Otto Brenner - ein Streiter um soziale Demokratie

Vom 4. bis 10. November 2007 fand in Leipzig der 21. Ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall statt. Die Delegierten bilanzieren ihre Arbeit der vergangenen vier Jahre und diskutieren unter dem ...

... Motto "Zukunft braucht Gerechtigkeit" über gewerkschaftliche und politische Handlungsoptionen der Zukunft. Dabei ging es ihnen insbesondere um die Frage, mit welchen Mitteln die Gewerkschaft angesichts der radikalen Umbrüche, die der gesellschaftliche Wandel und die Globalisierung der Ökonomie mit sich bringen, ihre Ziele erreichen kann. Nach Abschluss des siebentägigen Kongresses bewertete der neu gewählte Zweite Vorsitzende, Detlef Wetzel, den Gewerkschaftstag als großen Erfolg: Der Gewerkschaftstag habe die Weichen so gestellt, dass die IG Metall mit Zuversicht und Selbstvertrauen die bevorstehenden Aufgaben angehen könne und dass sie "ein ernstzunehmender und konfliktfähiger Akteur" sei.

Am Nachmittag des 8. November hatte der Gewerkschaftstag seine Beratungen für kurze Zeit unterbrochen und die Delegierten hatten sich Zeit zur Rückbesinnung auf ihre eigene Geschichte genommen: Anlässlich seines einhundertsten Geburtstages widmen sie ihrem langjährigen Vorsitzenden Otto Brenner eine Gedenkveranstaltung. Nach der 14-minütigen Filmdokumentation "Otto Brenner - sein Vermächtnis" von Hans-Jürgen und Shaun Hermel, in der eine Reihe Mitstreiter Otto Brenners zu Wort kamen, würdigte der ebenfalls neu gewählte Erste Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, dessen Leben und Leistungen. Mochte das terminliche Zusammenfallen des Gewerkschaftstages mit diesem Jubiläum Zufall sein, so war es angesichts des zwar noch immer starken, aber stetig schwindenden Einflusses der Gewerkschaften auf die Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse in der Bundesrepublik die Nutzung dieser Gelegenheit keinesfalls. Bis heute gilt die "Ära Brenner" - Otto Brenner führte die IG Metall fast 20 Jahre lang von Ende 1952 bis zu seinem frühen Tod im April 1972 - als ihre erfolgreichste Zeit. Otto Brenner wurde dabei zu einem der einflussreichsten und populärsten Gewerkschaftsfunktionäre der BRD. Er schrieb Tarifgeschichte, deren Ergebnisse - insbesondere die 40-Stunden-Woche und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle - noch heute gelten, auch wenn es auf Arbeitgeberseite derzeit unübersehbare Bestrebungen gibt, trotz weiterhin hoher Arbeitslosigkeit insbesondere in der Frage der Arbeitszeitverkürzungen eine Kehrtwende einzuleiten.

Geboren am 8. November 1907 in Hannover wuchs Otto Brenner als drittes von vier Kindern unter bedrückenden materiellen Verhältnissen auf. Geprägt durch Krieg und soziales Elend in der Weimarer Republik, wusste Brenner, wovon er sprach, wenn er die Bedürfnisse der Menschen und die sozialen Verhältnisse in den Mittelpunkt seiner gewerkschaftlichen und politischen Aktivitäten stellte. Auf eine Ausbildung musste er zunächst verzichten, um zum Lebensunterhalt der sechsköpfigen Familie beitragen zu können. Bei der schweren körperlichen Arbeit als Nietenwärmer und Nietenpresser in einem kleinen Metallbetrieb, wo er neben der großen Hitze auch unter ständigem Einfluss der giftigen Kohlenmonoxiddämpfe des Glühofens stand, zog sich der 15jährige eine schwere Lungenerkrankung zu, die ihn Zeit seines Lebens anfällig für entsprechende Erkrankungen bleiben ließ.

