Mobilität, Kontrolle und Klassenkampf: Eine zweischneidige Angelegenheit

in (11.09.2008)

Mobilität ist eines der wichtigsten Schlagwörter der kapitalistischen Gesellschaften im Westen geworden. Kein Tag vergeht, an dem wir nicht erinnert werden, dass wir mobiler and flexibler werden müssen. Dieser Artikel soll hingen zeigen, dass die Mobilität der Menschen und auch ihrer Arbeitskraft für Kapital und Staat eine äußerst zweischneidige Angelegenheit sind. Dabei werden Jobhopping, die Vergabe von unterschiedlichen Mobilitätsrechten, der staatliche Kampf gegen „Sozialhilfe-Tourismus“ sowie die Auswirkungen von Eigenheim-Bau analysiert. Darüber hinaus wird die Frage aufgeworfen, in wie fern Mobilität den Klassenkampf fördern kann und ob sie den Kapitalismus in Frage stellt. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit eines Exodus aus der Lohnarbeit sowie das Nomadentum als subversive Strategie kritisch hinterfragt.

Gute und schlechte Mobilität für das Kapital

Nicht nur die Kommunikationsmittel wie
Mobiltelefon und drahtloses Internet sollen jeder Zeit and an jedem Ort
verfügbar sein, sondern auch die Arbeitskraft soll sich mobil überall anbieten.
Ohne „Auslandserfahrung“ und die damit verbundenen „interkulturellen“
Fähigkeiten ist es schwer möglich, eine „hochqualifizierte“ Arbeitskraft
darzustellen. Ortsgebundenheit und Trägheit sind die Todsünden im Kampf auf dem
Arbeitsmarkt. Der faule Sozialhilfeempfänger, der nicht mal vom Sofa aufsteht,
ist der „Andere“ im neuen Diskurs zur Diffamierung der „Unterschichten“. Die
Hartz- Gesetze sollen es in Deutschland ermöglichen, dass auch der arbeitslose
Akademiker aus Nord­deutschland gezwungen wird in Bayern eine Stelle als
Nachtwächter anzunehmen.

Auch ich habe den Kult um die Mobilität für
normal gehalten, bis ich in einen anderen Kulturkreis auf die Grenzen ihrer
„Natürlichkeit“ stieß. In China jammern besonders die ausländischen Unternehmen
über zu hohe Mobilität der Arbeitskräfte. Auf Grund des Mangels an Fach­kräften
werben sich ausländische Konzerne die MitarbeiterInnen gegenseitig ab. Am 11.
Januar 2008 berichtete die „Financial Times Deutschland“ über den „Kampf um die
Fachkräfte in China: Hohe Wechselbereitschaft bei Mitarbeitern – Arbeitgeber
treiben Gehaltsspirale an“. Der Arbeitergeber­verband in Hongkong schätzt die
Fluktuation in den Unternehmen in der Volksrepublik für das laufende Jahr auf
16, 4 Prozent. Im Handel seien es sogar 30 Prozent, im Hotel- und
Gaststättenbewerbe 25 Prozent und im Beratungsgeschäft 21 Prozent. In Europa
würde die Fluktuationsrate im einstelligen Bereich liegen.

Die „undankbaren“ ChinesInnen kennen die
Betriebsideologie „Einmal Opelianer immer Opelianer“ nicht und sind sofort weg,
wenn ein anderer Betrieb mehr Gehalt bezahlt. Auch die 150 bis 200 Millionen
WanderarbeiterInnen zeichnen sich durch eine hohe Mobilität aus. Besonders in
den Weltmarktfabriken in Guandong-Delta klagen Unternehmen, dass sie für ihre
Scheißjobs nicht mehr genügend Arbeitskräfte finden. Die so genannte
WanderarbeiterInnen-Dürre (Mingong huang) im Süden existiert, da die jungen
Frauen und Männer lieber nach Shanghai oder Peking zum Arbeiten gehen, da dort
die Löhne höher sind. Bei der Heimkehr ins Dorf zum Frühlingsfest, dem
chinesischen Neujahr, rechnen sie durch, was das Jahr gebracht hat und ob es
sich wieder lohnt, in die Städte zu gehen. Das Selbstbewusstsein der
Wander­arbeiterInnen ist in den letzten Jahren gewachsen (siehe China-Beilage,
Wildcat Nr. 80). Sie sind wählerischer geworden bei der Auswahl der Betriebe und
lassen sich nicht mehr alles gefallen. Der chinesische Soziologe Yang Siyuan
(2005) nennt diesen Exodus aus dem Süden eine besondere Form des Streiks.
Streiks im Sinne von kollektiver Arbeitsniederlegung sind in der Volksrepublik
nämlich verboten.

Da Mobilität auch vom Geldbeutel abhängt, ist
die „Wanderlust“ der WanderarbeiterInnen natürlich eingeschränkt. Die langen
Zugfahrten sind für sie teuer. Daher können sie nicht beliebig oft den
Arbeitsplatz wechseln. In China existiert außerdem noch das
Haushaltsregister-System (Hukou), das die langfristige Niederlassung der
Wanderarbeiter­Innen und ihrer Familien in den Städten verhindert. Ihre Kinder
können in der Stadt keine öffentlichen Schulen besuchen. Die Anwesenheit von
Menschen mit Agrar-Hukou muss durch den Antrag auf eine kurzfristige
Aufenthaltsgenehmigung legalisiert werden.

