwitz der französischen Sängerin
Fania Fenelon. Das Buch war 1976 in Paris erschienen und kam vier
Jahre später im Röderberg Verlag Frankfurt am Main heraus. Obwohl
Fania Fenelon in der DDR wohlgelitten und durch ihre Tourneen nicht
unbekannt war und obwohl eine Charakterisierung des Frankfurter Verlags als DKP- beziehungsweise DDR-nah noch eine gehörige Untertreibung
wäre – den Weg in die DDR fand dieses Buch trotzdem nicht. Das
Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR – insonderheit
sein Auschwitz-Komitee, dem dazumal eine Frau vorstand – war strikt
dagegen gewesen.


Wer sich dennoch Zugang zu diesem Buch hatte verschaffen können
(indem er zum Beispiel als Redakteur beim Röderberg Verlag ein Rezensionsexemplar
bestellte – gegen das dann nicht einmal die Zollverwaltung
der DDR etwas einzuwenden haben würde …), war fassungslos
über das, was er dort zu lesen bekam. Das hatte er über Auschwitz noch
nicht gehört, geschweige denn gelesen. Und er begriff, weshalb diejenigen
»Auschwitzer«, die im Gegensatz zu Fania Fenelon, in staatlich geordnete
Gedenk- und Erinnerungsabläufe eingebunden waren, dieses
Buch vehement nicht mochten und seine Verbreitung kraft ihrer politischen
und moralischen Autorität verhinderten – Trinkgelage und Sexorgien
von Häftlingen und Bewachern ? Das mußte verschwiegen werden,
das war dem Heldentum abträglich.


Vermutlich werden wir mit derartigen oder ähnlichen Konstruktionen
solange zu leben haben, wie es bei Geschichte nicht in erster Linie um
Geschichte, sondern vordergründig um Politik, um das jeweils Heutige
geht. Und wann geht es schon nicht darum?