Schon als Heranwachsender engagierte er sich in der Arbeiterbewegung Hannovers, übernahm früh Funktionen im Deutschen Metallarbeiterverband (DMV) und in der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ). Mit 18 Jahren trat er der SPD bei. In der Überzeugung, dass Alkohol und Tabak zur Verschärfung der katastrophalen Lage und der politischen Lethargie der Arbeiter beitrugen, kämpfte er energisch gegen deren Missbrauch und gründete 1926 den Landesverband des Deutschen Arbeiter Abstinenten Bundes (DAAB), dessen Vorsitz er übernahm. Er blieb sein Leben lang Nichtraucher und er trank auch später nur äußerst mäßig Alkohol. Zielstrebig bildete er sich politisch weiter, leitete den Marxistischen Arbeitskreis der Hannoveraner Jungsozialisten und entwickelte sich zu einem kritischen Sozialisten. 1928 fand Brenner nach verschiedenen Hilfsarbeitertätigkeiten endlich eine Anstellung als ungelernter Arbeiter in der Elektrowerkstatt der Hanomag, wo er sich über Abendkurse schnell zum Elektromonteur qualifizierte. 1931 verließ er die SPD, der er wegen ihrer Zustimmung zum Panzerkreuzerbau ein Glaubwürdigkeitsdefizit bescheinigte, und schloss sich ihrer linken Absplitterung, der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD), an. Deren etwa 200 Mitglieder des Bezirks Hannover-Braunschweig wählten ihn Anfang 1932 zu ihrem Vorsitzenden. Er prangerte die Kapitulationspolitik der SPDund Gewerkschaftsführungen an und forderte zur proletarischen Einheitsfront von KPD, SPD und SAPD auf. Dabei blieb er, was dann für die Nachkriegszeit wichtig ist, von der Richtigkeit der von der SPD vertretenen wirtschaftspolitischen Positionen überzeugt, insbesondere in der Frage der Wirtschaftsdemokratie, wie sie von Fritz Naphtali und Rudolf Hilferding als Mittel einer sozialen Ausformung der Demokratie und für einen allmählichen und friedlichen Übergang zum Sozialismus entwickelt worden war. Börsenkrach 1929 und Weltwirtschaftskrise mit mehr als sechs Millionen Arbeitslosen, die schleichende Entmachtung des Reichstags, der Aufstieg der Nazis und ihre schließliche "Machtergreifung" am 30. Januar 1933 verfestigten bei Brenner die Überzeugung, dass entscheidende Fragen der gewerkschaftlichen Entwicklung um das Verhältnis von Wirtschaft und Politik kreisen, dass die Demokratie Voraussetzung für gewerkschaftliches Handeln ist und wirtschaftliches Handeln demokratischer Kontrolle bedarf.

Als einer der Organisatoren des Widerstandes gegen die Nazis im Bezirk Hannover-Braunschweig wurde Brenner Ende August 1933 verhaftet und wegen "Vorbereitung zum Hochverrat" zu einer zweijährigen Gefängnishaft verurteilt. Danach stand er bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges unter Polizeiaufsicht. Aus all dem zog er die Konsequenz, der er Zeit seines Lebens treu blieb: "Es darf nie wieder zu einem 1933 kommen!"