Die Frage, die sich die KapitalistInnen in
China stellen müssen, ist deshalb nicht „wie erhöhen wir die Mobilität der
Arbeitskräfte“, sondern „wie fessele ich sie an den Betrieb“. BauarbeiterInnen
oder sogar MasseurInnen müssen häufig drei bis vier Monatslöhne als Pfand
hinterlegen, damit sie nicht sofort die Firma wechseln können. Millionen
WanderarbeiterInnen wird der Lohn erst am (chinesischen) Jahresende ausgezahlt.
Bis dahin stellt das Unternehmen nur Kost und ein Bett in den überfüllten
Wohnheimen. Ausländische KapitalistInnen können die begehrten Fachkräfte so
natürlich nicht anlocken. Sie bieten häufig Vorbildungen im Ausland an, um den
Arbeitsplatz attraktiv zu machen. Nicht wenige „undankbare“ ChinesInnen
verlassen aber den Betrieb sofort, wenn sie alles gelernt haben, was sie lernen
können. Deshalb müssen sie Verträge unterzeichnen, dass sie die
Ausbildungs­kosten zurückzuerstatten, wenn sie vor einer bestimmten Frist gehen.
Nur was macht das Unternehmen, wenn die Person einfach untertaucht? Einen
funktionierenden Rechtsstaat und unabhängige Gerichte, vor denen bei
Vertragsbruch erfolgreich geklagt werden kann, gibt es im Reich der Mitte nur in
Ansätzen. Dann heißt es Pech gehabt! Selbst eine permanente Erhöhung der Löhne
hilft nichts, da es immer noch jemanden gibt, der mehr bezahlen würde. Durch
diese Tatsache wird auch der potentielle Nutzen eines Flächen­tarifvertrages für
das Kapital deutlich. Durch die tarifliche Festlegung der Löhne und das
Friedens­gebot in den Zeiten zwischen den Tarif­ver­handlungen können die
Unternehmer langfristig die Lohnkosten planen um die ArbeiterInnen zu
disziplinieren.

Obwohl viele Unternehmen in Deutschland über
den Flächentarifvertrag jammern, könnte ein solches System ihnen in China
helfen, die Lohnforderung der ArbeiterInnen zu drosseln. Unter der
Einparteien-Diktatur in der Volks­republik China sind „Jobhopping“ und Mobilität
die Hauptformen des Lohn- und Klassenkampfes.

Exodus aus der Lohnarbeit?

An diesen Ausführungen wird auch klar, dass der
Begriff des Arbeitskräftemangels ein politischer ist. In China verlassen
jährlich 4 Millionen Absolventen die Hochschulen (Financial Times Deutschland
11.1.2008). Auch im Reich der Mitte sind Millionen Menschen arbeitslos, sogar
viele Absolventen von Universitäten. Aus Sicht der Arbeitslosen ist es absurd,
von einem Arbeitskräftemangel zu sprechen. Das schlimmste, was es für das
Kapital unter der Sonne hingegen gibt, ist Vollbeschäftigung. Ohne Angst vor
Arbeitslosigkeit sind die Menschen nicht so leicht erpressbar. Sie stellen sogar
„unvernünftige“ Lohnforderungen! Von daher besteht für das Kapital immer ein
Mangel an Arbeitskräften, weil zusätzliche Konkurrenz unter den ArbeiterInnen
Druck auf die Löhne ausüben würde. Häufig wurden besonders in den Perioden der
Voll­be­schäftigung in Westeuropa EinwandererInnen ins Land geholt, um den
„Arbeitskräftemangel“ auszugleichen.

Mobile Arbeitskräfte sind für die
Kapitalist­Innen also eine zweischneidige Angelegen­heit. Die Menschen sollen so
mobil sein, dass man ihre Arbeitskraft überall ausbeuten kann. Die Menschen
dürfen allerdings nicht so mobil werden, dass sie durch „Jobhopping“ die Löhne
in die Höhe treiben können. Schon Karl Marx hat im „Kapital“ darauf hingewiesen,
dass der Exodus eine Form des Klassenkampfes sein kann. Er beschreibt im Kapitel
„Die moderne Kolonisationstheorie“, wie die US-amerikanischen ArbeiterInnen aus
der Lohnarbeit der Fabriken flüchteten, um freie BäuerInnen auf dem
neubesiedelten Land zu werden (Marx 1951: 809f.). Das setzte die KapitalistInnen
unter Druck, höhere Löhne zu zahlen. Marx will mit dem Kapitel zeigen, dass die
kapitalistische Produktionsweise der Vernichtung des auf eigener Arbeit
beruhenden Privateigentums bedarf, sprich der Enteignung des Volksmassen von
eigenen Produktionsmittel (ebenda: 814). In den Kolonien bestand eine besondere
historische Situation, die den Exodus aus der Lohnarbeit zeitweise möglich
machte. In China findet hingegen ein Exodus der WanderarbeiterInnen aus dem
Guangdong-Delta in die Küstenregionen stand, also von der Lohnarbeit in die
besser bezahlte Lohnarbeit. Sie verfügen im Dorf noch über das vom Staat
zugeteilte Land, das aber immer weniger zum Leben abwirft. Letztes Jahr haben
allerdings die rapide steigenden Preise für Schweinefleisch dazu geführt, dass
einige BäuerInnen lieber auf den Dörfer bleiben und Schweine aufziehen als in
die Fabriken zum Arbeiten zu gehen.

