Die Fronten gingen durcheinander … (Ein Interview)

Ein Interview zu den Auskünften Ludwig Kroeber-Keneths aus Kronberg über seine und Alfred Kurellas Reise 1919 nach Sowjetrußland

Ludwig Kröber-Keneth (1899-1980) reiste 1919 aus dem München der bayerischen Räterepublik nach Sowjetrussland, nach Moskau – an der Seite Alfred Kurellas (1895-1975). Von 1975 bis 1980 leitete ich das Alfred-Kurella-Archiv der Akademie der Künste der DDR. Herr Ludwig Kroeber-Keneth entsprach meiner Bitte, ihn aufsuchen zu dürfen, um ihn zu Alfred Kurella und ihrer gemeinsamen Reise nach Räterußland 1919 zu befragen. Mit seinem Einverständnis wurde das Gespräch mit Tonband aufgezeichnet, was die Dokumentation des Textes ermöglichte.

Meine Skrupel, den renommierten Psychologen und Unternehmensberater zu dem weit zurückliegenden, von ihm als Jugendirrtum verbuchten Abenteuer, zu interviewen, waren nicht gering.

Für das angebahnte Treffen hatte ich neben Alfred Kurellas Buch »Unterwegs zu Lenin« (1967) und die in Berliner Bibliotheken erreichbaren Schriften Kroeber-Keneths zur Kenntnis genommen, hatte ebenfalls in Leipzigs Deutscher Bücherei die aufschlußreiche autobiographische Schrift »Fetzen aus meinen Tagebüchern« (1976) gelesen. Vorbereitend hatte ich auch ein Gespräch mit dem Regisseur des DEFA-Films »Unterwegs zu Lenin« nach dem gleichnamigen Buch Alfred Kurellas. Günter Reisch übergab mir Szenenfotos, so von Drehplätzen in der Sowjetunion, um sie Herrn Kroeber zu zeigen. Meine Überlegung war: keine Zeit verlieren – der letzte Zeuge, der über die legendäre Reise zu W. I. Lenin Auskunft zu geben vermochte, ist betagt. Womöglich ist er souverän und unabhängig, vielleicht sogar interessiert, die Anfragen »aus Ostdeutschland« zu beantworten. Damals keine Selbstverständlichkeit, als die Bundesrepublik im »Deutschen Herbst« durch die Anschläge der RAF in Atem gehalten wurde. Die Entführung und Ermordung des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, Hans-Martin Schleyer, lag erst kurze Zeit zurück. Und doch stand die Reise unter einem guten Stern. Der Bitte um einen Gesprächstermin folgte prompt Kroeber-Keneths Einladung in seinen Wohnsitz in Kronberg- Schönberg, Am Eichbühel 5. Das Gespräch fand am 10. und 11. Januar 1978 statt.

Von der Akademie mit dem Notwendigen (Visum, Tagegeld) ausgestattet, traf ich in Frankfurt am Main auf Frau Tilla Kroeber und ihren Gatten, Ludwig Kroeber, der es sich nicht nehmen ließ, seinen fremden Gast abzuholen. Trotz seiner fast 80 Jahre ein hellwacher, ansehnlicher, wiewohl schon etwas leidender Mann. Frau Kroeber, sichtlich jünger als ihr Gatte, bleibt mir als kleine, freundliche, sehr agile Dame in Erinnerung (und als waghalsige Fahrerin ihres Mercedes). Der Einladung der Familie, erst einmal Frankfurts Goethehaus zu besichtigen, folgte ich gern. Dann ging es zu der vergleichsweise bescheidenen Villa der Kroebers in Kronberg und wenig später zu einem kleinen Auto-Ausflug. Im Tal war schon ein Hauch Frühling, in den Bergen flimmerte Schnee. Zu meiner Verwunderung offerierte mir der Hausherr aus einem im Flur stehenden Schirmständer Spazierstock oder Wanderstab zur Auswahl, zog, als ich zögerte, den erstbesten heraus und, klick!, seine Hand umspannte den Griff einer Stahlklinge. Sichtlich genoß er meine Überraschung, faßte nun ebenso einen zweiten der unverfänglich aussehenden Wanderstöcke. Der gebrechliche ältere Herr wurde plötzlich zum Haudegen.

Bei wem war ich da zu Gast?
Bei dem, der im November 1918 mit einem bayrischen Eliteregiment von der Westfront abgezogen wurde, um zu helfen, in München die Revolution zu ersticken – und der dort noch am Tage der Ankunft in den Soldatenrat gewählt wurde.
Bei dem, den sich Alfred Kurella, der vier Jahre Ältere, auswählte, um mit ihm von der KPD-Zentrale in Berlin über Königsberg, grüne Grenzen zweier baltischer Länder kreuzend, Nachrichten zu den Bolschewiken in Moskau zu bringen.
Bei dem, der als internationalistischer Wachsoldat Dienst im Kreml aufnimmt und von W. I. Lenin als womöglich Kundiger für bayrische Angelegenheiten, aber auch zum nächtlichen Plausch herbeikommandiert wird (wo sonst trifft man einen deutschen Revolutionär aus München, der kein Wort von Marx gelesen hat).
Bei dem, der auf Moskaus Rotem Platz, in Ermangelung eines echten Delegierten aus Bayern, nach der Ansprache Lenins am 1. Mai 1919 unter dem Parteinamen Keneth »im Namen der Bayrischen Räterepublik« die Maifeier begrüßt (die »Izvestija« berichtete) – Nikolai I. Bucharin als Übersetzer.
Bei dem, der, von Lenin mit Begleitbrief versehen, sich auf Leo Trotzkis Panzerzug vor Petrograd meldet und in dessen Dienste tritt. Bei dem, der bei der Rückkehr nach Deutschland in Riga nur knapp der standrechtlichen Erschießung entgeht, am 8. August 1919 wieder in München eintrifft, bald aber auf zwei Jahre hinter bayrischen Gittern weggeschlossen wird. »Schutzhaft« ohne Anklage und Prozeß, um den Vetter nicht zu kompromittieren: den rechtslastigen Diktator im Freistaat, Gustav Ritter von Kahr, der Bayern, vorbildhaft für das übrige Reich, als »Ordnungszelle im Staat« betrachtet. Ja, bei dem, der im Gefängnis Psychologie studiert und später große Konzernchefs berät, so den Zigarettenkönig Philip F. Reemtsma (1893-1959), den Flugzeugkonstrukteur und Unternehmer Professor Willy Messerschmitt (1898-1978).
Bei diesem Mann, erwartungsvoll, war ich nun Gast.

Die Gespräche waren freimütig, längere Zeit ohne Tonband. Während des Interviews bat Kroeber-Keneth manchmal, das Band abzustellen. Ein einsamer Mensch wollte sich aussprechen. Er schilderte sein ungeselliges Kronberg, in dem man sich in seinem Haus vor Einbrechern barrikadiert und hofft, nicht überfallen zu werden. »Gut ist, stets Licht im Haus zu brennen, besonders wenn man fortgeht.« Das kannte ich von zu Haus nicht, noch nicht. Er sprach von seinen sportlichen Ambitionen wie von Begegnungen bei einem Besuch in Israel, das sich atomar rüste.

Er erläuterte auch seine Arbeit als Unternehmensberater, die er inzwischen auf eigene Rechnung von Haus aus betreibe. Zwischenherein schrillte das Telefon: Teils erlebte ich, wie er seine Vermittlung herausragender Industriekader organisiert – den Firmen, die eine bestimmte Leitungsfunktion besetzen möchten, sei’s Manager, sei’s Chefingenieur, entlockt er (durch gezielte Nachfrage) telefonisch Details, wen sie wirklich brauchten. Entsprechend verfasse er die Annonce, die Ungeeignete, Glücksritter usw. von vornherein abzuwehren suche. Die ausgefeilte Offerte plaziere er selber für einen bestimmten Tag, eine bestimmte Seite und genaue Stelle, z. B. in der FAZ, in entsprechender Aufmachung und Größe, versteht sich. Ich erlebte, sie begleitend, wie die Ehefrau dem telefonisch durchgesagten Text wenige Stunden später mit ihrem Wagen bis nach Frankfurt hinterher fuhr, um noch an der Maschine in der Druckerei die Details zu beaufsichtigen. Das sei schon ungewöhnlich, aber die Redaktion (und der Setzer) hätten sich daran gewöhnt. Er bekomme, sagte Kroeber, trotz eingebauter »Abschreckung« meist über hundert Bewerbungsschreiben. Routine (die Art der Selbstdarstellung, Schrift etc.) ermögliche es ihm, das Gros der Ungeeigneten bei rascher Durchsicht auszulesen. Mit 10 bis 20 Briefen befasse er sich genauer. Bis zu fünf Kandidaten lade er zum persönlichen Gespräch. Mit den aussichtsreichen Zwei fahre er zum Firmensitz und mache seinen Vorschlag. Für den dann Eingestellten – dafür werde er gelöhnt.

Während wir über Alfred Kurella und die junge Sowjetunion sprachen, niemand habe ihn solches bislang gefragt, gewann ich den Eindruck, daß ihn Jugenderinnerung überwältigt. »Es ist gut, daß Sie gekommen sind«, sagte Kroeber-Keneth.

Zum historischen Hintergrund. Kleine Chronik
In der Novemberrevolution, die bereits am 7./8. November 1918 zur Abdankung des ersten Fürstenhauses im deutschen Reichsgebiet, des bayrischen, führte, sind beide, Alfred Kurella, Mitbegründer der Freien Sozialistischen Jugend in München und der jüngere Ludwig Kroeber, involviert.

Am 20. März 1919 begeben sich der in Brieg geborene, im Rheinischen aufgewachsene Alfred Kurella und der Münchener, aus Donau- Wöhrt stammende Ludwig Kroeber, begleitet von einem russischen Ingenieur (als Dolmetscher), auf den Weg nach Moskau, wo sie nach genau einem Monat am 20. April im Kreml eintreffen. So entgehen sie den aktuellen Münchener Ereignissen, die sie aber, plötzlich gefragte Kenner der bayrischen Szene, auf andere Weise wieder einholen.

Am 7./8. November 1918 ruft Kurt Eisner (USPD) in Bayern die Republik aus und verkündet den Freien Volksstaat Bayern. Der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrat wählt ihn zum Ministerpräsidenten Bayerns.

12. November 1918: Unterzeichnung des Waffenstillstands mit der Entente, der das Ende des Weltkriegs bedeutet.

Am 12. Januar 1919 muß die USPD bei der Wahl zu einem verfassungsgebenden Landtag gegenüber der SPD eine empfindliche Niederlage hinnehmen. KPD und Anarchisten boykottierten die Wahl.

Kurz vor seiner geplanten Rücktrittserklärung wird Kurt Eisner am 21. Februar 1919 von dem rechtsextremen Anton Graf von Arco auf Valley, auf offener Straße ermordet.

17. März 1919: Johannes Hoffmann (SPD) wird vom bayrischen Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt. Der Streit um »Räterepublik oder Parlamentarismus« verschärft sich.

21./22. März 1919: Die Nachricht von der Ausrufung einer sozialistischen Räterepublik in Ungarn unter Béla Kun gibt der Rätebewegung in Bayern neuen Auftrieb.

7.-13. April 1919: »Erste Münchner Räterepublik« (von der KPD negiert und als »Scheinräterepublik« bezeichnet) unter Führung eines von linken Intellektuellen und Anarchisten dominierten »Zentralrats «. Prägend beteiligt sind Schriftsteller wie der Pazifist Ernst Toller (USPD), die parteilosen Anarchisten Gustav Landauer und Erich Mühsam. Das Kabinett Hoffmann flieht aus München nach Bamberg. Die USPD tritt aus der Regierungskoalition aus.

13. April 1919: Ein mit Billigung der »Bamberger Regierung« angezettelter Putschversuch von Militärs gegen die Räterepublik wird von Rotgardisten unter Rudolf Eglhofer niedergeschlagen. Kommunisten setzen den Zentralrat ab und übertragen die Regierung einem »Vollzugsrat« unter Eugen Leviné und Max Levien. Gustav Landauer und Ernst Toller erkennen den Vollzugsrat an und beteiligen sich zunächst an der von den Kommunisten dominierten »zweiten Räterepublik«.

16. April 1919: Gustav Landauer, enttäuscht von der Ablehnung seines Kulturprogramms, zieht sich von der Räteregierung zurück. Einheiten der »Roten Armee« unter Ernst Toller schlagen die in Dachau stehenden Freikorpsverbände und zwingen sie zunächst zum Rückzug.

17. April 1919: Angefordert von der Regierung Hoffmann, der »Bamberger Regierung«, verfügt Reichswehrminister Gustav Noske den Einsatz von Reichswehrverbänden gegen München. 25. April 1919: Die »Bamberger Regierung« verhängt über München das Standrecht.

