Liebes Verhältnisse

Editorial

in (09.05.2008)

Liebe als Hingezogensein zu jemand oder etwas Geliebtem mag auf den ersten Blick als grundpositiv erscheinen. Der Gedanke stockt, wenn er auf die Dialektik der Liebe stößt.

Zuerst nun war das Chaos, danach die breitbrüstige Erde, [...] und auch Eros [...],
der gliederlösende, der die Vernunft bezwingt
aller Götter und Menschen und das
besonnene Denken
(Hesiod, Theogonie)

Tod und Liebe sind die Mythe von der negativen Dialektik, denn die Dialektik ist das [...] durchdringende Auge der Liebe, die innre Seele, die nicht erdrückt wird durch den Leib der materialistischen Zerspaltung (Marx)

Liebe als Hingezogensein zu jemand oder etwas Geliebtem mag auf den ersten Blick als grundpositiv erscheinen, eine Kraft, die Menschen verbindet, ein Glücksbringer. Der Gedanke stockt, wenn er auf die Dialektik der Liebe stößt. Diese hebt die Verdinglichung auf, die ihr anderes Selbst, der Sex, begehrt. Wie dieser ist sie allgegenwärtig im Imaginären, in der Religion nicht weniger als in der Reklame. Sie ist bei der Ordnung und bei ihrer Subversion. Sie ist das Persönlichste, dem die unpersönlichen Institutionen - Staat, Kirche, Kapital - ihre Sprache entnehmen. Sie geht mit ihrem Gegenteil, dem Hass, schwanger und ist mit Leben und Tod geladen. Sie strebt ins Freie und verbindet sich mit Macht und Herrschaft. Entwaffnet sie hier die Gewalt, bedient sie sich ihrer dort. Sie ist die Hingabe, die der Ausbeutung anheimfällt. Sie kann einer Schutzhaft gleichen und ist zugleich das Verlangen, daraus zu entkommen. Sie rührt an den Sinn des Lebens und fungiert als Ersatz dafür. Dies alles wird seit Menschengedenken gelebt und erzählt.
Die Verhältnisse, die Menschen beim Lieben eingehen, nennen wir Liebesbeziehungen; diejenigen, die sie (und in denen sie sich) dabei vorfinden, Liebesverhältnisse, in Anlehnung an den Begriff der Produktionsverhältnisse. So kommt die Liebe in historisch sich ändernden Strukturen in den Blick, als Produkt und Produktion von Akteuren unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen.
Wer über Liebe kritisch-begreifend sprechen will, muss auch über diese Bedingungen sprechen, die das Liebesverlangen in die herrschenden Geschlechter-, Ideologie- und Gewaltverhältnisse der Klassengesellschaft einspannen. Liebe wird dumm, wenn sie sich blind einspannen lässt, Verstand lieblos. Die Perspektive, der das vorliegende Heft folgt, orientiert auf eine Gesellschaft, in der die Liebe nicht auf Kosten der Vernunft und letztere nicht auf Kosten der Liebe zu entfalten ist. Die vielfältigen Modi, Mutationen und Verbindungen, in denen Liebe gesprochen, gefühlt oder erwartet wird - von der Mutterliebe über die Vaterlandsliebe bis zur Liebe zum liebenden Gott, von der Kindesliebe über die Pädophilie bis zur sexuellen Gewalt- oder gar Mordlust, die Tierliebe nicht zu vergessen -, sind in ihrem Zusammenhang zu begreifen.
Marx benutzt den Begriff "Liebesverhältnisse", wo er über Fouriers Kritik der ›unfreien Liebe‹ schreibt (Deutsche Ideologie, MEW 3, 500). In der Heiligen Familie verortet er die Problematik im Spannungsverhältnis von Fortpflanzung, Verhältnis zur eigenen Natur und gesellschaftlicher Befreiung. Im Kontext des Fourier aufnehmenden berühmten Satzes, der "Grad der weiblichen Emanzipation" sei "das natürliche Maß der allgemeinen Emanzipation" (MEW 2, 208), wird das Prinzip aufgestellt, an der Entwicklung der Geschlechterbeziehung die Entwicklung der Menschen abzulesen, "weil hier im Verhältnis des Weibes zum Mann, des Schwachen zum Starken, der Sieg der menschlichen Natur über die Brutalität am evidentesten erscheint" (ebd.). Am "Verhältnis des Mannes zum Weibe" entscheide sich, "inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis [...] geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist" (MEW 40, 535).
Wir haben diese provozierende Konfiguration in ganz unterschiedlichen Bereichen aufgenommen: Den Spuren dieses entfremdeten Gemeinwesens gehen Ton Veerkamp und Frigga Haug nach - in der Gottesliebe der eine, im Massenphänomen der Liebe zum Eisbären Knut die andere -. Elisabeth Povinelli folgt den Geboten der christlich-liebenden Selbstaufopferung bis in die Indienstnahme solcher Haltung als "Selbstmordattentäter" fürs Vaterland, als die sie die US-Soldaten im Irakkrieg sieht. Judith Butler hat vorgeschlagen, "die Formen aufzufinden, in denen die Identifizierung in das verwickelt ist, was sie ausschließt", und "den Linien dieser Verwicklung zu folgen um der Landkarte eines zukünftigen Gemeinwesens willen, die sich dabei abzeichnen könnte" ("Phantasmatische Identifizierung und die Annahme des Geschlechts", in: Inst. f. Sozialforschung (Hg.), Geschlechterverhältnisse und Politik, Frankfurt/M 1994, 136). Im vorliegenden Haft verfolgt sie dies anhand einer Freud- und Shakespeare-Lektüre. Letztere wird von Wolfgang Fritz Haug in seiner Analyse des Wechselspiels von Liebe und Machtintrige im Othello fortgeführt.