Der Exodus aus der Lohnarbeit ist innerhalb der
entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nur schwer möglich. In den 70er
Jahren „flüchteten“ Tausende in die Universitäten, um als so genannte „LangzeitstudentInnen“
der Lohnarbeit zeitweise zu entkommen. Andere, darunter auch nicht wenige
radikale Linke, entwickelten Geschick, die Annahme jeder Lohnarbeit zu
verweigern und von Sozial- oder Arbeitslosenhilfe zu leben. Mit der Einführung
von Studiengebühren, Regelstudien­zeiten und Zulassungsbeschränkungen an den
Uni­versitäten sowie der verschärften Überwachung der BezieherInnen von
Sozialleistungen werden diese Fluchtmöglichkeiten zunehmend verbaut. Der Staat
zwingt die Arbeitslosen sich ständig weiterzubilden und zu bewerben, obwohl für
die große Mehrheit keine Arbeitsplätze vorhanden sind. Gesagt werden muss auch,
dass diese Fluchtmöglichkeiten für Menschen, die Familie und Kinder versorgen
müssen, äußerst begrenzt sind. Kostenlose Angebote, die Kinder von StudentInnen
unterzubringen, gibt es kaum. Die Sozialeistungen mögen für einen genügsamen
Kreuzberger WG-Bewohner gerade zum Überleben ausreichen. Für eine allein
erziehende Mutter mit zwei Kindern bedeutet Arbeitslosigkeit oft Verarmung.
Besonders im Alter, wenn Menschen mehr Hilfe brauchen, droht ohne Geld leicht
die soziale Isolation. Die „Aussteiger“ der 70er und 80er Jahre nähern sich bald
dem Renten­alter an. Der Staat ist bemüht, die Löcher für den Exodus aus der
Lohnarbeit zu stopfen, selbst wenn nicht genug Lohnarbeit vorhanden ist. Deshalb
ist es für den Staat auch besser die Ämter und ihre „Betreu­ten“ die Möglichkeit
einer Beschäftigung spielen zu lassen, als zuzugeben, dass Millionen Menschen
vom Kapital nicht mehr gebraucht werden.

Gute und schlechte Mobilität für den Staat

Während in der feudalen Gesellschaft die
Mobilität der Menschen stark eingeschränkt wurde, ist der Kapitalismus auf
mobile Arbeitskräfte angewiesen. Der moderne Staat steht vor der
Heraus­forderung, die Mobilität der Menschen zu regulieren. Im Unterschied zum
Feudalismus haben zumindest die Staatsbürger das Recht auf Bewegungs­freiheit.
Foucault weist auf die Notwendigkeit der Regulierung der Zirkulation in den
europäischen Städten hin, nachdem die Stadtmauern im 18. Jahrhundert aufgrund
ökonomischer Notwendig­keiten fielen. Dass das Kommen und Gehen nicht mehr
kontrolliert werden konnte, bewirkte, dass „folglich die Unsicherheit der Städte
gesteigert wurde durch den Andrang all der ziehenden Völker, Bettler,
Vagabunden, Delinquenten, Kriminellen, Diebe, Mörder usw., die, wie jedermann
weiß, vom Land hereindrängen konnten (...). Anders gesagt, es handelte sich
darum, die Zirkulation zu organisieren, das, was daran gefährlich war, zu
eliminieren, eine Aufteilung zwischen guter und schlechter Zirkulation
vorzunehmen und, indem man die schlechte Zirkulation verminderte, die gute zu
maximieren“ (Foucault 2006: 37). Die Zirkulation kann aber trotz Stadtplanung
und Polizei­über­wachung niemals vollständig kontrolliert werden. Es gibt immer
Elemente des Widerstandes.

Ähnlich versucht heute auch der bürgerliche
Staat die Zirkulation an seinen Grenzen zu regeln. Der Verkehr von Waren,
Arbeitskräften, Zuwander­Innen, TouristInnen, SexarbeiterInnen wird durch ein
kompliziertes System von nationalen und europäischen Gesetzen geregelt, erlaubt
und beschränkt. Die Menschen werden hierarchisiert, indem man sie mit
verschiedenen Mobilitätsrechten ausstattet. Darüber hinaus wird noch der Zugang
zu Arbeit, Bildung, Urlaubsreise oder Niederlassung unterschiedlich definiert.
Die Menschen bekommen verschiedene Formen von Staatsbürgerschaften, Pässen, Visa
oder Aufenthaltstiteln. Ohne gültigen Ausweis wird auch eine ÖsterreicherIn in
der Welt nicht sehr weit kommen.

Nur um einige Unterschiede in der Hierarchie zu
nennen: „Alte“ EU-BürgerInnen können ihre Arbeitskraft in der ganzen
Europäischen Union anbieten. Die neuen EU-BürgerInnen aus Osteuropa sind bezogen
auf den Arbeitsmarkt noch Beschränkungen unterworfen. Nicht-EU-Bürger­Innen
haben leichteren Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Visa anderer Staaten, wenn sie
mit einem/r EU-BürgerIn verheiratet sind. Die Ehefrau eines amerikanischen
Managers, der in Deutschland arbeitet, muss deshalb noch keinen Zugang zum
Arbeitsmarkt bekommen und darf nur als Hausfrau und Touristin mobil sein.
TouristInnen mit Schengen-Visum können sich bei ihren Reisen fast in ganz Europa
frei bewegen. AsylbewerberInnen und „geduldete AusländerInnen“ dürfen hingegen
in Deutschland und Österreich den Verwaltungs­bezirk nicht verlassen.
Illegalisierte Menschen können an jedem Bahnhof von der Polizei verhaftet
werden.