27. April 1919: Nach Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten um Eugen Leviné und anderen linken Revolutionären um Ernst Toller (u. a. darüber, ob man mit der Regierung Hoffmann Verhandlungen aufnehmen solle) tritt der Aktionsausschuß unter Leviné zurück und wird provisorisch unter Toller neu konstituiert. Die »Bamberger Regierung« verweigert sich ernsthaften Verhandlungen und verlangt die bedingungslose Kapitulation.

28. April 1919: Neuwahl eines Aktionsausschusses ohne Kommunisten und ohne Ernst Toller.

30. April 1919: In den Vororten Münchens kommt es zu grausamen Massakern der Freikorps an Angehörigen der »Roten Armee« und unbeteiligten Zivilisten. Rotgardisten töten daraufhin zehn im Münchner Luitpold-Gymnasium gefangen gehaltene Geiseln, vor allem Mitglieder der rechtsextremistischen »Thule- Gesellschaft«.

1. Mai 1919: Gustav Landauer wird von Freikorps verhaftet und tags darauf auf dem Transport ins Gefängnis von München-Stadelheim von Soldaten mißhandelt und ermordet.

Am 5. August 1919 kehrt Ludwig Kroeber-Keneth aus Sowjetrußland nach München zurück.

Erst am 1. Dezember 1919 wird der Kriegszustand über München aufgehoben. Inzwischen wurden die meisten führenden Mitglieder der Münchner Räterepublik von Standgerichten nach Hochverratsprozessen zu langen Haftstrafen verurteilt, so Ernst Toller zu fünf Jahren, Erich Mühsam zu fünfzehn Jahren Zuchthaus (nach fünf Jahren amnestiert). Rudolf Eglhofer wurde am 3. Mai 1919 standrechtlich erschossen, Eugen Leviné zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919 hingerichtet. Max Levien gelingt die Flucht, ebenso Ret Marut (B. Traven), Mitglied der Pressekommission des Zentralrates. Über 2 000 (darunter auch vermeintliche) Anhänger der Räterepublik wurden erschossen oder zu Haftstrafen verurteilt. Graf Arco, der ursprünglich zum Tode verurteilte Mörder Kurt Eisners, wird zu einer Haftstrafe begnadigt und 1924 aus dem Gefängnis entlassen.

Mit Ludwig Kroeber-Keneth im Gespräch
Es ist Dienstag, der 10. Januar 1978, wir sitzen im Wohnzimmer von Herrn Kroeber-Keneth in Kronberg.

Herr Kröber-Keneth, Sie haben einmal sehr amüsant darüber geschrieben, es komme stets auf die richtige Fragestellung an … Eigentlich wollte ich Sie einfach bitten zu erzählen. Vielleicht bietet es sich an, drei Bereiche im Auge zu behalten:
- die Münchener Ereignisse von 1918/19, erste Begegnungen mit Alfred Kurella, die Entstehung der Spartacus-Jugend in München, die Träume von damals;
- die Delegierung nach Moskau und der gefahrvolle Weg dorthin;
- als junger Bayer bei Lenin im werdenden Sowjetrußland und wie Sie dabei Alfred Kurella erinnern, auch jene Arbeitsteilung: Sie mußten sprechen – er durfte singen.
Aber ich bin sicher, alles was Sie zu berichten wünschen, auch scheinbar geringfügige Details, werden von Interesse sein.
Eben haben Sie einige Abzeichen der Roten Armee vor sich ausgebreitet, auch einen roten Stern mit Hammer und Sichel, mit goldenem Rand eingefaßt …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es ist ein Offiziersabzeichen. Und jenes andere ist das Soldatenabzeichen. Und das hier ist eine der frühsten, eine der bescheidensten Auszeichnungen, die die Rote Armee zu vergeben hatte. Ursprünglich war sie darauf ausgerichtet, keinerlei Rangabzeichen zu dulden, was sich aber sehr rasch unter dem Einfluß von Trotzki in Petrograd verändert hat.
Für mich mit das stärkste Erlebnis von Petrograd – Sie können das selbstverständlich gerne löschen – ist die Begegnung mit Trotzki. Und wenn Sie erlauben, lese ich Ihnen kurz meine Tagesbuchaufzeichnung über diese Begegnung vor: Sie ist datiert vom 14. 6. 1919 und lautet: »zum 1. mal Trotzky gesehen, der heute nacht gekommen ist (das heißt nach Petrograd) und mit Sinowjew bei uns oben ist (das ist im ›Astoria‹). am abend in einem feinen zweispänner, ›des allerheiligsten Synods‹ zum Zug Trotzkys, aber leider (ihn) nicht mehr (an)getroffen. Abends sehe ich ihn in seinem gelben gummimantel, mit schirmmütze aus dem astoria gehen. er ist mittelgroß mit langem fast schwarzen haar, spitzbart. Das gesicht hat etwas gespannt nervöses hauptsächlich wohl durch den etwas unheimlichen blick.«1

Ich habe die Tagebücher zerrissen, aber dieses Blatt habe ich mir aufgehoben. Für mich als Psychologen … ,

der Sie damals nicht waren, noch daran dachten, es zu werden ...

LUDWIG KROEBER-KENETH: Vollkommen richtig! Die Front um Petrograd war vollkommen eingedrückt – die Weißen standen bei Gatschina, beinahe bis in die Vororte, etwa 20 bis 25 Kilometer vor Petrograd – und wich zurück. Der Zug von Trotzki war ein primitives Wunder, mit Flakgeschützen auf offenem Plattenwagen von zwar primitiver, aber glänzend organisierter Art. Der Kraft dieses Mannes mit einigen wenigen Mitarbeitern ist es gelungen, die bereits weichende eingedrückte Front wieder hinauszuschieben und Petrograd zu entlasten. Das ist eine historische Tatsache, ganz gleichgültig, wie man sich sonst zu dieser Persönlichkeit stellen mag.

Das galt als Hauptfront damals?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das war die Hauptfront. Im Süden stand Denikin. Hier im Norden standen die Weißen vor Gatschina. Gehörten Sie zu diesem Panzerzug? LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich bin allein hinaufgefahren und später zu ihm gestoßen. Und dort beginnt meine, ich möchte sagen, schicksalhafte Bekanntschaft mit Trotzki, der mich als Übersetzer schätzte und von mir seine Schriften übersetzt wünschte. Was ich Ihnen jetzt hier zeige, ist wahrscheinlich eine bibliophile Kostbarkeit: »Trotzki über Lenin, Material für einen Biographen«, erschienen 1924 im Neuen Deutschen Verlag in Berlin, ein Verlag Münzenbergs, »Übersetzt von Keneth«. Ich vermute, daß dieses Buch überhaupt nie zur Auslieferung gelangte, denn mit diesem Buch beginnt Trotzkis Kampfansage gegen Stalin. Sie wissen ja, 1924 ist Lenin gestorben, und das hier ist die vorweggenommene Kampfansage an die sich neu formierenden Fronten.

Wie waren Sie auf das Pseudonym Keneth gekommen? War das Ihr Parteiname?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das war mein Parteiname. Die Geschichte ist drollig. Einer der stellvertretenden Volkskommissare von Tschitscherin 2, Karachan 3, hat ihn mir angehängt. Er war Armenier, mit einem wunderschönen Bart. Man hat mir einen sowjetischen Paß ausgestellt, um meine Rückreise zu decken, und man sagte mir, da müßte ich auch einen anderen Namen tragen.

Er klingt englisch.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Keneth heißt eigentlich nur »Kennt nicht«.

Sowas wie »Kann nit verstan«, ja?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Genau. Ich sollte auch einen Vornamen bekommen und habe mich Hans genannt. So heiße ich in dem längst verschollenen Ausweis: Gans Kenet. Das heißt einfach: »Hans Kenn-ihn-nicht«.

Und der hat Ihnen so gefallen …

LUDWIG KROEBER-KENETH: …, daß ich ihn an meinen Namen angehängt habe. Jetzt komme ich nicht mehr von ihm weg, schon aus dem einfachen Grund, daß ich wie mein Vater Ludwig heiße. Mein Vater war seinerzeit ein bekannter Pharmakologe und Botaniker. Viele seiner Schriften sind Standardlehrbücher geworden. So gab es fatale Verwechselungen, weil wir beide Ludwig Kroeber hießen. So ist Keneth ein Unterscheidungsname.

In Leipzigs Deutscher Bücherei sah ich in der Kartei beide Ludwig Kroebers und fand es gut, daß einer davon zusätzlich Keneth heißt.
In Ihrer autobiographischen Schrift schildern Sie, wie Sie, fast durch Zufall, in die Novemberrevolution von 1918 geraten sind. Die Szene, wo Sie, vor dem Tisch des Soldatenrats nach einem Entlassungsstempel anstehend, zum Stempler werden, ist eines Schelmenromans würdig.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Eine Groteske.

Filmstoff oder Roman-Vorwurf, wie ein Mensch in etwas hineingerät. Aber so ganz zufällig war es wohl auch wieder nicht, denke ich an Ihre Familientradition: Adolf Kroeber, Ihr Großvater, beteiligte sich sechszehnjährig am Badenser Aufstand von 1849 wie der junge Friedrich Engels, der Adjudant Willichs. Und Sie, immerhin, hatten im März 1918 mit zerbrochener Brille eine Absatzbewegung von der Front hinter sich …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich hatte bei meiner Rückkehr nach München im November 1918 durchaus nicht die Absicht, aktiv in die Revolution einzusteigen. Ich bin in sie hineingeschlittert. Aber richtig ist, was Sie sagen: In der Familie gab es eine rebellische Tradition seit dem Jahre 1848. Als Psychologe spreche ich überhaupt nicht von Zufall, sondern von der »Beziehung des Bezüglichen«. Das spielte hier fraglos mit, oder, wie es Hegel sagt: »Der Zufall ist die Summe der uns nicht bekannten Ursachen«. Ich kann nur sagen, ich bin nicht mit Absicht in diesen Fürstensalon des Münchener Bahnhofs gegangen, wo die Abfertigung der Heimkehrer erfolgte. Hier bin ich tatsächlich hineingerutscht. Ich wollte nur einen Entlassungsschein haben.

Drinnen das Büro wollte wegen Erschöpfung der Beteiligten schließen, und Sie verlangten mit dem Ruf »Aufmachen, sonst schmeißen wir eine Handgranate hinein« die Fortsetzung …

LUDWIG KROEBER-KENETH: der Entlassungszeremonie. Dann sind Sie durch die Tischreihe gekrochen, haben einen völlig entkräfteten Mann zur Seite gezogen und ersetzt, um ihr eigenes Formular auszufüllen und abzusegnen. Und haben nun weitermachen müssen. Wie lange haben Sie diesen Tag abgebüßt? LUDWIG KROEBER-KENETH: Vom späten Vormittag an. Am späten Nachmittag fand die Wahl zum Bayrischen Arbeiter- und Soldatenrat statt.

Hunderte oder mehr hatten Sie kennen gelernt – Sie hatten den wohltätigen Stempel verabreicht …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Genau. Was hatten Sie dabei mit dem jeweiligen Soldaten zu verhandeln? LUDWIG KROEBER-KENETH: Belanglose Dinge: Truppenteil – wohin der Betreffende heimfahren wolle usw. Gegen Abend zu wurde ambulant die Wahl zum Bayrischen Arbeiter- und Soldatenrat durchgeführt. Und da deutete man einfach auf mich. Das war das Bequemste.

»Den haben wir gesehen!«

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Abends war ich gewählt, war Mitglied des Soldatenrats, ohne etwas anderes getan zu haben, als Stempel auf Entlassungspapiere zu drücken und ein wenig Büroorganisation gemacht zu haben – eine Spezialität von mir –, wodurch es etwas flotter ging … Ich habe dort nur wenige Sitzungen mitgemacht. Mein Rededuell mit Gustav Landauer im Gebäude des Landtags habe ich in meinen Aufzeichnungen beschrieben. 4

Haben Sie einmal nach dem Protokoll dieser Rätetagung geforscht?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein. Ich weiß auch nicht, ob eins geführt wurde. Sehr formell war man damals noch nicht. Es war ein ziemlich wilder und ungefüger Haufe.

Für Sie tat sich in Ihrer Entwicklung eine neue Dimension auf, als Sie zu jenen ersten stießen, die in München die Spartacus-Jugend bildeten. Wie kamen Sie zu dieser Gruppe?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich gehörte seit 1910 dem Wandervogel e.V. an. Es gab mannigfache Beziehungen zwischen Jugendbewegung und Spartacus-Jugend. Ich bin kein besonderer Anhänger oder Lobredner der bürgerlichen Jugendbewegung. Es gibt eine glatte Leitlinie von der bürgerlichen Jugendbewegung zum Hitlerismus … …

über die Bündische …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Über die Bündische Jugend. Nur ein ganz kleiner Teil, unter Führung von Kurella und im Gefolge, weit im Gefolge von mir, ging zur linken Seite.