Nach der Befreiung seiner Heimatstadt durch US-amerikanische Truppen am 10. April 1945 engagierte sich Otto Brenner voller Tatendrang am Wiederaufbau Hannovers. Entsprechend seiner Überzeugung, dass der Krieg ein der kapitalistischen Produktionsweise adäquates Mittel zur Krisenbewältigung darstelle, hatte er am 1. Januar 1945 an seine Frau Martha geschrieben: "Ich will hoffen, dass das kommende Jahr uns den Frieden bringt. Aber was heißt schon Frieden? Wir können uns zunächst nur das Kriegsende wünschen: denn wahrhaften Frieden wird es im Kapitalismus für uns nicht geben."1 Entsprechend sollte für ihn die Nachkriegsordnung eine ausbeutungsfreie, nichtkapitalistische, eine sozialistische Gesellschaft sein. Nach verschiedenen politischen Sondierungen kehrte er, auch unter dem Eindruck der Diskussionen mit dem ebenfalls in Hannover wirkenden Kurt Schumacher, in die SPD zurück, für die er auch kommunal- und landespolitisch aktiv wurde. Er entschied früh, sich fortan dem Wiederaufbau der Gewerkschaften zu widmen und gehörte im Mai 1945 zu den Mitbegründern der Allgemeinen Gewerkschaft Niedersachsen. Im April 1946 wurde er Vorsitzender der Wirtschaftsgruppe Metall und damit hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär. Die Form der Allgemeinen Gewerkschaft war ein Kompromiss zur Schaffung einer Einheitsgewerkschaft, unabhängig von politischen und religiösen Richtungen, aber auch von Berufsständen. Doch wie die Mehrheit der Gewerkschafter sprach sich auch Brenner für das spätere und bis heute praktizierte Prinzip der Industriegewerkschaften aus, die sich in einem Einheitsgewerkschaftsbund organisierten. Die autonomen Industriegewerkschaften sollten durch das Prinzip "ein Betrieb - eine Gewerkschaft" ein schlagkräftiges Werkzeug der Belegschaften werden. Der erste Streik in Nachkriegsdeutschland, der Panzer-Bode-Streik in Hannover, fiel in Brenners Zuständigkeitsbereich und machte ihn über die Grenzen Hannovers bekannt. In ihm gelang es, nach hartem Ringen, eine betriebliche Mustervereinbarung abzuschließen, die den Betriebsräten umfassende Mitwirkungsrechte bei Einstellungen, Entlohnung, Produktionsplanung, Arbeitsmethoden usw. gab. Die anderen Unternehmer zogen es daraufhin vor, die hier erreichte Betriebsvereinbarung auf die eigenen Unternehmen zu übertragen, bevor es auch da zu Streiks kam. 1947 wurde Brenner Bezirksleiter des Bezirks Hannover der mittlerweile gegründeten IG Metall.

Um sein großes Ziel, die demokratische Neuordnung der deutschen Gesellschaft umzusetzen, trat Otto Brenner, für den politische und soziale Demokratie untrennbar zusammen gehörten, für Wirtschaftdemokratie und Mitbestimmung ein. Auch wenn er der Tarifpolitik allerhöchste Priorität einräumte, hatte für ihn Gewerkschaftspolitik mehr als das zu sein, nämlich Gesellschaftspolitik: Die Gewerkschaften hatten ein umfassendes politisches, soziales und kulturelles Mandat zu erfüllen, das sie befähigen sollte, Gesellschaftsveränderungen auf demokratischem Wege einzuleiten. Denn für Brenner bedeutete der Kapitalismus, den die Westdeutschen nach 1947 als "soziale Marktwirtschaft" erlebten, auch und vor allem Privateigentum an den Produktionsmitteln und damit ungleiche Besitz- und Eigentumsverhältnisse und ungleiche Machtchancen im politischen Geschäft. Zudem war ihm klar, dass der Traum einer dauerhaften deutschen Nachkriegprosperität relativ schnell verblassen würde. Deshalb hoffte er auf die Überwindung des Kapitalismus beziehungsweise auf dessen weitgehende Zähmung. Eine seiner Grundüberzeugungen kleidete er in die Sätze: "Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie hat menschlichen Bedürfnissen und gesellschaftlichen Zwecken zu dienen."2 Dem entsprachen denn auch die vom Deutschen Gewerkschaftsbund auf seinem Gründungskongress 1949 beschlossenen "Wirtschaftspolitischen Grundsätze", die später üblicherweise als "Münchener Grundsatzprogramm" des DGB galten, mit ihrer Forderung: "Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum, insbesondere des Bergbaues, der Eisen- und Stahlindustrie, der Großchemie, der Energiewirtschaft, der wichtigen Verkehrseinrichtungen und der Kreditinstitute".3