Hinzu kommt, dass das Recht auf Mobilität von
Seiten des Staates immer eingeschränkt werden kann. Das Schengen-Abkommen soll
z.B. zur Fußball-Europameisterschaft 2008 ausgesetzt werden, um angeblich die
„Zirkulation“ von Hooligans zu verhindern. Auch bei Demonstrationen, wie zuletzt
gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm, ist es mit europäischer Reisefreiheit
nicht weit her. Selbst im eigenen Land können Polizisten per Anordnung die
Bewegungsfreiheit einschränken. Während der berühmt-berüchtigten Chaos-Tage in
Hannover habe ich selbst erlebt, wie Anreisende von der Polizei einfach wieder
in die Züge gesetzt worden sind, weil sie gefärbte Haare hatten. Innerhalb der
Städte können Platzverweise für Bettler oder „herumlungernde“ Jugendliche
ausgesprochen werden.

Außerdem werden Räume hierarchisiert in
öffentlich und privat. Der Zugang zu Räumen und Verkehrsmitteln kann für
Volljährige, Minderjährige oder Kinder in Begleitung der Erziehungs­berechtigten
reguliert werden. Schul- und Wehr­pflicht bilden Teilsysteme, die die Bewegung
im Raum einschränken. Das „unerlaubte Entfernen vom Arbeitsplatz“ kann ebenso
geahndet werden wie ein Nicht-Nachkommen der Schulpflicht. Kranke dürfen ohne
Entlassungspapier der Stations­ärztIn das Krankenhaus nur auf eigene
Verantwortung verlassen. RollstuhlfahrerInnen können nur U-Bahnen benutzen, wenn
es an den Haltestellen Fahrstühle gibt. Der Entzug der völligen
Bewegungsfreiheit im Gefängnis gilt in Ländern, die die Todesstrafe abgeschafft
haben, als die höchste Strafe.

Keine Mobilitätsrechte für EmpfängerInnen
von Sozialleistungen

Nicht nur so genannte AusländerInnen, sondern
auch die eigenen StaatsbürgerInnen sind von Einschränkungen der Mobilität auf
dem Arbeits­markt getroffen. Millionen Beamte in Deutschland und Österreich
unterliegen einem Dienstrecht, das einen freien Wechsel des Wohnortes oder
Arbeitsplatz unmöglich macht. Ähnliches gilt für Geistliche. Das Recht auf
Mobilität verliert auch derjenige, der Sozialleistungen vom Staat bekommen
möchte. Der Zugang zu Leistungen wird abhängig gemacht von dem Aufenthaltsstatus
und der Dauer der Anwesenheit im Land. Arbeitslose haben keinen Rechtsanspruch
auf Urlaub und dürfen den Wohnort ohne Genehmigung der zuständigen lokalen
Behörde der Bundesagentur für Arbeit in Deutschland nicht länger als drei Wochen
am Stück verlassen. Sie müssen von Montag bis Samstag (!) unter der angegebenen
Adresse und Telefon­nummer erreichbar sein. Dadurch soll die Kontrolle des
Empfängers bzw. seine effektive „Betreuung“, wie es im offiziellen Jargon heißt,
gesichert werden. Eigentlich ist diese Regelung paradox, weil der Staat
einerseits die Mobilität der Arbeitskräfte durch z.B. die Pendlerpauschale
fördert, anderseits potentielle Arbeitskräfte an ihren Wohnort bindet. Für das
Kapital wäre es natürlich besser, wenn die Arbeits­losen wie in China durch das
Land ziehen und sich vor den Bahnhöfen der Regionen mit niedriger
Arbeitslosigkeit zur Verfügung halten würden. Für den Staat hingegen würden
solche Wander­bewegungen eine Bedrohung der gesellschaftlichen Stabilität
darstellen.

Der Staat ist außerdem bemüht, einen
„Sozialhilfetourismus“ zu verhindern. Schon im Mittelalter versuchten Städte,
Sozialleistungen und Almosen nur an die eigenen Bürger auszuzahlen, damit nicht
die Armen aus den anderen Regionen angezogen wurden. Heute argumentieren rechte
PopulistInnen, dass die ZuwandererInnen die Sozialsysteme ausnützen würden. Im
Zuge der Industrialisierung wurde die Bindung von Sozialleistungen an den
Wohnort zunehmend abgeschafft. Preußen ging 1842 als der erste Staat in
Deutschland dazu über, dass man seinen „Unterstützungswohnsitz“ nach zwei Jahren
an seinem neuen Wohnort bekam. „Auf diese Weise wurden nicht nur die
Bettelfuhren überflüssig, sondern die Unterschichtsangehörigen konnten sich auch
frei von den Zugangsbeschränkungen dort ansiedeln, wo sie Arbeit fanden (...).
Für die Armen, die nun gar keinen Unterstützungswohnsitz mehr hatten, wurden
zentrale Kassen, die Land­armenverbände, zuständig“ (Rheinheimer 2000: 129).

Damit der Staat weiß, wo seine Bürger wohnen,
Steuern bezahlen oder Leistungen beziehen, gibt es in Deutschland und Österreich
die Meldepflicht. Der Umzug an einen anderen Ort, ohne ihn den Behörden
mitzuteilen, ist strafbar. In Österreich kann man ohne den Meldezettel nicht
einmal einen Leihausweis für eine Bücherei oder Videothek bekommen, geschweige
denn einen Vertrag für ein Handy. In Deutschland reicht der Personalausweis. In
den USA und Großbritannien ist sowohl die Meldepflicht unbekannt, noch gibt es
flächendeckend Personalausweise. Selbst nach dem 11. September werden
Forderungen nach der Ein­führung von Personalausweisen abgelehnt, da dies von
vielen Menschen als Element von autoritären Obrigkeitsstaaten angesehen wird.