Sich scharf abgrenzend von Blüher. 5

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Eines Tages fand ich mich im überfüllten Saal des Deutschen Theaters in München in einer Gründungsversammlung der Spartacus-Jugend, etwa Januar, Februar 1919, oder aber im Dezember 1918, ich weiß es nicht mehr. Unlängst habe ich mein handschriftliches Manuskript voller jugendlicher Torheiten gefunden. Der Satz darin ist mir erinnerlich, wo ich als Vertreter der bürgerlichen Jugend der Arbeiterjugend zurief: »Euch hat man unterdrückt – uns hat man geistig kastriert«. Das war der Coup. Ich hatte großen Beifall, der mir sehr geschadet hat, denn er hat mich zu bleiben bewegt. Ich glaube, ich hatte die Mitgliedsnummer 6 der Parteijugend.

Ist Ihnen damals in der Münchener Gruppe der Spartacus-Jugend ein Otto Braun 6 bekannt geworden?

Irgendwie ist mir der Name bekannt. Ich müßte ihn zwangsläufig kennen.

Und wie waren die Jugendzusammenkünfte?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Für Geselligkeit war überhaupt keine Zeit da. Ich kann mich auch nicht erinnern, ob dort gesungen wurde. Es war eine brodelnde, und es war eine ungute Zeit. Hier muß ich etwas sehr Heikles anschneiden: Die Führer der Münchener Räterepublik waren, wie wir in Bayern sagen, »Zuagroaste«, die keinen echten Kontakt zur Bevölkerung hatten. Es waren ausschließlich Landfremde – Eisner, Fechenbach 7, Toller, Landauer. Der einzige Einheimische in der revolutionären Bewegung war der Leiter oder Kommandeur der Roten Garde, Eglhofer, ein Kieler Matrose und mit ein treibender Keil.
Später habe ich auch Lenin gesagt, daß diese Revolution bestimmt zum Scheitern verurteilt sei, denn die ganze Spitze habe keinerlei echten Kontakt mit der Masse. Die führende Kraft in der Bayrischen Revolution waren die Arbeiter der nach München-Schwabing verlagerten Kruppwerke in Milbertshofen. Das war eigentlich der revolutionäre Kern Münchens.

In München sind Sie Alfred Kurella das erste Mal begegnet. In welchem Umkreis? Wie sah er aus?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich habe ihn auffallend blond, blaß, mit scharf geschnittenem Profil in Erinnerung. Ebenso erinnerlich ist mir sein anfänglicher Sprachfehler, der häufig dazu geführt hat, daß ich das Wort nehmen mußte.

Diesen Sprachfehler hat Alfred Kurella immer erst überwinden müssen, ehe er dann doch, auch vor vielen Menschen, das Wort nahm, so in München auf dem Stachus, wo er zur Bildung von Räten aufgerufen hat, wie Gustav Regler bezeugt. 8

LUDWIG KROEBER-KENETH: Kurella war politisch der Berufene – ich war in die Revolution hineingeschlittert.

Er hatte darüber zu befinden, schreibt Kurella in seiner Schrift »Unterwegs zu Lenin«, ob bei den Demonstrationen der KP München die Kanonen mitgeführt werden oder nicht. (…) Er war gut vier Jahre älter als Sie, machte das was für Sie aus?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Aber selbstverständlich. In dem Alter ist das ein enormer Abstand. Eigentlich wurde damals relativ wenig demonstriert. Ich erinnere mich einer sehr großen Demonstration unter Leitung von Kurt Eisner. Aber ich habe keine Kanone gesehen. Man war auch viel zu hungrig oder zu müd, solch ein Vehikel mitzuschleppen. Das schließt überhaupt nicht aus, daß er darüber zu befinden hatte.

Sagen Sie bitte, wie kam ein Münchener zu dieser Delegierung nach Sowjetrußland?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Den stärksten Eindruck hat mir Leviné 9 gemacht, Max Levien 10 gar keinen – ihn hielt ich für einen großen Hansnarren. Leviné, eine starke, eindrucksvolle, sehr ernsthafte Persönlichkeit hat sich in Deutschland voll für den Spartakusbund eingesetzt. In Rußland war er nicht so geschätzt, weil er, soviel ich weiß, aus dem sozialrevolutionären Flügel herüberkam.

Hatte Leviné in jener Zeit in München eine bestimmte Funktion?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Die Funktionen liefen durcheinander. Man konnte nicht sagen, wer heute eine Funktion hatte, hatte sie morgen noch. Ein Ressort hatte er nicht. Der Einzige, der sich ein Ressort erkämpft hatte, war wohl Toller.

Wurde er als Kommunist angesehen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das wußte niemand. Er war, was wir in Schwabing einen »aufmüpfigen Schönredner« nennen. Ein Dichter – und eigentlich kein Revolutionär. Nein. Nein.

Eugen Leviné hat mit Ihnen gesprochen und sie nach Berlin entsandt. Wollte er Sie schützen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein. Nein. Am 21. Februar wurde Eisner auf offener Straße erschossen. Ich kam ganz zufällig eine Viertelstunde später an dieser Stelle vorüber, sah noch die große Blutlache und die ersten Blumen in der Blutlache schwimmen, ging dann zum Soldatenrat hinüber, der in der nächsten Nähe lag. Die Ermordung Eisners durch den jungen Arco-Valley, der übrigens noch lebt, war ohnehin ein tragischer Irrtum. Denn Eisner trug in seiner Tasche das Redemanuskript für seine Demission als Ministerpräsident. Mit dem Tode Eisners war die Bahn frei für die damalige äußerste Linke, die kommunistische. Die erste Räterepublik zog herauf. Sie hatte ein Vorspiel, deren Träger oder Darsteller wohl USPD-Leute waren. Das ging ineinander über.
Ich hatte zu dieser Münchener Räterepublik gar keine Lust und gar kein Vertrauen, was ich später Lenin so und so oft gesagt habe, weil die gesamte führende Gruppe, Eglhofer ausgenommen, Leute waren, die keine Berührung mit der Basis hatten, weder mit der Arbeiterschaft, noch mit den Bauern, die sowieso nicht revolutionär waren. Ich habe gern die Gelegenheit genutzt, dem anbrechenden Wirrwarr zu entgehen.

Wie erlebten Sie Alfred Kurella während dieser turbulenten Ereignisse? Oder sind Sie erst durch den Auftrag näher miteinander bekannt geworden?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir kannten uns selbstverständlich.

Wußten Sie, daß Alfred Kurella nach seinem Abitur im Frühjahr 1914 in Bonn einige Zeit, mindestens bis zum Kriegsausbruch, eine Malerausbildung an der Kunstgewerbeschule in München hatte?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wenn Sie es jetzt so sagen, erinnere ich mich. Jedenfalls hat Kurella hervorragende Bleistiftskizzen gemacht. Von denen hatte ich lange Zeit welche – aber ich finde sie nicht mehr. Es waren Gelegenheitsskizzen …

… von Menschen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Mehr von Landschaften, kleine Schaustücke, Bleistiftzeichnungen. Was ich in Erinnerung habe war gegenständlich: solid handwerklich-gegenständlich.
Dieser Auftrag (gemeint ist die Rußlandreise, E. S.) machte uns näher bekannt.
Hier muß ich einschalten, daß in Moskau geplant war, der Gründung der Kommunistischen Internationale eine Kommunistische Jugendinternationale 11 nachzuschieben, um den Einfluß auf die jüngere Generation zu sichern. Delegierter der Kommunistischen Partei Deutschlands (zur Gründung der KI, E. S.) war Hugo Eberlein 12, wohl der erste Deutsche überhaupt, der drüben war.

Von München nach Berlin kamen Sie von einer unruhigen Situation in die nächste. In Berlin gab es Straßenkämpfe. Die KPD war verboten. Wo gingen Sie hin?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Den Treffpunkt weiß ich nicht mehr. Die Besprechung mit Paul Levi 13 fand merkwürdigerweise in einem obskuren Café statt. Levi war damals der Generalsekretär.

War er allein?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich glaube ja. Bei dieser tragisch-komischen Begegnung sagte uns Paul Levi zum Abschied: »Wenn die Delegierten der Bayrischen Räteregierung nicht rechzeitig nach Moskau kommen, dann müßt Ihr die Bayrische Räterepublik vertreten. « Die »echten« Delegierten sind nie gekommen, weil die Räteregierung am 2. Mai gestürzt wurde.

Ahnten Sie, was mit dieser Reise nach Moskau bezweckt war?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich nehme an, Kurella hatte ein Mandat bei sich als Beauftragter der Münchener Spartacus-Jugend. Ob hier Vorverhandlungen geführt wurden? – Ich möchte es annehmen. Ich war hier nur »Mitläufer«, der einen gewissen Anhang hatte als Münchener. Das mag dazu beigetragen haben, in diese Rolle zu kommen: der einzige Bayer in der wortführenden Schicht.

Gern vergewissere ich mich, Herr Kroeber: War tatsächlich bereits damals in München von einer geplanten Gründung einer »Jugend- Internationale« die Rede? Sind Sie sicher?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich glaube sicher zu sein. Aber das alles war 1919 – und wir haben jetzt 1978. Also würde ich Erinnerungstäuschung für durchaus möglich halten.

Wie waren Sie ausgerüstet für die weite Fahrt? Was trugen Sie?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir trugen unsere keineswegs brandneuen Uniformen vom Militär und, wie aus der Wandervogelzeit gewohnt, Rucksäcke.

Alfred Kurella schreibt von deutschen Zeitungen der verschiedenen Parteiungen, die sie mit sich führten, damit sich die Moskauer Adressaten ein eigenes Bild von der verworrenen Situation in Deutschland machen könnten.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, es waren schwere Packen von Zeitungen, die wir eine Zeitlang mitschleppten, aber irgendwie gingen sie dann unterwegs flöten …

Jede Nachricht von dieser Reise ist kostbar. Bitte achten Sie kein Detail, dessen Sie sich erinnern, für zu gering.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich muß offen sagen, für mich war diese Reise in der Erinnerung mehr oder weniger ausgelöscht. Den Bericht Alfred Kurellas, den ich erst vor wenigen Wochen zu Gesicht bekommen habe, möchte ich unterschreiben. Er deckt sich mit meinen schattenhaften Erinnerungen. Ich habe keinen Zweifel an seiner Richtigkeit. Ich weiß noch, wir fuhren gelegentlich auch auf Pferdewagen. Die Einzigen, auf die man sich verlassen konnte, waren die Juden im »Ansiedlungsgebiet« 14, die als Händler und Fuhrleute sowieso in dieser Gegend die Transporte besorgten. Wenn ein Jude sagte, um neun holen wir euch ab, dann war er um neun Uhr da.

Ihrer Autobiographie war zu entnehmen, daß auf dem Wege nach Moskau eine große Organisation spürbar war, eine Kette, die das Trio von Station zu Station weiterreichte. Wie sah das denn aus?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Eigentlich sah man sie nicht. Wir begegneten plötzlich Leuten, die uns unterwegs ansprachen: Sie wollen doch dort und dort hin (…)? Dort wiederum traf man auf jemanden, der ungefähr die gleiche Frage stellte. Die Organisation als solche wurde mir nicht sichtbar – ich glaube auch, daß Kurella sie nicht gesehen hat. Sie bestand eben, zog sich durch die aufgewühlten Gebiete Ostpreußens und Litauens.

Wie war er denn auf dem Marsch? Hatten Sie Streit, oder war man sehr einig miteinander?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir waren eigentlich nie einig. Die Differenzen waren wohl wesensartig. Kurella war wohl Mitteldeutscher 15, und ich war eben Bayer. Wir lagen häufig auf verschiedenen Wellenlängen. Selbstverständlich war Kurella der Überlegene, eindeutig.

Woran denken Sie da?

LUDWIG KROEBER-KENETH: In der Führung der überlegene Kopf. Auch der bessere Kartenleser, zum Beispiel.

Sie besaßen Landkarten?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir hatten welche, bekamen aber unterwegs auch primitive Wegekarten zugesteckt.

Sind Sie unterwegs auf Punkte gestoßen, wo Sie sich in großer Gefahr glaubten?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Mehrfach, ja. Mehrfach pfiffen Kugeln ziemlich scharf über uns hinweg, und wir haben uns auf den Boden geworfen. Wir wateten knietief und tiefer noch durch sumpfiges Gewässer. Aber für mich ist diese Zeit viel stärker ausgelöscht als für Kurella. Ich vermute, daß er sich in Moskau Aufzeichnungen gemacht hat, sonst wäre es fast nicht denkbar.

Sie waren sich jedenfalls immer bewußt, daß Sie viel riskieren.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Aber selbstverständlich. Die Fronten gingen durcheinander. Es gab sowohl nationalistische wie kommunistische Letten, zwischendurch Reste zurückströmender Freischärler. Es war ja alles da.

Und mit allen hatten Sie Begegnungen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir haben Begegnungen tunlichst vermieden. Aber man hat sich gestreift. Wir gingen ja in die »falsche « Richtung, nämlich nach Osten, während die uns Begegnenden mehr in den Westen wollten. Also waren wir durchaus verdächtig.