Glaubte Brenner, wie auch andere Sozialdemokraten und Gewerkschafter, nach der knappen, aber unerwarteten Niederlage der SPD gegen Adenauers CDU bei den Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag, das Ziel einer schnellen und grundlegenden Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in der Bundesrepublik sei nur aufgeschoben, und nicht aufgehoben, so sah er sich nach der erneuten Niederlage der SPD bei den Wahlen zum zweiten Deutschen Bundestag 1953 in seinen Hoffnungen getäuscht. Zeichnete sich doch nunmehr ab, dass das kapitalistische System in der BRD fortbestehen würde. Zwar sah er keinen Grund, fortan am "Münchener Grundsatzprogramm" des DGB irgendwelche Abstriche zu machen, doch sah er die Notwendigkeit, zur Bereinigung der gröbsten gesellschaftlichen Ungleichheiten - wenn auch nur zunächst - wieder verstärkt auf die Tarifpolitik zu setzen. Beredtes Zeugnis dafür ist sein Engagement für die Erarbeitung und Umsetzung des Aktionsprogramms des DGB, welches er selbst im Mai 1954 mit initiiert hatte.4 Mittels signifikanter Lohn- und Gehaltserhöhungen, der Einführung von Urlaubsgeld und der schrittweisen Einführung der 40-Stunden-Woche leistete die von ihm geführte IG Metall einen entscheidenden Beitrag zu mehr Lebensqualität für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einem rasch wieder aufgebauten und wohlhabenden Land. Gefürchtet als harter, aber kompromissfähiger Verhandlungspartner forderte Brenner nicht nur Parität zwischen den Tarifparteien, sondern auch einen gerechten (Lohn-)Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer am gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtum. Die Verkürzung der Wochenarbeitszeit war dabei auch ein Stück emanzipatorische Gesellschaftspolitik, ging es doch darum, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr Freizeit zu schaffen. Die stufenweise bis 1965 erreichte Festschreibung der Kernarbeitszeit in der Metallindustrie von 40 Stunden von Montag bis Freitag hatte auch eine entscheidende familienpolitische Komponente, wie sie im Slogan "Samstag gehört Vati mir!" zum Ausdruck kommt. Nicht zu reden von den Arbeitsplätzen, die auch trotz stetiger Rationalisierung damit gesichert werden konnten.

Es soll hier aber auch nicht verschwiegen werden, dass Brenner in den innergewerkschaftlichen Konflikten in der ersten Hälfte der 1950er Jahre, die von ihm und anderen Gewerkschaftsfunktionären als fundamentale Bedrohung des Konzepts der Einheitsgewerkschaft wahrgenommen wurden, als kompromissloser Antikommunist agierte und rigoros kommunistische Gewerkschafter ausschloss, die sich einer Distanzierung von den Zielen der KPD und der SED verweigerten. Ebenso deutlich, wenngleich weniger rabiat, wies er die Machtansprüche christlich-sozialer Gewerkschafter zurück, die einerseits dem von der SPD dominierten DGB mangelnde parteipolitische Neutralität vorwarfen, andererseits aber selber auf das Engste mit CDU und CSU verbunden waren und danach trachteten, deren Einfluss in den Gewerkschaften zu erhöhen.

