Sumpf

Einen guten Steinwurf vom Kreml entfernt, liegt südlich der Moskwa der
Sumpfplatz. Dmitri Medwedjew, derzeitiger Kremlchef, will mit einem
Paket von Gesetzentwürfen ab 1. Januar kommenden Jahres den Sumpf
der Korruption, ein Grundübel sowjetischer wie rußländischer Staatsgeschäfte,
trockenlegen. Was erlebt und wie sieht ein »individueller« Rußlandfahrer
Korruption?

Die Paßkontrolle auf dem Flughafen Wnukowo, einer von drei großen
Moskauer Zivilflughäfen, ist Momentsache. Der Zollkontrolle bedarf es
nicht. Strenge Sitten haben sich geändert. Vor dem Hauptausgang wird
ein »Dispatcher« nach einem Taxi gefragt. Ein Fahrer in Lauerstellung
wieselt heran und fährt uns für den stolzen Preis von 2 500 Rubeln (den
er vermutlich mit dem Dispatcher teilen wird) zu unserer Unterkunft.


Die Begegnungen mit Dispatcher und bereitstehendem Schwarz-Taxi
sind erste Erfahrungen mit der »prichvatizacija«. Dieses verbreitete russische
Wortspiel setzt »Privatisierung« mit »prichvatit’«, »sich untern Nagel
reißen, soviel, wie es nur geht, an sich reißen«, gleich. Moskauer wenden
es auf Oligarchen vom Typ Chodorkowski wie Beresowski oder die Frau
Jelena Baturina, Ehegespons des Oberbürgermeisters Luschkow, an, letztere
mit nahezu ungezügeltem Zugriff auf Bauland und Bauaufträge, die
sich im Handumdrehen oder unter der Hand in klingende Münze verwandeln.
Milliardärin wie Milliardär hat sich ihre Vermögen durch die
Bank »untern Nagel gerissen«, mit dem Segen der jeweiligen sowjetischen
Obrigkeit beziehungsweise der neuen Oberen Rußlands, versteht sich.
Jetzt nennen sie auch Banken ihr eigen, oder Banken besorgen ihre weltweiten
Geschäfte. Die ursprüngliche Akkumulation dauerte bei ihnen in
der Umbruchzeit wenige Monate bis wenige Jahre, bei den Schwarz-Taxen
oder den zahllosen Betreibern der das Moskauer Stadtbild verschandelnden
Mini-Kioske wird es wohl ein Leben lang dauern. Sie mögen soviel
Schmu machen, wie sie nur können.


Ihren Schnitt bereits gemacht haben in Rußland all jene, die am Reichtum
des Landes, an Erdöl, Gas und anderen Bodenschätzen sowie in der
Rüstungswirtschaft, im Export, verdienen. Nicht umsonst ist der Bundesstaat
Rußland nach den USA und vor der Bundesrepublik Deutschland
der zweitgrößte Exporteur an Rüstungsgütern. In Sachen Korruption findet
der Wißbegierige Rußland auf Platz 147 bei untersuchten 180 Staaten.
Also auch dabei ein Spitzenplatz.


Die Kehrseite einer einseitigen und durch Korruption nur für Auserwählte
einträglichen Wirtschaft ist, daß es nur noch eine reduzierte eigene
Industrie und kaum noch eine Landwirtschaft gibt. An deren Stelle
sind Industriebrachen und immer mehr Brachland getreten. Diese
Prozesse zogen entsprechende soziale Folgen für die Arbeiter- wie die
Bauernschaft nach sich.


Auf Nummer sicher fährt die Beamtenschaft Rußlands. Ihr geht es besonders
deshalb gut, weil sie sowohl die kleineren als auch die größeren
Knöpfe des Staatsapparats bedienen darf. Große Teile dieser Beamtenschaft
sind bis auf die Knochen korrupt. Ohne Beziehungen plus diskret
überreichte oder zugeschobene »Bezüge« außerhalb des offiziellen Programms
läuft ein größeres Geschäft nur schwerlich.

Achtzig Prozent der Finanzmacht Rußlands sind in Moskau konzentriert.
Von den zehn Prozent der industriellen Macht, die Moskau während der
Sowjetunion beispielsweise im Werkzeugmaschinenbau, stellte, ist nahezu
nichts geblieben.