Gab es unterwegs auch Auseinandersetzungen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wir waren nicht bewaffnet. Das wäre bei dieser Unterlegenheit hoffnungslos und nur eine zusätzliche Gefährdung gewesen.

Schildern Sie doch bitte, wie Sie, Ihrem Ziel nahe, der Roten Armee zum ersten Mal begegneten.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Plötzlich waren wir von Soldaten der Roten Armee umgeben. Es muß an einer Hauptstraße gewesen sein. Ich kann mich erinnern, daß dort ein roh gezimmertes, mit verdorrten Tannenzweigen geschmücktes Tor stand. Es muß dort schon eine Art feststehender Grenze bestanden haben. Eine Grenzpostenstelle ohne Schlagbaum, auf dem Lattentor eine Art Willkommensgruß. Ich muß hier etwas erzählen, was vielleicht den Überschwang dieser Jahre charakterisiert. Ich weiß, daß ich, als wir diese Grenze überschritten hatten und die Verhandlungen mit den beiden anderen liefen, in den Wald ging und den Boden küßte. Das klingt heute merkwürdig, aber es war damals der Rote Osten, die große Hoffnung.

In Ihrem Buch berichten Sie, daß Sie ziemlich abgerissen ankamen. Ihre alten Soldatenkleidungsstücke hatten sehr gelitten. Jetzt also wurden Sie, als erste Maßnahme des Roten Ostens, erst einmal neu uniformiert.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Man hat uns irgendwelche alten Klamotten, von denen ich vermute, daß sie aus einem Lazarett stammten, verpaßt, besser als das Zeug, mit dem wir durch die Sümpfe geschlichen sind.

Waren Sie nun richtig eingetünchte Rotarmisten?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es waren »gimnastjorka«, große Stiefel, »schinelj«, Schirmmütze und so weiter, die einfachen Bestandteile der damaligen Uniform. Man wollte uns nicht lange im Grenzgebiet behalten und beförderte uns rasch weiter nach Osten.

Sie hatten sich also legitimiert.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Wobei ich vermute, daß Kurella die gewichtigeren Propuski hatte, »bumashki«.

Und Ihr dritter Mann, der russische Adlige?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Der kam mit.

Und wurde auch eingekleidet?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich vermute, ja.

Ein guter Geselle auf dem Weg?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich habe mich mit ihm besser als mit Kurella verstanden.

Sagen Sie doch bitte noch etwas über Ihren dritten Mann.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich weiß furchtbar wenig über ihn. Es war ein vollbärtiger Russe, der meines Wissens in Leipzig lebte, etwa Mitte oder Ende dreißig Jahre alt, der fließendes Deutsch und fließendes Russisch sprach.

Der einzige von Ihnen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich hatte Anfangsgründe im Russischen. Ob Kurella sie hatte, weiß ich nicht. Ich hatte Russischstunden.

Das war ungewöhnlich.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Bei einem russisch-deutschen Studenten hatte ich vielleicht 10, 12 russische Stunden genommen, als Soldatenratsmitglied. Ich war allein, und es hat mich nicht sehr beansprucht.

Was hat Sie bewogen, den Russen mit auf die Reise zu nehmen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das weiß ich nicht, das war Kurellas Idee.

Aber er wurde als nicht ganz dazugehörig empfunden?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, genau. Soviel ich weiß, hat Kurella sich von ihm in Moskau rasch getrennt. Ich habe ihn jedenfalls nicht mehr gesehen. Weiter hinten fuhren wir dann mit einem Zug.

Was änderte sich, als Sie angekommen waren?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es war ein enormes Triumphgefühl. Moskau war von einem mythischen Glanz umgeben, den man sich heute kaum mehr vorstellen kann.
Wir landeten ziemlich ohne Verzug im Kreml. Von Kurella weiß ich dann sehr wenig, denn unsere Wege trennten sich bald. Anfangs, noch im Kreml, waren wir im Kavalerski Korpus untergebracht. Wir hatten, ohne es beschwören zu wollen, zwei ineinandergehende Zimmer. Er ist dann in die Stadt gezogen – ich glaube, in das Hotel »Lux« – , während ich im Kreml sitzen blieb, mit der Aufgabe, die aus München eintreffenden Nachrichten nach Möglichkeit auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen und vor allem die Persönlichkeiten, die dort erwähnt wurden, zu schildern.
Kurella ist ziemlich rasch in den Süden gegangen. Die Schlüsselperson dafür war offenbar Manuilski 16, der ukrainische Parteivorsitzende, der uns beiden gewogen war, um nicht zu sagen, der ein wenig einen Narren an uns gefressen hatte. Er hatte auch mich eingeladen, ich konnte aber nicht, weil ich in dieser Nachrichtenstelle gelandet war.

Warum ist Ihnen diese Aufgabe zugefallen? Als dem besser mit München vertrauten?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Genau. Außerdem verfolgte Kurella ein ganz bestimmtes politisches Ziel. Er arbeitete bereits intensiv in der Stadt. Einfachheitshalber war er im Hotel untergebracht und war mir verschwunden. Er war in der Jugendbewegung aufgegangen. Ich blieb »oben«. Der Grund war, daß ich München unvergleichlich besser kannte als Kurella: Der eine meiner Großväter war Bürgermeister von München, der andere Leibarzt des Prinzregenten – wir sind eine ausgesprochen alteingesessene Münchener Familie.

Nachforschungen haben ergeben, daß Alfred Kurella zweimal als Besucher Lenins eingetragen ist. Wie war das bei Ihnen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: In der Regel bin ich dabei niemandem begegnet. Zum Teil bin ich einfach von einem Unteroffizier der Kremlwache geholt und hingeführt worden in das – glaube ich – Senatsgebäude.

Lenins Sekretärin hat sich eine Notiz gemacht?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es war zum Teil gar keine Sekretärin da. Manchmal war es spät abends, ich erinnere mich an den einen oder anderen Transport zu ihm, wo ich in all den Sälen – dem »Saal der Volkskommissare«, dem »Uhrensaal« usw. – überhaupt keinem Menschen begegnet bin, außer einem Posten wiederum am Gebäude, aber keinem politischen oder Büromitarbeiter.
Kennen Sie den kleinen Thronsaal im alten Teil des Kreml? Ein gotischer, buntbemalter, niedriger Saal mit einem Riesenthron? Durch den lief ich immer, wenn ich rübergerufen wurde zu Lenin. Das war eine Abkürzung – sonst mußte man über den Kremlhof gehen, an der »zar kolokol« und der »zar puschka« 17 vorbei. Wenn’s eilig war, liefen der »Gusar« 18 und ich durch den alten Kremlteil aus der Zeit des Iwan Grosny. Ungeheuer eindrucksvoll. Dort scheint das Hofgericht getagt zu haben. Der »Gusar« war immer böse, wenn ich mich auf den Thron setzte.

Da war wohl das Bewußtsein wach, wir müssen alles unverfälscht für die Museumsbesucher der Zukunft bewahren, während Sie als unbedarfter Bayer…

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, ich setzte mich einfach drauf, vielleicht häufiger als vormals der Zar.

Sprach der »Gusar« deutsch?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ein paar Brocken. Aber um die Zeit sprach ich schon ganz ordentlich Russisch. Wenn man jung ist, faßt man enorm rasch auf.

Wie oft wurden Sie zu Wladimir Iljitsch gerufen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Vielleicht sechs oder sieben Mal. Später war ich noch ein, zwei Mal bei ihm, als ich von Petrograd zurückkam.

Hier ist für Sie noch die Anthologie »Smoking braucht man nicht«, mit Alfred Kurellas Bericht vom Mai 1919 und dem Hinweis auf Ihre damalige Ansprache …

LUDWIG KROEBER-KENETH: (L. K. in dem Buche blätternd) Paquet kannte ich natürlich. Neben ihm bin ich während einer Moskauer Demonstration marschiert. Da waren Paquet, Kurella und ich in einer Reihe. Und der französische Kommunist Guilbeaux, der in Frankreich zum Tode verurteilt war.

Wann war das?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Vielleicht war es der 1. Mai 1919 oder extra noch eine Parade.

Hatten Sie Gespräche mit Guilbeaux?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, viele. Er gehörte zu unserm engsten Kreis. Auch Heinrich Vogeler kannte ich gut. Sein Sohn Jan hieß, als er geboren wurde, Kroeber. Ich habe Sonja geheiratet, wie sie schwanger war, damit sie deutsche Staatsbürgerin würde. Ich habe ihren Vater, Julian Marchlewski, heiß geliebt. Bucharin und Marchlewski waren die beiden, die mir menschlich am nächsten standen.
(Ludwig Kroeber zeigt ein Zettelchen, 10,4 x 7 Zentimeter groß, mit dem Lenin Kroeber-Keneth an den Kriegskommissar des Moskauer Rayons, I. T. Smilga verweist, durchweg handschriftlich, wobei der Lateinschrift die kyrillische Entsprechung folgt, dann aber, variierend Lenin nur lateinisch und Kreber – für Kroeber – nur kyrillisch geschrieben steht. Verliest sodann):
»Srietienski bulevard 6 (Lenin) Smilga (Kreber)«
Lenin hatte mir angeboten, ihn Iljitsch zu nennen – also sagte ich: »Genosse Iljitsch, wenn Sie schon schreiben, schreiben Sie doch bitte ihren Namen dazu.« So hat er seinen Namen deutsch geschrieben. Mir wäre russisch lieber gewesen. Es dürfte einer der ganz wenigen Autographen sein, wo Lenin seinen Namen deutsch geschrieben hat. Und er sagte, er würde bei Smilga anläuten. Und so ist es auch geschehen. Es ging um die Meldung (Entsendung E. S.) nach Petrograd. Deshalb für Smilga. Ich habe zweimal bei Smilga vorgesprochen: als ich, auf Lenins Geheiß, Ersatz für meine gestohlene Taschenuhr erhielt. Und als ich nach Petrograd an die Front wollte.

Was machte I. T. Smilga damals?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Smilga war Kriegskommissar des Moskauer Rayons.

Woher stammt das alte vergilbte Lenin-Foto?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich hab es mir von drüben mitgebracht.

Wie haben Sie diese Dinge, das wertvolle Autograph, über die Zeiten gerettet.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich vermute, daß sie in meinem Elternhaus in Neuhaus bei Schliersee verborgen waren.

Bitte erzählen Sie von Lenin. Haben Sie die Fragen beantworten können, die er an Sie richtete?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Die Fragen, die Lenin an mich gestellt hat, waren einfacher Art. Sie bezogen sich auf den Ätherverkehr, der bei mir einlief.

In Form von Papierstreifen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Alles, was im Äther war. Von mir aus war es ein dauernder Fluß, beinahe täglich. Kommentare gingen hinüber zu Lenin, wenn mir etwas eingefallen ist. Ich bekam eine Art Kasten hingesetzt mit den Funksprüchen, die waren offen oder bereits entschlüsselt.

War es eine schwere Arbeit, etwas Vernünftiges zu den Nachrichten zu sagen? Sie waren doch vollkommen unbefangen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Unbefangen war ich insofern nicht, als ich nicht an den Erfolg der Münchener Räterepublik glaubte. Es kamen Nachrichten von dreierlei Art an: von der Bayrischen Räterepublik selbst, die hochtrabend ihre Erfolge schilderte; von der geflüchteten bayrischen Regierung Hoffmann, die in Bamberg saß; es kamen Nachrichten von der bereits bedrängten ungarischen Räteregierung unter Béla Kun. Unglücklicherweise sprechen alle drei Quellen etwa übereinstimmend von den großen Erfolgen der Münchener Räterepublik. Wenn drei so unterschiedliche Informanten etwa das gleiche sagen, sollte man annehmen, es müsse wohl stimmen. In Wirklichkeit verfolgten alle drei mit ihren Falschnachrichten unterschiedliche Zwecke: Die Regierung Hoffmann wünschte die Reichsexekutive durch die Reichswehr, die Bayern wollten sich mit dem Erreichten rühmen, die Regierung Béla Kun wünschte sich gute Nachricht von der Flankensicherung in Bayern.

Und der Empfänger in Moskau rechnete mit der Weltrevolution.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das brachte mich in eine schwierige Situation, weil ich an die Münchener Räterepublik nicht glaubte. Nicht, weil ich ein großer politischer Prophet gewesen wäre, sondern weil ich die Hauptdarsteller kannte, von denen ich nichts hielt.

Ja, ich denke an Ihre Schilderung Ernst Tollers, den Sie angesichts unausweichlicher revolutionärer Entscheidungen im geblümten Schlafrock auf dem Sofa liegend fanden, Oscar Wildes Buch »Die Fehler des Menschen unter der Sozialisierung« lesend.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Diese Schilderung hat Eindruck auf Lenin gemacht. »Dummheiten, Dummheiten!« hat er dazu gesagt. Solche stories wollte er von mir haben. Die konnte ich ihm liefern. Hätte er Analysen von mir gefordert, wäre ich überfordert gewesen. Nun hat er München sehr gern gehabt …

Er war ja auch zwischen Herbst 1900 und Frühling 1902 viele Monate dort …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, er hat einfach auch auf Schilderungen von München gewartet.