Unter Brenners Führung verstand sich die IG Metall ausdrücklich als "politische" Gewerkschaft, die nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, "zu den politischen Fragen, die das Wohl von Millionen arbeitender Menschen berühren, Stellung zu nehmen", und die sich nicht auf das enge Feld der Tarif- und Sozialpolitik beschränken ließ.5 Brenner beanspruchte dieses Einspruchsrecht vor allem dann, wenn er die demokratischen Grundlagen der Bundesrepublik in Gefahr sah, wusste er doch, dass die Aufrechterhaltung des demokratischen Rechtsstaates die unabdingbare Voraussetzung für ein erfolgreiches Wirken der Gewerkschaften war. Aus eigener Erfahrung misstraute er der demokratischen Substanz der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie. Insbesondere die Bemühungen der Bundesregierung um eine Notstandsgesetzgebung, die "Spiegel-Affäre" und andere Versuche, in die Meinungsfreiheit einzugreifen, bestätigten ihn in seinem Urteil, dass "die demokratische Ordnung und vor allem ihre berufenen Hüter noch immer nicht gegen die Anfechtungen einer autoritären, undemokratischen Handhabung gefeit sind".6 Aus diesem Misstrauen gegen ein Wiedererstarken des deutschen Militarismus heraus lehnte Brenner die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, insbesondere ihre atomare Aufrüstung und die Stationierung atomarer Streitkräfte auf deutschem Boden generell ab. Diese Ablehnung potenzierte sich noch dadurch, dass er darin ein zusätzliches Hindernis für die friedliche Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten sah. Deshalb opponierte er auch gegen die Pariser Verträge, durch die die Westintegration der Bundesrepublik manifestiert wurde. Seien die beiden deutschen Staaten erst einmal in die beiden konkurrierenden internationalen Blöcke eingebunden, so argumentierte er, würde an eine schnelle und friedliche Wiedervereinigung nicht mehr zu denken sein.

Doch Brenner und die IG Metall standen vor dem Problem, dass in der BRD in dieser Zeit kein Klima für linke Politik herrschte: Innenpolitisch banden die wirtschafts- und sozialpolitischen Erfolge der "Wirtschaftswunderjahre " Protestpotenzial; außenpolitisch beförderten die Zerschlagung der Reformbestrebungen in Ungarn und Polen sowie die Suezkanalkrise 1956, die Schließung der Grenzen zur BRD und zu Westberlin durch die DDR im August 1961 sowie die Kuba-Krise im Oktober 1962 das Klima des Kalten Krieges, das die Welt an den Rand eines atomaren Krieges brachte.

Um sich neuen Wählerschichten zu öffnen, vollzog die SPD in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre den Wandel von einer sozialistischen Arbeiterpartei zu einer Volkspartei. Mit dem im November 1959 angenommenen Godesberger Programm verabschiedete sich die SPD von marxistischen Begriffen wie Klassenkampf, Vergesellschaftung von wichtigen Industriezweigen oder Planwirtschaft, ließ alle Forderungen auf eine sozialistische Neuordnung fallen und trat fortan für eine Weiterentwicklung, Verbesserung und Vervollkommnung des bestehenden Wirtschafts- und Sozialsystems ein. Diese programmatische Kurskorrektur ging Brenner, der ein Festhalten an entsprechenden Forderungen, insbesondere die Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, nach wie vor für zwingend erforderlich hielt, entschieden zu weit. Er wandte sich energisch gegen diesen Kurswechsel, sowohl in den Diskussionen der Programmkommission zu den Wirtschaftsfragen, als auch und besonders in den Diskussionen um ein neues DGB-Programm, in denen "Modernisierer" wie der Vorsitzende der IG Bau-Steine-Erden, Georg Leber, eine Abkehr vom Münchener Programm und ein neues, sozialpartnerschaftliches Gewerkschaftsverständnis forderten. Gerade letzteres war für Brenner völlig inakzeptabel. Konnte er unter dem spezifischen Gesichtspunkt, dass man zur Erlangung der politischen Macht in einer Demokratie Mehrheiten für sich gewinnen müsse, den Wandel der SPD von der Klassen- zur Volkspartei noch gerade nachvollziehen, war ihm die Verwischung der Interessengegensätze zwischen Arbeit und Kapital im gewerkschaftlichen Kampf, die aus Tarifparteien Sozialpartner machte, unerträglich. Ein solches Modell lehnte er, wie auch seine Kollegen im IG Metall-Vorstand, ebenso vehement ab, wie Lebers Bestrebungen, den Standort der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft als Ordnungsfaktor neu zu bestimmen. Ebenso wandte er sich gegen die immer wieder erhobene Forderung, die Gewerkschaften hätten aus einer gesamtvolkswirtschaftlichen Verantwortung zu handeln. Auf die Metapher, es säßen doch alle in einem Boot und alle erwarte das gleiche Schicksal, antwortete er: Dem sei zwar so, doch sei dabei nicht gleichgültig, wer der Steuermann sei, wie die Besatzung aussehe und welchen Einfluss sie auf den Kurs hätte, den das Boot steuert.7 Doch trotz der Meinungsverschiedenheiten in der Neuausrichtung der SPD sah Brenner keinen Interessenkonflikt zwischen SPD und Gewerkschaften aufbrechen. Zwischen Sozialdemokratie und freier Gewerkschaftsbewegung bestehe eine historisch gewachsene, "ursprüngliche Verbundenheit", die auf gemeinsamen Interessen beruhe.8