„Häusl“, Abfertigung und Mobilität

Ähnlich paradox ist der Widerspruch zwischen
Wohnungs- und Arbeitsmarkt. Die weite Ver­breitung des MaklerInnenunwesens
behindert die Mobilität der Arbeitskräfte. Eine ArbeiterIn, die für eine neue
Mietwohnung in Wien gerade drei Monatsmieten Provision und drei Monatsmieten
Kaution an einen Makler bezahlt hat, wird kaum zwei Monate später nach Linz
umziehen, wenn sie dort 5 Prozent mehr Lohn bekommen würde. Der Staat versucht,
diese beiden Märkte zu regulieren und ist zwischen den Profitinteressen der
Makler und Eigentümer sowie dem Bedürfnis des Kapitals nach mobilen
Arbeitskräften hin- und hergerissen. In Deutschland und Österreich schränkt auch
der Bau von Eigenheimen durch die ArbeiterInnen deren Mobilität ein. Ist das in
Eigenarbeit und Schwarzarbeit errichtete „Häusl“ erst ein Mal fertig gebaut,
wollen viele nicht mehr wegziehen und können die Betriebe nur im Umland
wechseln. Der Staat ist jedoch darauf bedacht, die kleinbürgerliche
Eigenheim-Ideologie zu fördern. Die Eigenheim­zulage war 2004 mit über 11
Milliarden Euro die größte staatliche Subvention in Deutschland. Seit 2006 wird
sie allerdings nicht mehr neu gewährt, um im staatlichen Haushalt zu sparen. Der
Kredit am Hals der ArbeiterInnen kann sich unterschiedlich auf den Klassenkampf
auswirken. Zum einem droht bei Arbeitsplatzverlust die Verarmung, wenn der
Kredit nicht mehr abgezahlt werden kann und die Angst davor ist deshalb
besonders groß. Andererseits kann die Kampfbereitschaft gegen Lohneinbußen
besonders groß sein, weil der Kredit den Druck viel zu verdienen verstärkt.
Letztendlich ist ein freiwilliger Ausstieg aus einer Vollzeitstelle nur schwer
möglich, da der Kredit schließlich die nächsten 20 Jahre abgezahlt werden muss.
Über eine Scheidung muss man auch zwei Mal nachdenken. In China gibt es das neue
Wort „Haussklave“ (fangnu), der nicht Sklave eines Hausherren, sondern der
eigenen Eigentumswohnung ist.

In Österreich wirkt sich auch das
Abfertigungsgesetz auf die Mobilität der Arbeits­kräfte aus. Bei einer
unverschuldeten Kündigung einer festen Stelle hat die ArbeiternehmerIn das Recht
auf Entschädigung. Nach 5-jähriger Betriebszugehörigkeit besteht ein
Abfertigungs­anspruch auf drei, nach 20 Jahren auf sechs Bruttomonatslöhne.
Marktradikale Kritiker meinen: „Mit den Prinzipien der freien Marktwirtschaft
verträgt sich das Bestreben, den Arbeitnehmer mit Hilfe des drohenden
Abfertigungsverlustes an den Betrieb zu fesseln, freilich ganz und gar nicht.
Eines der wichtigsten Argumente für die Überlegenheit der Marktwirtschaft ist,
dass der Markt die optimale Allokation der Ressourcen - Geld,
Sach­investitionen, Arbeitskraft - gewährleistet. Die ideale Allokation der
Arbeitskraft wird durch § 23 Abs 7 AngG aber enorm behindert. Die Entscheidung
eines Arbeitnehmers für einen Arbeitsplatzwechsel - iSd von der Wirtschaft so
gerne geforderten Mobilität - wird von der Überlegung, ob der Wechsel den
Verlust der Abfertigung zu rechtfertigen vermag, oft ganz wesentlich
beeinflusst. Auch volkswirtschaftlich betrachtet ist die Abfertigung daher
sicherlich Unsinn.“ (zit. nach Walther 1999). Der Professor für Volkswirtschaft
Walther zeigt allerdings, dass die Abfertigung auch Vorteile für Kapital und
Staat hat. Die Treue und Loyalität der MitarbeiterInnen gegenüber ihrer Firma
wird gefördert. Im Fall einer „nicht-selbst verschuldeten“ Entlassung ist die
Abfertigung eine Art Überbrückungshilfe in ersten Monaten der Arbeitslosigkeit.
Der drohende Verlust der Abfertigung bei einer „selbstverschuldeten“ Entlassung
hingegen kann die Arbeitsdisziplin fördern.