Sie meinen: über das politisch Zweckmäßige hinaus?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wesentlich hinaus. Das Politische spielte in diesen Unterhaltungen natürlich eine Rolle …

Er nahm sich Zeit für das architektonische und kulturelle München? War es in seiner Erinnerung?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Absolut. Aber er hat mir auch von den Schwierigkeiten erzählt, mit vielen Büchern umzuziehen. Sowas hat ihn sehr verdrossen. Das waren bescheidene Gespräche, aber ich möchte annehmen, daß es für ihn eine Art Erholung war, mit einem unbedarften Jungen zu sprechen.

Offenbar sprachen zwei Dinge für Sie: ein Münchener, ein wirklicher Bayer zu sein, und Ihre jungenhafte Spontaneität.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das möchte ich annehmen.

Sie hatten damals noch keine Zeile von Marx gelesen – oder übertreiben Sie?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Damals hatte ich keine Zeile gelesen. Marx habe ich dann im Gefängnis sehr ausführlich gelesen. Ich habe ja zwei Jahre gesessen. Da hat man Zeit.

Und da wollte Lenin etwas nachholen mit Ihnen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein, nein, absolut nicht. Er nahm mich so hin wie ich war. Was Lenin interessierte, das waren Kommentare zu den Münchener Persönlichkeiten, die im Vordergrund standen. Wenn er Toller gelesen hat, dann wollte er schriftlich oder mündlich – das war ganz unterschiedlich – einen Kommentar zu Toller haben. Dann habe ich gesagt: »ein jüdischer Literat« – denn judenfreundlich war Lenin nicht, nicht wahr?

Mit dem kleinbürgerlich-nationalistischen »Bund« hatte er immer wieder Streit, das ist sicher, aber ein »Rasse«-Denken war Lenin fremd.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, sicher. (...) Dazu kam, daß Lenin und ich eine philologische Ader hatten. Wir tauschten unsere Ansichten über die Herkunft ungezählter deutscher Lehnwörter in der russischen Sprache aus, die ein Teil der Kulturgeschichte, auch ein Teil der russischen Wirtschaftsgeschichte sind. Wir gingen beide davon aus, daß diese Worte Einbringsel durch Peter den Großen sind; aber es stellte sich heraus, daß zweifellos auch noch frühere Worteinsprengsel wie »komnata«, »gost« usw., die mindestens ins 16. Jahrhundert zurückreichen, in großer Zahl vorhanden sind. Das hat Lenin im Gespräch Spaß gemacht. Die ganz alte Garde, die Zimmerwaldgarde, hatte merkwürdigerweise schulmeisterliche Züge.19

Lenin ist Sohn eines Schulinspektors …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Diese ganzen Leute, wie Bucharin, hatten schulmeisterliche Züge. Das hängt vielleicht mit dem rabbinischen Zug des Marxismus zusammen. Sie alle hatten philologische Interessen, was zum Teil auch damit zusammenhing, daß sie Russen waren, Deutsch aber können mußten, um die marxistischen Schriften lesen zu können. Dann hatten sie in der Regel Französisch als Gesellschaftssprache gehabt, und durch diese mindestens Dreisprachigkeit kam ein etwas philologischer Zug in diese alte Garde um Zimmerwald.

Hochgebildete Leute.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Aber selbstverständlich. Grundgescheit war Radek, liebenswert Bucharin; Sinowjew, würde ich sagen, etwas ein Schwatzkopf, Trotzki und Tschitscherin grundgescheit, und ebenso Karachan, sein Stellvertreter, der mir die sowjetische Staatsbürgerschaft ausgestellt hat.

Und dann hat Lenin bemerkt, daß Sie krank geworden sind.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein, er hat gemerkt, daß er keine Berichte (aus Bayern, E. S.) mehr bekam. Ich vermute, er hat den »Gusar « danach gefragt. Seine eigentliche Bezeichnung war »Offizer«, aber erstere war ihm lieber. Und beauftragte ihn, einmal nachzusehen. Da standen die Eßschalen unberührt, die er täglich brachte, drang dann ein in die großen mönchartigen Zellen an der vorderen Kremlfront, und fand mich in einem traumaartigen Fieberzustand. Es war das Moskwa-Fieber, eine damals weit verbreitete, offenbar typhöse Erkrankung, die im wesentlichen Zugereiste betraf. Es kann sein, daß sie mit unzulänglicher Trinkwasseraufbereitung zusammenhing. Sie äußerte sich in Durchfall oder in typhusartiger Form. Ich habe sie massiv bekommen, ich bin magenanfällig. Ich bin also im Kremllazarett aufgewacht, das dem »kavalerski korpus« (Kavaliersflügel) im wesentlichen gegenüber lag. Niemand wollte mir sagen, wie ich dort reingekommen bin. Dort wurden die Leute aus dem ZK behandelt.

Na, Sie waren schließlich Mitarbeiter.

LUDWIG KROEBER-KENETH: So fein war ich auch wieder nicht, daß ich in dieses noble Lazarett kommen mußte. Niemand wollte mir sagen, wie ich da hineingekommen bin, bis mir eine Krankenschwester sagte: »Das hat Iljitsch besorgt.« Mehr weiß ich nicht.

Wie war Ihr Status? Waren Sie zu der Zeit Offizier? Die Uniform trugen Sie wie alle anderen. (…) Waren Sie nicht selber »Gusar«?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das wechselte so. Teils war man nichts, zum Teil war ich Kommissar der Internationalen Brigade.

Was war das genau?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ein zusammengelaufener Haufen junger Leute – Deutsche, Tschechen, hauptsächlich wohl Slawen, Polen, Balten – der in Petrograd stationiert war, eine Einheit der Roten Armee.

Mit unterschiedlichen Sprachgepflogenheiten – wie kann man da kämpfen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das notwendigste Russisch haben sie inzwischen gekonnt.

Und Sie galten als Spezialist, auch als Militärspezialist?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, das war man dort rasch.

Immerhin hatten Sie Weltkriegserfahrung …

LUDWIG KROEBER-KENETH:…als Unteroffizier!

Die Köchin mußte regieren – da mußte der Unteroffizier…

LUDWIG KROEBER-KENETH:…die Brigade anführen.

Was war eine Brigade?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Im deutschen Heer bestand eine Brigade aus zwei Regimentern. Das hier war ein zusammengelaufener Haufen aus, ich schätze sieben- bis achthundert Menschen.

Das entsprach ja Lenins Meinung: Revolution muß man mit denen machen, die man hat.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Ja.

Und wie kamen Sie zur Reiterei?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ach Gott, sportlich wie ich damals war, konnte ich mich auf dem Pferd halten. Aber ich verabscheue Pferde. »Das Pferd ist ein wildes Tier – und trachtet dem Reiter nach dem Leben«, heißt ein Spruch. Sie haben treue Augen und sonst nichts. Die Weißen waren eben sehr nahe. Und alles, was irgendwie transportfähig war, mußte sich auf die Pferde setzen – und ihnen nach! Und da deren Pferde besser gefüttert waren als die unseren, sind sie schnell wieder weggekommen. Das nennt man dann einen Sieg – pobeda.20

Auf Ihrem Weg nach Hause entgehen Sie Mitte Juli 1919 in Riga mit knapper Not der Erschießung durch die Weißen, um wenig später der Reaktion in Bayern in die Hände zu fallen. Welche Aufgabe hatten Sie für ihre Rückkehr nach Deutschland.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich bekam den Auftrag, in München die Kommunistische Partei Deutschlands wieder aufzubauen, harmlos, harmlos.

Von wem bekamen Sie den Auftrag?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Von Sinowjew. Alle Dummheiten kamen von Sinowjew. Es war eine vollkommene Verkennung der revolutionären Situation.

Wieso wieder aufzubauen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Sie war ja verboten. Am 2. Mai wurde München von den weißen Garden eingenommen. Das hat ungefähr sechshundert Tote auf der roten Seite gekostet, eine ganze Menge. – Ich bin an meinem 20. Geburtstag in München angekommen (5. August 1919, E. S.). Mit ein paar Adressen, die ich zuvor in Berlin von Paul Levi erhalten hatte, oder, ich weiß nicht, war es Ruth Fischer? Die Ruth Fischer war ein ganz großes Mistviech. (...) Ich bekam also ein paar Münchener Adressen, wo ich wieder anklopfen konnte. Das war gerade, als die Geiselmörder exekutiert wurden – jene, die die, ich glaube sechzehn Leute von der Thule-Gesellschaft als Geiseln an der Mauer des Luitpold-Gymnasiums erschossen hatten. Man sieht die Einschüsse heute noch. Die Thule-Gesellschaft war eine deutsch-tümelnde reaktionäre Gesellschaft, die in jeder »Geschichte der Münchener Räterepublik« eine Rolle spielt. Hier begann der tragische Umschwung. Die Münchener Räterepublik genoß eine gewisse Popularität, die nach der Erschießung – es waren auch ein paar Frauenzimmer dabei, brutal an die Wand gestellt – verloren ging. Natürlich waren es Reaktionäre, das ist gar keine Frage.

Die Konterrevolution danach war, wie so oft in der Geschichte, wesentlich schlimmer.

LUDWIG KROEBER-KENETH: (…) war viel schlimmer, ja. Aber darum hat die Münchener Bevölkerung keinerlei Widerstand gegen die anrückenden weißen Garden geleistet. Diese Geiselmörder, sechs, acht, zehn – etwa in der Größenordnung – wurden nun am Münchener Ostfriedhof bestattet, und ich Idiot habe als illegaler Leiter der Kommunistischen Partei dort die Grabrede gehalten. Es war mir klar, daß unter den wenigen Zuhörern die Hälfte Kriminalpolizei war. Aber nun spricht mein schriftstellerischer Schwachsinn mit: Ich habe mir eine Zeitung gekauft und hab vergessen, daß ich illegal bin. Und hab auf der Straßenbahn Zeitung gelesen. Am Sendlinger Tor – ich weiß noch die beiden Bäume, wo’s geschah – legt sich mir eine Hand auf die Schulter: »Folgen Sie uns. Kriminalpolizei! « Und da bin ich in die Ettstraße eingeliefert worden und hab dort zunächst einen sehr ruhigen Karfreitag 1920 21 verbracht.
Nun hatte ich außerdem das Pech, daß mein Vetter, Ritter von Kahr, Staatskommissar, praktisch der Staatspräsident von Bayern war. Und der Staatsanwalt hatte ihm mitgeteilt: »Ich muß sechs Jahre Zuchthaus gegen Ihren Vetter beantragen.« – Das war ihm sehr unangenehm. Daraufhin wurde die »Lex Kroeber« geschaffen, das nach dem Krieg abgeschaffte Schutzhaftgesetz wieder eingesetzt – damit der Vetter des Staatspräsidenten nicht ins Zuchthaus wandert.

Eine echte Vetternwirtschaft.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das kann man sagen. So hat mich meine Leidenschaft für Zeitungen dorthin gerissen. Ich hatte völlig vergessen, daß ich Kommunist und illegal bin. Das ist der beste Beleg, daß ich nicht wirklich politisch bin.

Ja, Sie behaupten das in Ihrem Buch, aber beweisen konnten Sie es keinesfalls.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich wollte sagen: Ich bin politisch denkend. Ich bin kein politischer Täter. Im Gegensatz zu Kurella, der immerhin tätig war. Ich bin kein politischer Täter, wohl aber politisch interessiert, im Sinn der Geschichte.

Haben Ihre Eltern Sie im Gefängnis unterstützt?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Meine Eltern waren nicht beglückt mit mir. Während meiner bayrischen Haftzeit haben sie sich sehr gekümmert und gesorgt, aber wir hatten wenig echten Kontakt miteinander.

Sie kamen zu den Besuchszeiten?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Natürlich. Nun war ich ja zum Teil auch außerhalb Münchens inhaftiert, so in Landsberg, wo Hitler später sein Buch »Mein Kampf« geschrieben hat. Ich war jedenfalls im Krankenflügel von Landsberg.

Und was brachte die Mutter mit?

LUDWIG KROEBER-KENETH: 1920/21 – das waren ausgesprochene Notzeiten. (...) Als ich im Gefängnis war, wollte sich das ZK der Kommunistischen Partei Deutschlands für mich verwenden, daß die ewige Verlängerung der Schutzhaft, die alle drei Monate erfolgte, endlich aufhören sollte. Aber da soll sich, wie ich hörte, Kurella in dem Sinne dagegen ausgesprochen haben, daß er, Kroeber-Keneth, uns im Gefängnis nützlicher sei als wenn er draußen wäre. So ist es mir berichtet worden.