Immer wieder stellte Brenner klar, dass der Streik ein unveräußerliches Mittel zur Durchsetzung von Arbeitnehmerinteressen in einer bürgerlichen Demokratie sei. Das Fehlen des Streikrechts war übrigens einer der grundsätzlichen Kritikpunkte Brenners an der DDR: eine Partei und eine Regierung, die den Arbeiterinnen und Arbeitern das Grundrecht des Streiks vorenthielten, hätten weder das Recht, als deren Interessenvertreter auftreten, noch das Recht, Forderungen an die freien Gewerkschaften in der BRD zu stellen oder ihnen "gute Ratschläge" zu erteilen.

Fast zehn Jahre zog sich Brenners Kampf gegen die Notstandsgesetze hin, mit denen aus seiner Sicht ein Teil der politischen Klasse, bewusst oder unbewusst, die junge Demokratie aufs Spiel setzte. Worum ging es in dieser Auseinandersetzung? Bei der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 war die umfassende Regelung eines eventuellen Notstands wegen der Vorbehaltsrechte der alliierten Besatzungsmächte zunächst ausgespart geblieben. Für den inneren Notstand (etwa bei Naturkatastrophen) und den äußeren Notstand (etwa im Kriegsfall) gab es lediglich die sogenannten Schubladengesetze, die im Fall ihrer Anwendung gravierende Einschränkungen der Grundrechte mit sich gebracht hätten. Erst mit der 1955 erlangten staatlichen Souveränität wurde der Weg für eine verfassungsrechtliche Regelung frei. Seitdem bemühte sich die Bundesregierung, diese Lücke im Grundgesetz zu schließen. Doch alle vorgelegten Entwürfe enthielten wiederum tiefgreifende Einschnitte in die Grundrechte.9 Da Brenner durch seine Erfahrungen mit dem NS-Regime in den Grundrechtseinschränkungen im Falle eines "Notstands" eine Gefahr für den Bestand der Demokratie und damit für die Legalität der Gewerkschaften überhaupt sah, war seine Devise "Wehret den Anfängen!" Ihm diente die Demokratie als unabdingbare Voraussetzung zur Regulierung antagonistischer Interessen, und die Notstandsgesetze deutete er als potenziellen Rückfall in einen vordemokratischen Zustand. Überzeugt, dass 1945 - ebenso wie 1918 - Raum gelassen worden war, um das Rad der Geschichte bei Bedarf zurückdrehen zu können, schien ihm die politische Demokratie der BRD durchaus gefährdet: Die Gesellschaft war eine kapitalistische Klassengesellschaft geblieben. Ebenso wie er die Notstandsgesetze mit den Ermächtigungsgesetzen und dem berüchtigten Artikel 48 der Weimarer Verfassung verglich, erinnerte er an den Generalstreik, mit dem die Gewerkschaften 1920 die Republik gegen den Kapp-Putsch verteidigte.