Kapitalismus, Staatssozialismus und
Regulierungen

Die Aufgabe des Staates ist es, die
Bedingungen, die zur Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktion notwendig
sind, zu gewährleisten. Deshalb kann es zu Widersprüchen zwischen einzelnen
Interessen von KapitalistInnen und dem Staat kommen. Außerdem hat der Überbau
auch ein gewisses Eigenleben. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich
fordern große Teile des Kapitals seit Jahren, die Einwanderung von
qualifizierten Arbeits­kräften zu erleichtern und die Selektion nach
ökonomischen Kriterien vorzunehmen. Die regierenden Parteien haben jedoch die
Sorge, durch weitere Zuwanderung, die auch für qualifizierte Arbeitskräfte eine
Konkurrenz darstellen würde, den Klassenkompromiss mit den integrierten Teilen
der ArbeiterInnenschaft zu gefährden. Außerdem spielen Ideologien eine Rolle. In
Deutschland findet seit dem Anwerbestopp für ausländische Arbeits­kräfte von
1973 die Zuwanderung in erster Linie auf dem Boden des Familiennachzuges statt.
In den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 machten die so
genannten „Aus­siedler“ bzw. „Auslandsdeutschen“ aus Ost­europa den Löwenanteil
der ZuwandererInnen aus. Die christliche Familienideologie, das völkisch
geprägte Staatsbürgerrecht sowie die Angst vor Hegemonie­verlust der
Volksparteien bei den Wahlen haben bisher eine Regelung der Zu­wanderung nach
rein ökonomischen Kriterien verhindert. In China würde die Aufhebung des
Hukou-Systems dem Kapital zum Teil nutzen, weil Arbeitskräfte aus dem ganzen
Land leichter verfügbar wären. Eine dauerhafte Niederlassung der
WanderarbeiterInnen und ihrer Familien in den Städten würde vielleicht auch die
„zu große“ Mobilität einschränken. Dann müssten aber die Löhne steigen, weil die
Lebens­haltungskosten in der Stadt viel teurer sind als auf dem Land. Der Staat
behält das Hukou-System jedoch bei. Einerseits fürchtet die KPCh ein Anwachsen
von Slums in den Städten, andererseits kann man mit Hilfe des Systems der
ländlichen Bevölkerung weiterhin der Zugang zum städtischen Bildungssystem und
zu Sozial­leistungen verwehrt werden.

Auch in der Sowjetunion wäre ohne den Zustrom
von Millionen BauernarbeiterInnen in die Städte die rapide Industrialisierung in
den 30er Jahren nicht denkbar gewesen. 1932 führte die sowjetische Regierung ein
Pass-System ein, durch das die Bauern wieder wie zu Zeiten des Väterchens Zar
eine Genehmigung der Behörden brauchten, um das Dorf zu verlassen. Die hohe
Fluktuation in den Betrieben machte der sowjetischen Regierung schwer zu
schaffen. In den vier Jahren des ersten Fünfjahres-Plan soll jede ArbeiterIn
durchschnittlich fünf Mal den Arbeitsplatz gewechselt haben (Schröder /
Karuscheit 1993: 214). Stalin machte dafür unter anderem die „Gleichmacherei“ im
Lohnsystem verantwortlich. Seine Forderung hieß deshalb: „Die Fluktuation der
Arbeitskraft beseitigen, die Gleichmacherei ausmerzen, den Arbeitslohn richtig
organisieren, die Lebens­ver­hältnisse der Arbeiter verbessern... “ (Stalin
1950: 54). Neben der Einführung des Pass-Systems und größerer Lohnunterschiede
wurde auch das Straf­recht gegen „Produktionsdeserteure“ verschärft sowie
„böswillige Nichterfüllung eines mit einem öffentlichen Betrieb abgeschlossen
Vertrags“ geahndet (Karuscheit /Schröder 1993: 215). Ab 1939 erschwerte ein
einheitliches Arbeitsbuch den Wechsel des Betriebes. Während des 2. Weltkrieges
wurden auch in einigen kapitalistischen Staaten Arbeits­bücher eingeführt, um
die Kern­belegschaften in den kriegswichtigen Betrieben zu halten und die
Bevölkerung besser kontrollieren zu können. Der Staat, egal ob
staatssozialistisch oder kapitalistisch, hat immer abzuwiegen, wie stark er die
Mobilität der Menschen einschränken soll. Der Hunger des Kapitals oder der
Staatsbetriebe nach mobilen, aber kontrollierbaren Arbeitskräften muss genau so
gestillt werden wie das Bedürfnis des Staates nach der Aufrechterhaltung der
Stabilität der Gesellschaft. In diesem Spannungsfeld sind das chinesische
Hukou-System oder das europäische Schengen-Abkommen nur verschiedene Strategien,
die Mobilität zu regulieren. Deleuze/Guattari haben daher nicht ganz Unrecht,
wenn sie die Bewegung des Kapitals als ständige Wechselwirkung zwischen
Deterritoriali­sie­rung und Reterritorialisierung von Räumen bezeichnen (Deleuze
/ Guattari 1977: 333). Ununter­brochen werden räumliche Grenzen gesetzt und
aufgehoben. Innerhalb der EU fallen die Schlag­bäume an den Grenzen, aber an den
Außengrenzen werden Zäune mit Stacheldraht errichtet.

Mobilität, Nomadentum und Klassenkampf

In seiner Studie zu den USA versucht der
Soziologe Ralf Dahrendorf die Frage „Warum gibt es in den USA keinen
Sozialismus?“ zu beantworten. Als zentralen Grund für die Abwesenheit einer
sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung führt er die hohe Mobilität der
Arbeitskräfte an. Da die ArbeiterInnen häufig Arbeitsplatz und Wohnort wechseln
würden, wären sie nur schwer in feste sozialdemokratische Strukturen zu
integrieren. Als Gründe führt er an: „Wenn der einzelne für sich die Möglichkeit
sieht, einem konfliktträchtigen Machtverhältnis zu entweichen, ist es
unwahrscheinlich, dass er das gleiche Maß an Engagement in die
Auseinandersetzungen investieren wird wie der, für den dieses Machtverhältnis
unausweichliches Lebensschicksal ist (...). Der individuelle Entschluss zur
Mobilität ist psychologisch wie soziologisch ein Hindernis bei der Bildung
solidarischer Gruppen; er führt zur übermäßigen Fluktuation der Mitgliedschaft
und lenkt zugleich die Aspirationen des einzelnen auf Ziele, die er selbst für
sich zu erreichen vermag“ (Dahrendorf 1968: 63ff.). Dahrendorf zeigt außerdem,
dass die US-amerikanischen Arbeitskräfte viel mobiler als die europäischen sind,
aber ihre Aufstiegschancen, die soziale Mobilität, in den USA nicht höher sind.
Wenn jedoch die WanderarbeiterInnen aus Alabama nach Kalifornien ziehen, kann
ein subjektives Gefühl der Verbesserung entstehen, auch wenn sich die konkreten
Lebensverhältnisse kaum geändert haben. Damit hat Dahrendorf nicht ganz unrecht:
Während die HilfsarbeiterIn aus St. Pölten den Umzug nach Wien als sozialen
Aufstieg empfinden kann, empfindet die UniabvolventIn aus der Hauptstadt es
vielleicht als sozialen Abstieg, wenn sie eine Stelle in der Stadtverwaltung
ihres Heimat­ortes bekommt.