Ich hätte ja Zweifel an solchem Bericht, nicht allein, weil Alfred Kurella überhaupt nicht im Lande war und wohl damit nicht befaßt.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich kann’s nicht sagen. Es wurde mir nur so gesagt.

Von Lenin schreiben Sie, daß er faszinierend war.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Lenin hatte die Gabe der Faszination in einem ganz ungewöhnlichen Sinn auch über seine Zeitgenossen hinaus.

H. G. Wells hielt Lenin, der ihm die Zukunftspläne Sowjetrußlands, besonders die geplante Elektrifizierung des ganzen Landes erläuterte, für einen Phantasten und Träumer.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Also Ahnungsvermögen gehört sicherlich mit zur Faszination. Ob er ein eigenpersönlicher Denker war – ich möchte es dahingestellt sein lassen, ich wage das Urteil nicht. Daß er eine weltbewegende Persönlichkeit war, das ist sicher.

Für die Rückkehr nach Bayern bekamen Sie einen Brief mit?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Einen Brief von Lenin – nein. Eine Beauftragung, von ihm angeregt, die jemand im Zentralkomitee unterschrieben hat.

Sie berichten von einem Detail: Sie hatten von Lenin die Kenntnis und nutzten sie entsprechend, wie man rohe Milch als Geheimtinte verwendet. Ich weiß, Lenin hat es in der Illegalität so gehalten – aber wie kam das zu Ihnen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das hat er mir erzählt. Ich besitze einen dieser Briefe, die ich vor dem Ausbruch aus Günzburg geschrieben habe. Den mußte man mit dem Bügeleisen behandeln, damit die Schrift wieder sichtbar wurde – und das beruht auf einem Hinweis von Lenin.

Wie kam er dazu?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Manchmal hatte er Lust zu erzählen. Er hat mir auch erzählt, woher sein Name kommt, was damals merkwürdigerweise auch Leute seiner Umgebung nicht genau wußten: »der Mann von der Lena her«, der von der Lena kommende Mann. Er hatte manchmal Lust zu plaudern – er hatte keine Gesprächspartner mehr, er war für seine alten Zimmerwalder Genossen zum Monument geworden.

Und da kam der Jüngling aus Bayern …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Und da hatte er Lust, in Erinnerungen zu graben, sein Deutsch zu projizieren und zu reproduzieren, er bekam Lust zu sprechen. Wenn ich nicht so jung und dumm gewesen wäre, hätte ich jedes dieser Gespräche nachträglich aufzeichnen müssen, obwohl sie nichts enthielten, was irgendwie den Weltgang betraf. – Nein, es waren persönliche Erinnerungen, an seinen Hauswirt in München …

Was sagte er von ihm?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Daß er ein Ekel war!

Und trotzdem blieb er?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein, er mußte umziehen, und es gab dann Ärger mit den vielen Büchern. (…) Aber, wie gesagt, ich habe diese kleinen stories erlebt und nie aufgeschrieben. Das bedaure ich heute sehr.

Haben Sie ihn mit der Katz gesehen? Er mochte eine Katz.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein, ich habe nie bei ihm eine Katze gesehen.

Sie werden verstehen, viele Menschen beneiden Sie natürlich. Sie halten Lenin für einen ganz Großen dieser Welt, Alfred Kurella selbstverständlich, ich ebenso. »Unterwegs zu Kurella« – meine Fahrt zu Ihnen – das ist schon spannend. Aber unvergleichlich ist »Unterwegs zu Lenin«.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Allein schon dieser Titel, nicht wahr? Also der Titel ist glänzend gemacht. Und auch die Erzählung ist blendend. Es ist natürlich ein Titel ex posteriori, denn ich glaube, wir hatten für unseren Brief einen anderen Adressaten.

Swerdlow! Und als Sie in Moskau eintrafen, war Jakow M. Swerdlow grad gestorben.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ach, daher meine Zweifel, denn unser Adressat war nicht Uljanow.

Und dann kamen die bayrischen Ereignisse, und alles kam in Fluß. Es war interessant, daß Sie erklären, Ihnen habe die Geschichte am nächsten gelegen, jedenfalls näher als die Psychologie.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Viel näher. Die Psychologie ist der Versuch, aus der Unfähigkeit, mit Menschen etwas anzufangen, einen leidlich gewinnträchtigen Job zu machen.

Ich war in der festen Absicht zu Ihnen gefahren, nicht mit Ihnen zu streiten, aber wenn Sie Ihre Zweifel anmelden, daß die bürgerliche Revolution von 1848 durchweg gescheitert und die Novemberrevolution von 1918 siegreich gewesen sein soll, so kann ich Ihnen ohnehin nur zustimmen.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Die 48er Revolution wurde zwar militärisch niedergeschlagen, sie brachte aber das Großbürgertum an die Macht. Die Revolution von 1918 ist im Grunde eine verlorene. Die Aushängeschilder hatten sich geändert, aber es blieb beim Alten.

Hier ist ein Bild aus der frühen Komsomol-Zeit. Ist Ihnen jemand davon bekannt?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Wer steht da hinter Kurella? Wir wissen es nicht …

Sie erkennen keinen weiteren?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es kommt mir so vor, als ob ich die alle kennen würde. Ich kann keinen benennen und habe das merkwürdige Gefühl, daß ich sie alle kenne.

In Leipzigs Deutscher Bücherei hatte ich nur flüchtig Gelegenheit, Ihr nach einem chassidischen Lied geschriebenes Gedicht vom Glück zu lesen. Es hat mir auf Anhieb gefallen:

Massel
weit hinten in Polen
am Ufer des Dnjester
liegt sich es
Dörfl im Dreck

Warm ist der Ofen
der Tisch ist gericht
fehlt nur a bissel
a bissel a Licht.

Iber dem Ufer
beten die Jidden
nach Osten gebickt
um a bissel, a bissel
a Glick.

Es schien mir so treffend die Atmosphäre einzufangen, die Sie damals auf Ihrem langen Wege kennengelernt haben mögen und von der man ein wenig durch Scholem Alechem weiß.«

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, es hat die Athmosphäre des Chassidischen. Aus diesem Chassidentum kommen die berühmten russischen Geiger wie Oistrach, Menhuin und wie sie alle heißen. Und zwar wird beim Schabbes gefiedelt, gesungen und getanzt. Dort ist die hohe Musikalität zu Hause.

Vielbödig und sehr interessant fand ich auch Ihr:

Narrenlied
Ich bin der lust’ge Rat
der großen Herrn.
Die möchten bitter sich beschwern
tät ihnen mein verdorrter Mund
die ungeschminkte Wahrheit kund.

So lass’ ich meine Schellen klirren
so lass’ ich meine Peitsche schwirren
so hörn sie’s gern die großen Herrn.

Wann wurde es denn geschrieben?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Vor 20 Jahren.

So festgelegt, wie es in Ihrem Buche als Vorspruch zitiert wird, ist es gar nicht …22

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein, nein. Es bezieht sich letztenendes auf die beiden Chefs, die ich am liebsten mochte. Das eine ist Philipp Reemtsma, der die Zigarette geschaffen hat, das andere ist der Professor Messerschmitt, der das Flugzeug geschaffen hat. Das waren die beiden Chefs, die mir nahegestanden sind.
(Tilla Kroeber: Echt große Leute!)
Und wissen Sie, ich hab’s eigentlich heute satt. Ich mag dieses Bourgeoisiegesindel nicht mehr. Und ich mag aber auch die sowjetischen Kleinbürger nicht, die sowjetischen Oberbuchhalter nicht. Es ist Zeit, daß man geht. Ich hab mein Soll erfüllt. Es ist gut, daß Sie gekommen sind. Es dauert nicht mehr lang.

(11. Januar 1978) Ihr Kronberg ist ein hübsch gelegenes Städtchen, mit überschaubarer Einwohnerzahl. Herrschen hier strenge Konventionen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Man weiß zu genau voneinander Bescheid. Es lohnt hier nicht anzugeben. Große Toiletten sind hier nicht üblich.

Keine Neureichen?!

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es sind Normalbesitzer, Geschäftsleute und so weiter, Ärzte. Was an wirklich reichen Leuten da ist – wir gehören nicht dazu – das sind Altreiche, die zwei Inflationen überstanden haben, die seit Generationen ihre Häuser hier haben und höchstens Besorgnis haben, wie man heute noch Dienstkräfte bekommt.

Und Sie sind gern hier?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Manchmal denke ich, ich gehöre eigentlich nach München, aber mit den Jahren ist man dort wohl etwas fremd geworden.

Schreiben Sie, Herr Kroeber, heutzutage auch ab und an noch ein Gedicht?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es war eine Zeitlang, wo ich gern Verse geschrieben habe. Dann war diese Ader plötzlich versiegt. Ich glaube, ich habe vor zehn Jahren aufgehört. Ich wäre heute nicht mehr in der Lage, einen echt empfundenen Vers zu schreiben – reimen kann man immer.

Gern möchte ich die Gelegenheit nutzen, Sie um ein paar zusätzliche Auskünfte zu den besprochenen zu bitten – vielleicht erst einmal nach dem Jahr 1913, das als Jahrhundertfeier bereits chauvinistisch genutzt wurde, in dem es aber auch das große Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner gab.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Als 14jähriger habe ich daran teilgenommen, aber Erinnerungen eines 14jährigen wären so unreif und so unfertig, daß sie nicht aufzeichnungsreif wären. Ich weiß nur, daß Wyneken eine Rede gehalten hat – dem sind wir weit aus dem Weg gegangen. Ich war mit der Wandervogelgruppe aus München gekommen und war einer der jüngsten Teilnehmer. 1908/09 war ich in den Wandervogel e.V. München eingetreten.

Seit ich von Alfred Kurella und seinem Freundeskreis weiß, interessiert mich das Phänomen von Jugendfreundschaften, die Tatsache, daß sie, Jahrzehnte überdauernd und über Schranken hinweg, ein weiterwirkender Stimulus bleiben. (…) Nun ist es schon möglich, daß Alfred Kurella sich geärgert hat, als Sie ihm 1954 anläßlich der Übersendung seines Buches »Ich lebe in Moskau« antworteten: »Wunschgemäß übersende ich Dir mein letztes Buch: ›Menschenführung – Menschenkunde‹. Es zeigt, wo ich stehe. Dein Buch über Moskau kenne ich. Es zeigt, wo Du stehengeblieben bist.« 23 Eigentlich ist das eine Auszeichnung.

LUDWIG KROEBER-KENETH: In gewissem Sinne: ja!

1976 schreiben Sie über Ihren Reisegenossen von 1919: »Ich habe kaum je einen begabteren Menschen erlebt als Kurella: Zeichner, Bänkelsänger, Lautenspieler. Politisch unvergleichlich begabter als ich (…).«24

LUDWIG KROEBER-KENETH: Kurella hatte unendlich faszinierende Züge. Er war eine faszinierende Persönlichkeit, nur er war auch eine schillernde Persönlichkeit in seiner Jugend. Es tritt ja mit der Zeit auch eine Altersverholzung ein, die aber auch zu einer stärkeren Gradlinigkeit führt.

Eigentlich ist deutlich geworden, warum man Sie Zwei zusammengespannt hat. Alfred Kurellas Bericht ist zu entnehmen, daß er aus mehreren Gründen München verlassen mußte und daß er bereits vor Ihnen in Berlin war und Sie ausgewählt hat, als er den Reiseauftrag erhielt. Was hat Sie gereizt, zuzusagen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich wollte aus München fort, wo die Räterepublik heraufzog, die meines Erachtens keine Basis hatte und in die ich im Grunde nicht verwickelt werden wollte.

Nun schreibt Alfred Kurella, im Unterschied zu Ihrer Darstellung – die Erinnerungen von Ihnen beiden sind ja unabhängig voneinander geschrieben worden …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, völlig unabhängig voneinander …

… daß er in Berlin bei der Zentrale der damals verbotenen KPD für die Reise von einem Genossen Pfeiffer instruiert wurde.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Also ich bin mit Paul Levi zusammengetroffen. Das ist ganz sicher. Ich habe ihn erst in Berlin, und zwar in einem Café kennengelernt, das spricht dafür, daß die Zentrale geschlossen war. Es war der Gastraum eines altmodischen, nicht modernen Cafés.

In welchem Stadtteil?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich schätze Charlottenburg, aber es wäre gelogen, wenn ich es beschwören würde. Ich erinnere mich an eine komische Episode: Er sprach etwas laut von den russischen Genossen. Und ich sagte: »Pst, Pst! Wir sind in einem öffentlichen Lokal!«

Sie, der Junge, belehrten den Vorsitzenden?!