Mit seiner Einschätzung einer latenten Faschismusgefahr in der Bundesrepublik - er befürchtete zwar nicht die Wiederkehr des Nationalsozialismus in Reinkultur, wohl aber die Deformierung der Demokratie durch die Kombination politischer Fehlentscheidungen, ökonomischer Krisen und sozialpsychologischer Verunsicherungen - befand er sich auch in der SPD und im DGB in der Minderheit. Nachdem die SPD in den Koalitionsverhandlungen mit der CDU 1966 einer Durchsetzung der Notstandsgesetze zugestimmt hatte, wurden diese im Mai 1968 schließlich verabschiedet. Brenner respektierte die Entscheidung des Bundestages, womit er viele, vor allem junge Gewerkschafter, die die Ausrufung des Generalstreiks von ihm erwarteten, enttäuschte. Doch als Demokrat akzeptierte er parlamentarische Mehrheitsentscheidungen, auch wenn er sie für falsch hielt. Auf dem 9. Gewerkschaftstag der IG Metall 1968 begründete er seine Haltung: "Ein Generalstreik gegen den Beschluss des Parlaments auszurufen, wie das manche von den Gewerkschaften verlangt haben, war allerdings unmöglich. Er hätte sich unmittelbar gegen die bestehende Verfassungsordnung gewendet, ganz zu Schweigen davon, dass die Generalstreiksparole keineswegs von einer Mehrheit der Bevölkerung befolgt worden wäre."10 Von Brenner zu erwarten, den Generalstreik auszurufen, zumal gegen die eigene, sich in Regierungsverantwortung befindende Partei, hätte wohl verlangt, aus dem engagierten Streiter um soziale Demokratie einen Revolutionär zu machen, der er nicht war und der er auch nicht sein wollte.

Ein demokratischer Sozialismus war nach Brenners unumstößlicher Überzeugung nur mit demokratischen Mitteln innerhalb eines demokratischen Staates zu erreichen. Brenners langjähriger Pressechef Werner Thönnessen schrieb 1972 in seinem Nachruf im Spiegel: Die bürgerliche Demokratie "durch die Demokratisierung der Wirtschaft zu fundieren, ist Brenners größtes Ziel gewesen. Es nicht erreicht zu haben, gehört zu den von ihm schmerzlich empfundenen Misserfolgen. Er war sich des tragischen Widerspruchs bewusst, in den die Gewerkschaften sich verwickeln, wenn sie, notwendigerweise auf dem Boden der von ihnen bekämpften Wirtschaftsordnung, Verbesserungen durchsetzen, die einerseits den Arbeitnehmern zugute kommen, andererseits die Lebensfähigkeit des Kapitalismus verlängern."11

Harald Jentsch - Jg. 1959, Politikwissenschaftler, Dr. phil., Karben, ist gemeinsam mit Jens Becker Autor der gerade im Steidl Verlag Göttingen erschienenden Biografie "Otto Brenner. Eine Biografie" und ebenfalls mit Becker Herausgeber des gleichzeitig dort erscheinenden Bandes "Otto Brenner: Ausgewählte Reden 1947-1971". Ein weiteres Buch: "Die KPD und der ›Deutsche Oktober‹" 1923, Rostock 2005.

1 Otto Brenner an Martha Brenner, 1. 1. 1945, in: Privatarchiv Heike Pinkall, zitiert nach: Jens Becker, Harald Jentsch: Otto Brenner. Eine Biografie, Steidl Verlag Göttingen, S. 54.

2 Vgl. u. a. Otto Brenner: Die Gewerkschaften in Staat und Wirtschaft. Vortrag vor dem Demokratischen Hochschulbund in Braunschweig, 13. 2. 1964, in: ders., Gewerkschaftliche Dynamik in unserer Zeit, Frankfurt/M. 1966, S. 14 f.