Die stark ständisch geprägte deutsche
Arbeiter­Innenbewegung war in der Tat auf dem fest in einem Milieu verankerten
Facharbeiter angewiesen, der am besten Betrieb und die sozialdemokratischen
Vereine lebenslang nicht wechselte. Dahrendorf übersieht dabei, dass die hohe
Mobilität in den USA auch radikale Formen des Klassenkampfes möglich machte. Zu
Beginn des 20. Jahrhunderts gelang es den Wobblies (Industrial Workers of the
World) gerade mit den mobilen und migrantischen Teilen der ArbeiterInnen
radikale Streiks durchzuführen. Wer nicht darauf angewiesen war oder hoffen
konnte, dem gleichen Vorarbeiter oder Chef lebenslang gegenüber zustehen, konnte
Unruhe stiften und dann wieder weiterziehen. In Deutschland der frühen 70er
Jahre verfolgten auch die Spontis die Strategie, in einem Betrieb solange Rabatz
zu machen, bis sie rausflogen. Hohe Fluktuation von Mitgliedern ist sicher in
den Parteien und Gewerkschaften des 20. Jahrhunderts ein Problem. Gerade deshalb
müssen heute Organisationsformen gefunden werden, die der hohen Mobilität
gerecht werden. Wie können wir uns eine Patchwork-Gewerkschaft oder ein
revolutionäres Netzwerk vorstellen, dem wir an jedem Ort wieder andocken können?

Für Deleuze/Guattari stellt in den 70er Jahren
der Nomade eine wichtige Figur dar, der versucht, sich der Codierung und
Reterritorialisierung durch das Kapital zu entziehen. In „Tausend Plateaus“
führen sie die Unterscheidung zwischen glatten und gekerbten Räumen – dem Raum
der Nomaden und dem der Sesshaften – ein. Der glatte Raum wird unaufhörlich in
einen gekerbten Raum überführt (in: Dünne 2006: 434). So wurde der glatte Raum
des Meeres durch Navigation eingekerbt. Im Gegensatz zur staatsfixierten
Revolutionsstrategie des orthodoxen Marxismus entwirft Deleuze eine nomadische
Kriegsmaschinerie. „Aber auch der Nomade ist nicht notwendig jemand, der sich
bewegt: es gibt Reisen auf der Stelle, Reisen an Intensität und selbst
geschichtlich sind die Nomaden nicht jene, die sich nach der Art von Wanderern
bewegen, sondern im Gegenteil diejenigen, die sich nicht bewegen und sich nur
nomadisieren, um am gleichen Platz zu bleiben, indem sie den Codes entgehen. Man
weiß sehr wohl, dass das heutige revolutionäre Problem darin besteht, eine
Einheit der punktuellen Kämpfe zu finden, ohne in eine despotische und
bürokratische Organisation des Staatesapparates zurückzufallen (...)“ (Deleuze
1979: 120). Guattari präzisierte in einem Interview diese Vorstellung und
meinte, mit der nomadischen Kriegsmaschine sei auch die Stadt-Guerilla in Europa
gemeint. Wie wir heute wissen, sind die Versuche im „nomadischen“ Leben des
Kampfes im Untergrund emanzipatorische Strukturen aufzubauen genau so
gescheitert wie der Staatssozialismus. Um Deleuze/ Guattari gerecht zu werden,
muss allerdings betont werden, dass das Nomadische auch auf das Denken gezogen
war, das nach Deleuze/Guattari niemals codiert und reterritorialisiert werden
soll. Das Nomadische ist subversiv, weil es nicht integriert und repräsentiert
werden kann, so hofften die beiden damals.

Uwe Lindemann zeigt, wie heute
Theoretiker­Innen diese Überlegung in das „nomadische Informationszeitalter“
übertragen. Das „New Yorker Critical Art Ensemble“ entwickelte die Idee eines
nomadischen Guerillakrieges im Internet. Nach den punktuellen und blitzartigen
Angriffen würden die Kämpfer der nomadischen Kriegs­maschinerie wieder in den
Weiten des Netzes verschwinden. Wie der glatte Raum der Wüste oder des Meeres,
so sei auch das Internet horizontal, heterogen und flach strukturiert (Lindemann
2002: 225). Seit dieser Idee von 1994 haben Staat und Konzerne viele neue
Technologien entwickelt, um User ausfindig zu machen und den virtuellen Raum des
Internets zu kontrollieren. Immerhin konnte 1997 „Global Zapatista Internet
Resistance“ nach einem Massaker durch das Militär in Chiapas mit massenhaften
E-Mails die Seiten der mexikanischen Regierung lahm legen. Wohin sich eigentlich
das emanzipatorische Potential der Idee der nomadischen Kriegsmaschinerie
verflüchtigt hat, fragt man sich, wenn man das Fazit von Lindemanns Artikel
liest: „Was insbesondere die palästinischen Selbstmordattentate und der Anschlag
vom 11. September 2001 zeigen, ist, dass minoritäre
Deterritorialisierungsprozesse im Sinne der nomadischen Kriegsmaschinerie
niemals durch majoritäre Reterritorialisierungs- und Disziplinierungs­prozesse
unterdrückt werden können“ (ebenda: 232). Die Bemühungen des Staates glatte
Räume wie die Wüste, die Luft, das Meer und das Internet vollständig einzukerben
und zu kontrollieren, seien zum Scheitern verurteilt. Was sagt uns das, außer
dass der Kampf gegen die herrschende Weltordnung auch in eine andere Form der
Barbarei führen kann?