Der Sturm der Veränderung trifft in erster Linie die Gefühle, besonders dann, wenn sie, aus dem Scharnier der Vernunft gelöst, auf dem Meer des Verlangens treiben. Das gilt für die einzelnen ebenso wie für die Indienstnahme des Liebesverlangens für Herrschaftszwecke. Beiträge von Roger Behrens zur Kritischen Theorie, von Darko Suvin zu Brecht, aber auch die oben genannten zum entfremdeten Gemeinwesen durchqueren dieses Feld.
Auf der anderen Seite scheint die eingehegte Form von Liebe als Fortpflanzung in der Ehe neue Festigkeit im theoretischen, literarischen, politischen, selbst im individuellen Leben zu erlangen. Margarete Tjaden-Steinhauer ruft das sozialistische Projekt von Engels und Zetkin in Erinnerung und entziffert die Verhaftung beider in einer Ideologie von "Geschlechtsliebe". Christine Lehmann entdeckt in Liebesromanen der hochtechnologisch armierten Gegenwart das ewig alte Muster der Liebesbeziehungen; Susanne Maurer tastet Spuren des Neuen im Fernsehkrimi ab.
Ein Bild von Blockierungen der Liebe in den 1950er Jahren entwirft Ulla Hahn in ihrem autobiographischen Roman Das verborgene Wort (2003): "Die meisten Frauen bei Maternus waren unverheiratet. Wie ein Gefängniswärter hielt jeder ledige Mann den Schlüssel zu ihrer Freiheit. Heirat als Gnadenakt. Ehe als Befreiung [...] Eine verheiratete Frau, die arbeiten gehen musste, zählte nur halb. Ihr Ansehen war geringer als das einer Nichtverheirateten. Einer Noch-Nichtverheirateten. Am Ende der Rangordnung stand, wer keinen mitgekriegt hatte." (288) Die Situation scheint sich seither dramatisch verändert zu haben, da über die Vereinbarkeit von Beruf und Familie debattiert wird, als handle es sich bloß um Zeitpläne und nicht um Haltungen, Persönlichkeiten, Anerkennung und durch die Institution der Ehe regulierte Arterhaltung. Iris Nowak verfolgt Diskussionen in der Frauenbewegung der siebziger Jahre, die an den Festungen von Ehe und Familie rüttelten und konfrontiert sie mit der neuerlichen Einhegung des Liebesverlangens und der Frauen im Regierungsprojekt der Ursula von der Leyen. Das Erinnerungsarbeitsprojekt von Helga Amesberger, Claudia Dietl, Brigitte Halbmayr und Gundula Ludwig zeigt die Auftreffstruktur, in der Frauen hartnäckig die alten Liebesträume festhalten, um handlungsfähig zu bleiben. Subhoranjan Dasgupta entfaltet die transkulturelle Perspektive, die offenlegt, dass das Imaginäre nicht nur als ideologisch zu hinterfragen, sondern auch mit der Wirklichkeit der Klassen und Kasten zu konfrontieren ist.
Das als Befreiung sich wähnende Auseinandertreten von Sexualität und Liebe beleuchtet Volker Woltersdorf anknüpfend an Argument 260 (Neosexuelle Revolution). Nicole Karafyllis wagt sich in die Höhle der Neurosciences und zeigt, wie die vermeintlich genetische Festlegung des Liebesverlangens uns selbst von jeder Verantwortung enthebt. Schließlich werden die neuen Propheten des Glücks - vor allem Hardt und Negri - von Abigail Bray gewogen und für zu leicht befunden.
Die Frauenredaktion hat bereits vor 23 Jahren ein Heft zu Liebesverhältnissen vorgelegt (Argument 150, 1985). Damals schien uns die im Begriff genannte Zusammenbindung von Liebe und Verhältnissen gewagt, schien Glück zu zweit mit Systemkonkurrenz, mit Ökonomie und Politik zusammenzwingen zu wollen. Wir übersetzten Studien aus England, Frankreich und den USA, die unterm Einfluss der Cultural Studies und der französischen Annales-Schule ausgreifend dachten. Die theoretische Fähigkeit, Liebe in Prozessen, Verhältnissen und Konstruktionen unter Einschluss der Subjekte zu denken, hat sich seither weiterentwickelt. Anders ihr Gegenstand. Auf der Stelle tritt die hartnäckige romantische Erwartung des Liebesglücks in der Ehe als Auftreffstruktur für die Unterwerfung der Frauen.

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Unser Heft stand unter einem Unstern. Als sollte uns der Zusammenhang von Liebe und Tod gleich doppelt eingeschärft werden, starb gleich zu Beginn der Arbeit Jutta Held (siehe Argument 269), die die Mitherausgeberschaft übernommen hatte und die historisch-kritische Seite verfolgen wollte. Wenig später kam die Redakteurin Ulrike Gschwandtner in den Bergen ums Leben (siehe Argument 272), die über das Verhältnis der nachwachsenden Generation zur Liebe schreiben wollte. Nicht nur der Tod, auch das Leben forderte seinen Tribut: Eine weitere, schon erfahrene Redakteurin schied aus dem Projekt aus, weil sie ein Kind erwartete. Übrig blieb eine kleine Gruppe, bestehend aus fünf Frauen und einem Mann, die, zumeist Neulinge in der Argument-Arbeit, den ursprünglichen Plan unter Bedingungen verfolgen musste, die einem Hindernislauf glichen. Daher die Verspätung dieses Hefts, für die wir um Verständnis bitten.FH

Aus: DAS ARGUMENT, Nr. 273: Liebes Verhältnisse, S. 2-4