3 Wirtschaftspolitische Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes, in: Protokoll. Gründungskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes für das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. München, Kongresssaal des deutschen Museums, 12., 13, und 14. Oktober 1949, Düsseldorf 1950, S. 318-326.

4 Otto Brenner: "Wir brauchen ein gewerkschaftliches Aktionsprogramm", in: Metall vom 12. 5. 1954.

5 Otto Brenner, "Gewerkschaft und Kulturpolitik". Referat auf der 12. Vertreterversammlung des Gesamtverbandes Braunschweigischer Lehrer am 10. April 1957, in: Ders., Ausgewählte Reden, S. 142.

6 Otto Brenner: Die Gewerkschaften in Staat und Wirtschaft, a. a. O., S. 11.

7 Vgl. Otto Brenner: Rede auf der SPD-Mitgliederversammlung im Palmengarten Frankfurt/M., 20. 8. 1957, in: ders., Ausgewählte Reden, a. a. O., S. 153.

8 Ebenda, S. 144.

9 Zum Widerstand gegen die Notstandsgesetze siehe Michael Schneider: Demokratie in Gefahr? Der Konflikt um die Notstandsgesetze: Sozialdemokratie, Gewerkschaften und intellektueller Protest (1958-1968), Bonn 1986.

10 IG Metall (Hrsg.): Protokoll des 9. ordentlichen Gewerkschaftstages der Industriegewerkschaft Metall für die Bundesrepublik Deutschland in München vom 2. bis zum 7. September 1968, Frankfurt/M. o. J. (1968), S. 66.

11 Werner Thönnessen: "Was dann folgen wird, liegt noch im dunkeln", zitiert nach ders.: Mein Tor zur Welt. Ein Lebenswerk als Gewerkschafter und Intellektueller, S. 146 f.

in: UTOPIE kreativ, H. 212 (Juni 2008), S. 554-560

aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay WOLFGANG BEUTIN: Der Frühexpressionismus Kurt Hillers. Literarische Anfänge und der "Neue Club" (1909-1913); Sozialpolitik MEINHARD CREYDT: Gesundheitswesen, Bildungswesen, Wissenschaften und Sozialarbeit. Professionelle Tätigkeiten als Gegenstand kritischer Reflexion; GARNET HELEN BRÄUNIG: Zwang und Soziale Arbeit - Ein Widerspruch in sich?; RICHARD SORG: Soziale Lage und Sozialpolitik in Deutschland; Linke Debatte HEERKE HUMMEL: Warenwert, wo ist er geblieben?; STEFAN MÜLLER: Reflexionen über Dialektik. Argumente für eine Neubelebung der Diskussion; Geschichte des Sozialismus JÜRGEN MEIER: Der lange Schatten des Stalinismus; Zur Person GÜNTER WIRTH: Harald Poelchau als Hochschullehrer; HARALD JENTSCH: Otto Brenner - ein Streiter um soziale Demokratie; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Oliver Hilmes: Die Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner (KAI AGTHE); Max Gustav Lange: Zur Grundlegung der Erziehungswissenschaft. Texte zur soziologischen Begründung der Pädagogik 1946-1950 (EBERHARD MEUMANN); Robert B. Marks: Die Ursprünge der modernen Welt. Eine globale Weltgeschichte (BERND HÜTTNER); Dirk Hoeges: Niccolò Machiavelli. Dichter - Poeta. Mit sämtlichen Gedichten, deutsch/italienisch (ANDREAS HEYER); Andreas Elter: Propaganda der Tat. Die RAF und die Medien (FRANK SCHUBERT); Peter Ullrich: Begrenzter Universalismus. Sozialismus, Kommunismus, Arbeiter(innen)bewegung und ihr schwieriges Verhältnis zu Judentum und Nahostkonflikt (DIRK BIESTMANN-KOTTE); Summaries