Die Begriffe von Deleuze/Guattari werden aber
auch im Zusammenhang mit neoliberaler Ideologie gebraucht. Ladewig/Mellinger
warnen in ihren Artikel „When in doubt: go nomad – Zur Gegen­wart des
Nomadischen“ davor, den Begriff von Deleuze zur Idealisierung der neoliberalen „Patch
Work family“, „Patch Work Life“ oder des Freelancertums zu benutzen. Die neuen
Formen von Mobilität würden zu einer weiteren Unterwerfung des Lebens unter
Konsum und Kapital führen. Nur die extrem gut und schlecht bezahlten
Arbeitskräfte würden die Kategorie des Nomadischen erfüllen. Der Manager, der
für seinen Global Player um die Welt zieht, könne wohl kaum eine subversive
Figur sein. Bezogen auf die Armen würde hingegen die Not, die die Mobilität
verursacht, zur Tugend gemacht. „Denn Lust an Mobilität kann nur empfinden, wer
eine Heimat hat, eine Bleibe, die sich mit Wohlsein und Sicherheit verbindet.
Das gegenwärtige Konzept des Arbeitsnomaden verdankt sich jedoch gerade einer
Befreiung des Nomadischen aus den Fesseln eines sesshaften, despotischen
Diskurses, der sich (...) mit Deleuze/Guattari folgenreich ausbreiten konnte“
(in: Meschnig/Stuhr 2003: 53). Zum einem ist es unsinnig, Deleuze/Guattari für
die mobile „Ich-AG“ verantwortlich zu machen. Zum anderen ist es problematisch
zu behaupten, dass die MigrantInnen und schlecht bezahlten ArbeiterInnen die
Mobilität nur als Belastung betrachten würden. Nicht jeder arbeitslose Sachse
empfindet es als schlimm, in Tirol eine Kochausbildung zu machen. Für Millionen
chinesischer WanderarbeiterInnen bedeutet die Arbeit in der Stadt das Entkommen
aus den patriarchalen Strukturen der Heimatdörfer, auch wenn die
Arbeitsbedingungen extrem hart sind. Ebenso empfindet nicht jede MigrantIn
starkes Heimweh und will unbedingt in sein/ihr Heimatland zurückkehren. Ladewig/Mellinger
vikitimisieren die mobilen ArbeiterInnen und MigrantInnen. Trotzdem haben sie
sicher Recht, dass die grenzenlose Freiheit des mobilen Lebens im Kapitalismus
nur eine hohle Phrase ist.

Wie mein Artikel klar gemacht hat, ist die
Mobilität sowohl für Staat und Kapital als auch für die ArbeiterInnen eine
zwiespältige Angelegenheit. Mobilität ist ein umkämpftes Feld, auf dem
Klassenkampf stattfindet. Wer davon mehr profitiert, hängt von dem
gesellschaftlichen Kräfte­verhältnis ab und von dem Willen der Kämpfenden, die
Deterritorialisierungen und Reterritoriali­sierungen, die von Kapital und Staat
produziert werden, zu durchbrechen. Weder sollten wir wie Negri/Hardt Mobilität
und Nomadentum als „Aus­druck einer Verweigerung und der Suche nach Befreiung“
begreifen (Negri /Hardt 2003: 224) noch wie Oskar Lafontaine glauben, dass die
Verteidigung des „Standorts Deutschland“ gegen alle Mobilen („Heuschrecken“ und
„Fremdarbeiter“) die Bedingungen für den Lohnkampf verbessern würde. Am Ende
möchte ich dennoch einen Vorschlag von Negri/Hardt aufgreifen: „Es wäre in der
Tat interessant, eine allgemeine Geschichte der Produktionsweise aus der Sicht
des Mobilitäts­strebens der Arbeiter zu schreiben (...) statt die Entwicklung
lediglich unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, dass das Kapital die
technischen Arbeits­bedingungen reguliert. Eine solche Geschichte würde die
Marxsche Vorstellung von den Stufen der Arbeitsorganisation, die zahlreichen
Autoren (etwa Polanyi) als theoretischer Bezugsrahmen diente, grundlegend neu
aussehen lassen“ (Negri/Hardt 2003: 225).

E-Mail: paul.pop // ät-inode.at

Literatur

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Aufklärung, Fischer, Frankfurt (M).

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Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp, Frankfurt
(M)

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Territorium und Bevölkerung – Geschichte der Gouvernementalität 1, Suhrkamp,
Frankfurt (M).

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Steinzeit – Zur nomadischen Raum-, Macht- und Wissensbegriff in der neueren
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Meschnig, Alexander / Stuhr, Mathias (2003):
Arbeit als Lebensstil, Suhrkamp, Frankfurt (M).

Negri, Antonio / Hardt, Michael (2003) Empire –
Die neue Weltordnung, Campus, Frankfurt (M).

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Vaganten – Überleben in der Not 1450-1850, Fischer, Frankfurt (M).

Stalin, Josef (1959): Gesammelte Werke, Band
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