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, aber er sagte darauf: »Und Sie haben gerade von Lenin gesprochen!«

Was auch nicht richtig war.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein. Ein belangloses Intermezzo, nicht wahr. Und haften geblieben ist mir der Schlußsatz: »Wenn die Vertreter der Münchener Räterepublik nicht rechtzeitig nach Moskau kommen, müßt Ihr sie vertreten.«

Und es ist möglich, daß Alfred Kurella als Leiter der Delegation an diesem Gespräch teilnahm.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es ist durchaus denkbar. Es wäre eigentlich selbstverständlich, daß er dabei war. Aber ich entsinne mich seiner nicht. Sein Reisebericht jedenfalls ist so präzise, daß er entweder ein phänomenales Gedächtnis besaß, oder unmittelbar nachher in Moskau ein Tagebuch geführt hat. Jedenfalls bezweifle ich seinen Reisebericht nach keiner Richtung. Vergessen Sie auch nicht, daß Kurella seine Sache ein Leben lang verfolgt hat. Drum sind seine Erinnerungen auch füllig und sind immer präsent geblieben, während sich für mich ganz andere Welten dazwischengeschoben haben.

Ja, gewiß. Sagen Sie bitte, wie viele Tage waren Sie, aus München kommend, noch in Berlin?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich glaube, wir waren in erheblicher Eile. Ich muß sagen, keinesfalls länger als an drei Tage.

Einen Monat dauerte die Reise?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Das dürfte stimmen.

Gern möchte ich Sie noch einmal an diesen ungewöhnlichen 1. Mai 1919 erinnern …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich wurde von einem Mann der Kremlwache aus dem Kavalerski Korpus an das Spasski-Tor geholt. Dort wartete ein kleiner Musikzug mit Pfeifen, und ich wurde mit den Ehren eines Delegierten zur Tribüne gebracht. Ich stand, während Lenin sprach, an der linken Seite der hölzernen Rednertribüne, die einem Schafott ähnlich sah. Nach der kurzen Ansprache von Lenin, meiner Erinnerung nach als zweiter, wurde ich auf die Bühne gehievt und hatte die Räterepublik zu begrüßen. Was ich gestern schon erwähnte, ich hatte angedeutet: »Wenn die Bayrische Räterepublik heute schon niedergeworfen sein sollte, so wird sie doch ein Fanal auf dem Weg zur Weltrevolution sein.« Und in der Übersetzung hat Bucharin diesen Satz weggelassen.

Gab es für die Ansprachen irgendwelche akustische Verstärkung?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Meiner Erinnerung nach: nein.

War von Ihrem Platz aus Lenins Rede zu hören?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, natürlich. Ich stand unmittelbar daneben, drei, vier Stufen unterhalb seines Podests.

Lenin sprach frei?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich kann mich nicht erinnern, daß er einen Zettel in der Hand gehabt hätte.

Zog derweil der Demonstrationszug vorüber?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Die Menge unten stand, meiner Erinnerung nach.

Hatten Sie Ihren Text notiert?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich hatte einen kurzen Zettel, den ich auch Bucharin schon gegeben hatte. Den Auftrag zu der kleinen Ansprache habe ich, wie ich meine, erst am Vortag erhalten. Es war nicht so aufregend. Zugespitzt war mein Zweifel am Bestand der Bayrischen Räterepublik.

Und nun lernten Sie viele neue Freunde kennen. (…) Lasar Schatzkin?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, ganz dunkel erinnere ich mich. Er gehörte zum engeren Kreis. Im Kreml war ich sehr isoliert, ich erinnere mich nicht, dort einen Besucher gehabt zu haben. Das eine oder andere Mal war ich in der Stadt bei Bucharin und Marchlewski, die im Hotel wohnten. Ich glaube, Bucharin wohnte im Metropol.

Sagen Sie bitte auch etwas über Ihre zweite Reise in die Sowjetunion 1923. Alfred Kurella haben Sie nicht mehr getroffen, aber vielleicht andere Freunde von 1919?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Kurella – nein. Bucharin habe ich noch etliche Male gesehen, auch Marchlewski, aber nur flüchtig.

Und Ihre Pro-forma-Braut?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich glaube nicht, daß sie in Moskau war. Sie dürfte mit Vogeler auf dem Barkenhof gelebt haben. Ich kann es nicht beschwören. Die zweite Reise war eine Verkettung von Zufällen. Ich schrieb damals für den Berliner Börsen-Courier, ein links-liberales ostfreundliches Blatt, nicht zu verwechseln mit der scharf rechts gerichteten Deutschen Zeitung. Der Besitzer war ein Kommerzienrat Goldschmidt, der mir wohlgesonnen war. Ich schrieb Theaterkritiken und hatte aber noch Beziehungen zur russischen Botschaft, vor allem zu Krestinski, dem Botschafter. Auch zur Botschafterin in Schweden, Kollontai, sie war besuchsweise in München, waren Beziehungen. Krestinski fragte mich ganz unerwartet bei einem großen Botschaftsempfang Unter den Linden, ob ich nicht wieder nach Moskau wolle. Offenbar wollte man dort ein Gremium von dem Osten wohlgesinnten Korrespondenten schaffen. »Doyen« war Paul Schäffer vom Berliner Tageblatt, die einwandfrei überragende Gestalt, dann gab es einen Nicolaus Bassachess von einer großen Wiener Zeitung, ich glaube, der Wiener »Presse«, ein sehr fähiger Mann. Man wollte ein »corps diplomatique de la presse« schaffen. Rapallo war schon gelaufen, und da wünschte man drüben eine Presseunterstützung. Man hatte meine offenbar ganz flüssig geschriebenen Theaterberichte gelesen. (…) Ich mochte Moskau. Die ganze Entwicklung hat mich interessiert. Also habe ich das Visumangebot gerne angenommen. Ich bin zum Kommerzienrat Goldschmidt gegangen, der freudig auf den Vorschlag einging, denn einen Korrespondenten in Moskau zu haben, war für eine deutsche Zeitung ungewöhnlich und war ein Gewinn. Wenn ich mich recht erinnere, wurde ich in Moskau in einer großen aufgeteilten, ehemals großbürgerlichen Wohnung etabliert. Damals wurde in Moskau nackt gebadet.

Das wurde später viel strenger.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Viel prüder. Männlein und Weiblein badeten damals nackt. Im Gegenteil: Es galt als unanständig, etwas anzuhaben. Ich weiß nicht, ich hatte ein Boot gemietet, das gab’s damals sogar, und hatte eine Art Shorts an, und man rief mir zu, ob ich was zu verbergen hätte …

Fidus hätte seine Freude gehabt!

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja. Ja.

Wie lange blieben Sie in Moskau?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich würde sagen, daß ich ein gutes halbes Jahr in Moskau geblieben bin. Ich weiß nicht, ob in meinem Buch etwas darüber steht. Meine Tagebücher habe ich weggeworfen.

Wie haben Sie das nur machen können?!

LUDWIG KROEBER-KENETH: Für meine »Fetzen…« habe ich sie exzerpiert. Die beruhen noch auf den Tagebüchern. Wenn die Tagebücher aussetzen, setzt mein Gedächtnis aus. Nur einige markante Blätter habe ich behalten. Ich werfe alles weg, was ich nicht unbedingt brauche. Ich will mich vom Papierballast entlasten.

Sagen Sie bitte, weshalb erhielten Sie, der Neuling, den Auftrag, kommissarischer Pressechef der Deutschen Botschaft zu werden?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Der echte Presseattaché war nach Berlin abberufen worden, wobei ich nie erfahren habe, ob aus dienstlichen Gründen, krankheitshalber oder ob er in Ungnade gefallen war. Das Grüppchen von fünf, sechs deutschen Journalisten wurde von der Botschaft aufgefordert, einen kommissarischen Pressesprecher zu stellen. Das war das sicherste Mittel, sich zwischen alle vorhandenen Stühle zu setzen, um dann abberufen zu werden, wenn der echte aus Berlin kam. So traf das Schicksal mich als den Jüngsten und Unbedarftesten. Ich wurde also in die Deutsche Botschaft zu Generalkonsul Grabowski gerufen, der mir ausgesprochen ungnädig gesonnen war, wiewohl ich ihn sehr bewunderte. Früher war er Generalkonsul in Kiew gewesen. Durch den kam ich dann mit einiger Mühe zu Botschafter Brockdorff-Rantzau. Das war ein berühmt-berüchtigter Nachtarbeiter, und das hat ihn mit Tschitscherin verbunden, der auch ein ausgesprochener Nachtarbeiter war. Ich bin auch mitten in der Nacht von Brockdorff-Rantzau empfangen worden. Er war zunächst durchaus voreingenommen, war mir dann später aber freundschaftlich zugetan. Diese Tätigkeit schlief nach kurzer Zeit ein, weil die Stelle definitiv anders besetzt wurde. Ich wurde in Gnaden entlassen.

Das war ohne Gehalt?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Es war ein Ehrenamt.

Es bedeutete nicht unbedingt, an den Beratungen des Leitungsgremiums der Botschaft teilzunehmen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein. Nein. Damals war Botschaftsrat G. Hilger, ich glaube, er lebt noch irgendwo, die Seele der Botschaft. Den inneren Betrieb hat Grabowski geleitet. Brockdorff- Rantzau schwebte irgendwie über den Wassern und hielt vor allem den Kontakt mit Tschitscherin.

Wie würden Sie heute das politische Credo dieses Führungsgremiums der damaligen Deutschen Botschaft einschätzen?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Sie waren in erster Linie Gegner des Versailler Vertrages. Das einte sie. Da war ihnen jedes Mittel recht. Zwischen Brockdorff-Rantzau und Tschitscherin bestanden freundschaftliche Beziehungen. Grabowski hatte wohl unterirdische Beziehungen zum russischen Nachrichtendienst: Die tauschten wohl untereinander Nachrichten aus. Und Hilger war ein gewandter Routinediplomat. Was sie vereint hat, waren die Ablehnung und der Kampf gegen den Versailler Vertrag.

Haben Sie sich in Moskau auch im kulturellen Bereich umgetan?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ja, besonders im Theater. Ich hatte mit Meyerhold eine Begegnung. Mit Kandinski bin ich ein paarmal zusammengetroffen. Kandinski wollte gern, daß ich zwei seiner Bilder nach Berlin mitnehme: eins sollte sein Kunsthändler, Flechtheim, bekommen, das andere sollte ich behalten. Heute wäre ich ungefähr Millionär. (…) Aber ich habe das nicht gemacht, da ich nichts von seiner Kunst halte. Ich bin der Ansicht, daß Kandinskis expressionistische Malerei einfach daher kommt, daß er nicht zeichnen kann.

Hier ähneln Sie Alfred Kurella, der ähnlich böse Gedanken gegenüber diversen Ismen hatte …

LUDWIG KROEBER-KENETH: Ich hielt das ganze für einen Rückfall in die russische Lackmalerei. Ich bin dann nicht mehr hingegangen zu Kandinski und bereue natürlich, daß ich die zwei Bilder nicht mitgenommen habe. (…) Ich reiste damals fein mit Diplomatenpaß.
Mit der Berichterstattung nach den abendlichen Theaterbesuchen war ich nicht ausgelastet. Eine deutsch-russische Handelsgesellschaft Wostwag (»West-Ost-Europäische Warenaustauschgesellschaft «) ist an mich herangetreten, die einen Sitz in Berlin, in der Victoria-Straße hatte. Sie hat mir das Leben in Moskau möglich gemacht, denn in Deutschland war Inflation und das Salär war sofort davongeflossen. Ich wurde als Dolmetscher gebraucht, habe Übersetzungen gemacht, Schriftwechsel geführt, Besuche gemacht, nicht als Großkaufmann, sondern immer im Auftrag. Hauptsächlich wurden Pelze gehandelt. So sehr groß waren damals die Handelsgeschäfte mit Deutschland gar nicht. Ich erinnere mich vor allem an Pelzgeschäfte. Auch aus einem persönlichen Grund: Ich kaufte mir einen Pelz aus Zibetkatze, der vor allem den Nachteil hatte, daß er, wenn es warm wurde, entsetzlich stank.

Für sich selber kauften Sie den?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Für mich, ausnahmsweise. Sehr häufig waren die Felle, die aus der Wolgagegend kamen, schlecht gegerbt. Es fehlte da wohl noch an Chemikalien. Und da gab es eben auch mit der Wostwag Verdruß, weil die damaligen russischen Waren zum Teil den deutschen Ansprüchen nicht genügten.