Die »neuen Russen« sind hochgespülter Bodensatz der Sowjetgesellschaft,
Protze ohne Lebensart, deren Werte auf Wertpapiere reduziert
sind. Aus den Reihen der »neuen Russen« kommen auch jene, die sich in
der politischen Strömung »Naschi«, das meint »Uns, die wir zusammengehören
«, organisiert haben. Sogar Dessous zeigen dort, wo auch die
längsten Beine einmal zu Ende gehen, das Zugehörigkeitssymbol: »Naschi
«. Ihre Widersacher bezeichnen diese Schicht nicht ohne Grund als
die »Naschisten«.


Für Bildungshungrige gibt es ohne Bestechung oder Fürsprache nur
schwer einen Zugang zu prestigeträchtigen Universitäten beziehungsweise
Hochschulen. Jede gute medizinische Betreuung hat ihren Preis,
die übliche Behandlung auf niedrigem Niveau kann das Leben kosten.
Wer Karriere machen will, kauft sich oder den lieben Kinderchen exquisite
Zeugnisse. Titel gehen nach Angebot und Nachfrage über die Tische.
Über diese wiederum werden all jene fleißigen und klugen Studenten
gezogen, die durch Leistungen zu Kenntnissen und Können gekommen
sind, aber über keine Verbindungen verfügen, die den Weg zu einer Stelle
öffnen. Viele von ihnen verlassen das Land. In den USA und in Großbritannien
werden sie mit Kußhand genommen.


Die Mehrheit der Ärzte und Ingenieure im Lande sowie die Lehrerschaft
gehören neben den Rentnern zu den am schlechtesten bezahlten
Bevölkerungsschichten. Am unteren Rand leben die Rentner in den Dörfern.
Deren Einwohner sterben langsam, aber sicher aus. Für ein »butterbrott
s maslom« kann man im Umland Moskaus, 250 bis 300 Kilometer
vom Kreml entfernt, ein Bauernhaus mit dazugehörigem Garten erwerben
und als Datscha nutzen. »Wenn nicht die Wochenendbesucher und
die ihren Sommerurlaub hier verbringenden Besucher wären, wären die
meisten Dörfer bereits jetzt tot und leer«, erzählen uns befreundete Ingenieure,
die sich ein Refugium in einem der aussterbenden Dörfer gesucht
haben.


Wer aus dem Staatsdienst ausscheidet, soll künftig mindestens zwei
Jahre lang nicht in Firmen arbeiten dürfen, deren Angelegenheiten der
Betreffende zuvor in Staatsdiensten »erledigte«. Aber nicht nur den Staatsdienern
geht es bestens. Durch die sich wundersam vermehrten Moskauer
Sakralbauten schleichen, vom guten Leben infolge milder Gaben
fett, rotbäckig und stiernackig, mehr denn je gut im Futter stehende Popen.
Die bescheiden gewandeten Besucherinnen der Kirchen huschen
arm wie die Kirchenmäuse durch die prachtvollen Kirchen, küssen dieIkonen und entzünden Kerzen, deren Preis und weitere Geldspenden den
Gottesdienern sichtlich zugute kommen.


Heimwärts nach Berlin geht es anders als herwärts. Wir haben vor der
Heimfahrt die Telefonnummer eines Taxiunternehmens erhalten und
dort die Fahrt nach Wnukowo gebucht. Gennadi, der Fahrer steht zehn
Minuten vor der verabredeten Zeit am Hauseingang, ist umsichtig, hilfsbereit,
fährt schnell und sicher. Er erzählt von seinem Leben und seinen
Lebensplänen, auch davon, daß er religiös gebunden sei. In den Wartezeiten
lese er fromme Texte in seinem Psalter, der im Handschuhfach
liege. Ich möge ihn mir anschauen, lädt er ein. Und ist erstaunt, daß ich
den mittelalterlichen kirchenslawischen Text – gelernt ist gelernt – lesen
kann. Zum Abschied will er mir den Psalter schenken. Mit einem Bibelspruch
lehne ich dankend ab. Er freut sich, daß der Atheist seine Bibel
kennt, und wir scheiden freundschaftlich, empfehlen sein Unternehmen
weiter. Der Fahrpreis für die gleiche Strecke diesmal: 850 Rubel.