Vor allem aber haben Sie für Ihre Zeitung Artikel geschrieben und Interviews gemacht?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Mit Krassin, Volkskommissar für Außenhandel, hatte ich ein Interview, und ich muß auch den Präsidenten der Gosbank, Scheinmann, erwähnen, der uns Pressevertretern die Goldbarren zeigte. Meine Tätigkeiten, das waren Interviews, abends Theater und zwischendurch Vermittlungsgespräche für die Wostwag. Das war das zweite Bein, auf dem ich in Moskau stand. Als dann der damalige Leiter der Wostwag abberufen wurde, ihm waren verschwenderische Geschäftsgebaren vorgeworfen worden, womit man seinerzeit alles und jedes begründen konnte, hörte diese Geldquelle auf.
Ich kam dann zurück nach Berlin, schrieb weiter für den »Börsen- Courier«, und der alte Kommerzienrat Goldschmidt empfing mich: »Schön haben Se geschrieben, fleißig haben Se geschrieben. Brav haben wir alles gedruckt. A Journalist wern Se nie!« – »Aber Herr Kommerzienrat«, sagte ich, »wenn ich schön geschrieben hab und Sie brav alles gedruckt haben, wieso werde ich dann kein Journalist? « Darauf sagte er: »Wissen’s, Sie haben genauer recherchiert als die anderen und weniger Fehler gemacht als die anderen – aber Sie waren immer 24 Stunden später.«
Das war für mich eine außerordentliche Lehre: Journalismus verlangt den Tagesschriftsteller – das bin ich nicht. Ich bin Fachschriftsteller. Ich schreibe auch heute noch in Zeitungen, wie Sie wissen, in der Frankfurter Allgemeinen und in der Welt – ich bin wohl der einzige, der in beiden Zeitungen schreibt – aber ich weiß, daß ich im Sinne der flotten, cleveren Tagesberichterstattung kein Journalist bin.

Haben Sie Ihre alten Artikel später noch einmal nachgeblättert?

LUDWIG KROEBER-KENETH: Nein. Ich lese nie noch mal, was ich geschrieben habe, es sei denn, ich muß etwas Bestimmtes nachschlagen. Was geschrieben ist, fällt von mir ab.

Vielleicht haben wir in etwa den Kreis ausgeschritten, der auszuschreiten war. Ich möchte Sie nur herzlich bitten, dasjenige, was morgen, übermorgen, in einer Woche und später zum Thema aus Ihrer Erinnerung hervortauchen sollte, freundlicherweise zu notieren und nachzutragen.

LUDWIG KROEBER-KENETH: Aber gern. Ich danke herzlich für die so freundlich und geduldig gegebenen Auskünfte. Ich danke Ihnen und Ihrer Gattin für die gastliche Aufnahme.

Nachbemerkung
Die Vorahnung Kroeber-Keneths, sein Soll erfüllt zu haben, hatte nicht getrogen. Sein weiteres Buch, »Macchiavelli und wir« (Stuttgart 1980), übersandt von Frau Tilla Kroeber, war schon die Gabe eines Toten. Dankbar und mit Respekt sehe ich nach 30 Jahren die Aufzeichnung des Gesprächs durch – die aufrichtig und erstaunlich konzentriert vorgetragenen Erinnerungen Ludwig Kroeber-Keneths. Mögen sie Widersprüche, auch Fehleinschätzungen aufweisen, bleiben sie doch Zeugnis für außerordentliche Menschen, den Berichtenden eingeschlossen, und für eine verschollene Zeit.


Erhard Scherner – Jg. 1929, Dr. phil., Germanist, Autor, Lyriker; lebt in Schöneiche bei Berlin. Zuletzt in UTOPIE kreativ: »Junger Etrusker erteilt Unterricht«. Eine Erinnerung an Alfred Kurella (1895-1975), Heft 201/202 (Juli/August 2007).

Das Gespräch und die Nachfragen haben zwei Bücher zur Grundlage: Alfred Kurella: Unterwegs zu Lenin, Verlag Neues Leben Berlin 1967 und Ludwig Kroeber-Keneth: Fetzen aus meinen Tagebüchern, Frankfurt/M. 1976. Der Text folgt der Tonbandaufnahme. Die Fragen sind fett gesetzt.

1 In Rechtschreibung und Zeichensetzung nach dem Original. Mündlich vorgetragene Ergänzungen Kroebers stehen in Klammern.

2 Georgi Wassiljewitsch Tschitscherin (1872-1936), Sohn eines Gutsbesitzers. 1905 Mitglied der SDAPR, schloß sich nach Rückkehr aus der Emigration den Bolschewiki an. 1918-1930 Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten.

3 Lewon Michailowitsch Karachan aus Tbilissi (1889 geboren, 1937 erschossen), seit 1917 im diplomatischen Dienst (auch Sekretär der Verhandlungsdelegation in Brest-Litowsk).

4 Zu Landauers Antrag, die Soldatenräte sollten entsprechend der Würde und der Idee der Revolution, künftig unbewaffnet zu den Tagungen kommen, stellte Ludwig Kroeber den Gegenantrag: »Sämtliche Räteabgeordnete sollten verpflichtet sein, mit Waffen zur Sitzung zu kommen, nur das entspreche der Entschlossenheit der Revolution. « Siehe Ludwig Kroeber-Keneth: Fetzen aus meinen Tagebüchern, Frankfurt/M. 1976, S. 55/56.

5 Hans Blüher (1888- 1955), Schriftsteller, Philosoph (Ursprünglich preußischer Monarchist). Bietet mit seinem Buch »Wandervogel « (1912) die erste Geschichte dieser Bewegung. Mit seinen Schriften »Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft« (Bd. 1, 1917; Bd. 2, 1919), »Werke und Tage« (1920; 1953) u. a. einflußreicher Theoretiker und Stichwortgeber in der bürgerlichen Jugendbewegung.

6 Otto Braun (1900-1974 ), in Ismaning b. München geboren, im Dezember 1918 Mitglied der Freien Sozialistischen Jugend, aktiver Teilnehmer an der Bayrischen Räterepublik. Wegen Hochverrats 1926 angeklagt, 1928 aus dem Zuchthaus befreit, Emigration in die Sowjetunion, 1932 Absolvent der Frunse- Militärakademie, 1932-39 militärischer Berater beim Vertreter des Exekutivkomitees der Komintern in China und beim ZK der KP Chinas, unter dem Namen Li De Teilnahme am »Langen Marsch« der chinesischen »Roten Armee«; in der DDR, nach Rückkehr aus der Emigration, Redakteur, Schriftsteller und Übersetzer.

7 Felix Fechenbach, Sekretär Eisners. 1929-1933 Redakteur des sozialdemokratischen »Volksblattes«. 1933 Opfer eines faschistischen Mordanschlags.

8 Siehe Gustav Regler: Das Ohr des Malchus. Eine Lebensgeschichte, Köln/Berlin (West) 1958, S. 103/04.

9 Eugen Leviné (geb. am 9. Mai 1883 in St. Petersburg; ermordet am 5. Juni 1919 in München), Sohn einer Großkaufmannsfamilie mit glänzender Universitätsausbildung in Heidelberg und Berlin, beteiligte sich als Mitglied der Sozialrevolutionären Partei an der russischen Revolution von 1904/05. Nach zaristischer Verfolgung wieder in Deutschland. Beteiligt an Antikriegspropaganda vor 1914; über USPD, Spartakusbund zum Gründungskongreß der KPD; übernimmt am 15. März 1919 die »Münchner Rote Fahne«. Unter seiner Leitung wenden sich die bayrischen Kommunisten gegen die Ausrufung der »bayrischen Schein-Räterepublik« (7.-13. April 1919). Geht nach Niederschlagung der Bayrischen Räterepublik (13. April-3. Mai 1919) in die Illegalität. Nach seiner Ergreifung (Haft in München-Stadelheim) verurteilt ihn ein Münchner Sondergericht zum Tode, das unter Ägide der Regierung Hoffmann (SPD) vollstreckt wird.

10 Dr. Max Levien war Mitbegründer der Ortsgruppe des Spartakusbundes und der KPD in München, auch Mitglied der Regierung der kommunistischen Räterepublik.

11 Die Gründung der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) erfolgte 1919 in Berlin.

12 Hugo Eberlein (1887-1941), Mitbegründer der KPD. Unter dem Decknamen Max Albert vertrat er die KPD auf dem Gründungskongreß der Kommunistischen Internationale (KI) 1919 und war einer der Vorsitzenden des Kongresses.

13 Paul Levi (1883-1930), ursprünglich Sozialdemokrat, Rechtsanwalt, der im Februar 1914 Rosa Luxemburg verteidigte; Mitwirkung in der »Zimmerwalder Linken « in der Schweiz; Mitbegründer der KPD, seit Frühjahr 1919 ihr Vorsitzender. Ab 1922 SPD.

14 Russisch: »tscherta osedlosti«.

15 Eine irrtümliche Annahme Kroebers. Kurella stammt aus dem oberschlesischen Brieg (heute das polnische Brzeg), verbrachte wesentliche Jugendjahre im Rheinländischen (Bonn).

16 Dimitri Sacharowitsch Manuilski (1883-1959), über Jahrzehnte, ab 1924, in verschiedenen Leitungsgremien der Komintern.

17 »zar kolokol« und »zar puschka« – überdimensionale Schaustücke innerhalb des Kremls: Glocke und Kanone.

18 Russische Schreibweise von Husar.

19 L. Kroeber-Keneth, … »Fetzen …«, a. a. O., S. 61.

20 Hier sitz’ ich auf Rasen/ mit Veilchen bekränzt; hier will ich auch trinken,/ bis lächelnd am Himmel mir Hesperus glänzt! Zum Schenktisch erwähl’ ich/das duftende Grün, und Amor zum Schenken;/ ein Posten wie dieser, der schickt sich für ihn. Das menschliche Leben/ eilt schneller dahin als Räder am Wagen./ Wer weiß, ob ich morgen am Leben noch bin? Vom Weibe geboren,/ wir alle sind Staub; der früher, der später,/ wir werden einst alle des Sensenmanns Raub. Und deckt mich des Grabes /unendliche Nacht; was hilft’s, daß ein Arzt mich /mit köstlichen Salben zur Mumie macht? Ach lieber, solang es/ auf Erden noch geht, bekränzt mich mit Rosen /und gebt mir ein Mädchen, die’s Küssen versteht! Ich will mich noch laben/ am Wein und am Kuß: bevor ich hinunter/ zum traurigen Reigen der Schattenwelt muß. Lied um 1790. Worte: Klamer Eberhard Karl Schmidt (1746-1824).

21 In dem Buch »Fetzen … « , a. a. O., , S. 100 ist angegeben, daß L. Kroeber-Keneth vom 15. November 1919 bis August 1921 Staatsgefangener des Freistaates Bayern war.

22 L. Kroeber-Keneth, »Fetzen …«, a. a. O., S.75.

23 Brief L. Kroeber- Keneths an A. Kurella am 1. 10. 1954.

24 L. Kroeber-Keneth: »Fetzen …«, a. a. O., S. 6.

in: UTOPIE kreativ, H. 213/214 (Juli/August 2008), S. 662-690

aus dem Inhalt:
Essay
FRIGGA HAUG: Politische Subjekte im Neoliberalismus Gesellschaft – Analysen & Alternativen MICHAEL WOLF: Die Reform der Hartz-IV-Reform: Verfolgungsbetreuung plus 1968 KARL-HEINZ GRÄFE: Prager Frühling 1968: letzter sozialistischer Erneuerungsversuch? AYHAN BILGIN: Die 68er Bewegung in der Türkei Hannah Arendt MARIO KESSLER: Zwischen Paria-Existenz und jüdischem Commonwealth. Hannah Arendt über Antisemitismus und Zionismus ALFRED LOESDAU: Politisch denken und historisch sehen. Hannah Arendts Verhältnis zu linken Intellektuellen Interview ERHARD SCHERNER: Die Fronten gingen durcheinander … Ein Interview zu den Auskünften Ludwig Kroeber-Keneths aus Kronberg über seine und Alfred Kurellas Reise 1919 nach Sowjetrußland Nachhaltigkeitsdebatte MARKO FERST: Plädoyer für eine ökologische Zeitenwende HUBERT FETZER: Klimawandel und Sozialismus Standorte DETLEF KANNAPIN: Im Garten der Beliebigkeit. Krise und Zerfall der spätimperialistischen Philosophie Konferenzen & Tagungen PETER SCHÄFER: Die Rückkehr des Viktor Agartz. Tagungsbericht VIOLA SCHUBERT-LEHNHARDT: Mit unserer Gesundheit Kasse machen? Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Rainer Ferchland (Hrsg.): Sozialberichte: Was sie benennen und was sie verschweigen. Studie des Institutes für Sozialdatenanalyse e.V. Berlin – isda. Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung 38 (HANSGÜNTER MEYER) Norbert Frei: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest (BERND HÜTTNER) Stefania Maffeis: Zwischen Wissenschaft und Politik. Transformationen der DDR-Philosophie 1945-1993 (INGO STÜTZLE) Rolf Haubl, Volker Caysa: Hass und Gewaltbereitschaft. Philosophie und Psychologie im Gespräch (KONSTANZE SCHWARZWALD) Rainer Funk: Erich Fromms kleine Lebensschule (JÜRGEN MEIER) Ulrich Mählert, Bernhard H. Bayerlein, Horst Dähn, Bernd Faulenbach, Erhart Neubert, Peter Steinbach, Stefan Troebst, Manfred Wilke (Hrsg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008 (MARCEL BOIS)