Auf die eigene Kraft vertrauen

Politisches Mandat und Autonomie der Gewerkschaften

in (04.03.2008)

Die gesellschaftlichen Entwicklungen in den Nationalstaaten werden immer stärker durch die internationalen Finanzmärkte und die Entfesselung der Marktkräfte beeinflusst.

Diese treffen zum einen unmittelbar die Arbeitswelt: Lohnhöhe und sonstige Arbeitsbedingungen verkommen zu Restgrößen einer durch die Kapitalmärkte definierten Profitrate. Aber auch andere Lebensbereiche werden immer stärker der Profitorientierung untergeordnet.

In der Gesundheitspolitik geht es nicht mehr um eine umfassende Versorgung der Bevölkerung mit dem Ziel, mehr Gesundheit und weniger Krankheit, sondern um mehr Wettbewerb und mehr Profit. Die Alterssicherung wird in immer stärkerem Maße privatisiert und damit den Finanzmärkten überantwortet. Und in Kunst, Kultur und Sport dominieren ebenfalls Wettbewerbs- und Profitdenken. Vor diesem Hintergrund stehen auch Gewerkschaften vor neuen Anforderungen. Anforderungen, die, bezogen auf die Bundesrepublik, auch eine neue gewerkschaftliche Herangehensweise erfordern.

Sozialstaatlicher Klassenkompromiss der Nachkriegsordnung

Dafür ist es notwendig, sich das klassische gewerkschaftliche Herangehen in der alten Bundesrepublik zu vergegenwärtigen. Dieses war nach 1945 durch einen sozialstaatlichen Klassenkompromiss geprägt. Rahmenbedingungen dafür waren:

Existenz einer realen Systemalternative zum Kapitalismus
Defensive des bürgerlichen Lagers nach dem Faschismus
Regulierung von Finanzströmen und Handelsbeziehungen
Flächentarifvertrag und nationale sozialstaatliche Regulierungen (Betriebsverfassungsgesetz, Montanmitbestimmungsgesetz, individuelle arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen, Sozialversicherungen...)
wirtschaftspolitischer Regulierungsanspruch des Staates...
In diesem Rahmen hatte sich aus gewerkschaftlicher Sicht ein Politikmodell etabliert, das national agierte und sich auf die Kernbereiche betrieblicher Interessenvertretung und die Gestaltung des Flächentarifvertrages konzentrierte. Politisch wurde die Arbeiterbewegung durch ihren "parlamentarischen Arm SPD" repräsentiert.

Veränderte Rahmenbedingungen

Diese Rahmenbedingungen haben sich seit den späten siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts grundlegend geändert. Meilensteine waren der Wegfall des Breton-Wood-Systems in den siebziger Jahren und der Wegfall des internationalen Systemgegensatzes in den 90er Jahren. Dies ging mit zunehmender neoliberalen Hegemonie und Dominanz der internationalen Finanzmärkte einher.

An die Stelle des sozialstaatlich regulierten Kapitalismus tritt ein finanzmarktgetriebener Kapitalismus. Kurzfristige Kapitalverwertungsinteressen stehen immer stärker im Vordergrund. Die herrschende Politik flankiert diesen Übergang durch eine sukzessive Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen und Daseinsvorsorge und eine nahezu uneingeschränkte Wettbewerbsorientierung.

Die Politik der SPD ordnet sich hier ein. Sie versteht sich nicht mehr als Partei, die eine privilegierte Partnerschaft zu den Gewerkschaften pflegt. Gewerkschaften werden wie jede andere Lobbyorganisation angesehen, ein besonderer politischer Bezug besteht nicht mehr. Theoretisch ist dies u.a. im Schröder/Blair-Papier beschrieben, praktisch durch die Regierungspolitik unter Rot-Grün umgesetzt. Auch die aktuellen Korrekturen am Agenda-Kurs, wie die Verlängerung des Arbeitslosengeldes für bestimmte Gruppen älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, ändern an dieser Einschätzung nichts. Führende Vertreter der SPD sehen hierin - zu Recht - eine Fortschreibung ihrer Politik und keinen Kurswechsel. In Folge dieses Prozesses unterscheiden sich die Mitgliedschaft der Gewerkschaften und der SPD in soziologischer Hinsicht erheblich: Immer weniger gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer orientieren auf die SPD, geschweige denn, sind sie in ihr organisiert. Die Kombination dieser Faktoren führt dazu, dass auch im Falle einer tatsächlichen Kursänderung der SPD die Reanimation der besonders engen Beziehung zwischen SPD und Gewerkschaften auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird.

Neue Chancen

Damit haben sich alle Rahmenbedingungen so grundlegend verändert, dass sich auch Gewerkschaften - soweit noch nicht geschehen - mit Blick auf ihre politische Handlungsfähigkeit grundlegend neu positionieren müssen. Mit diesen Veränderungen entstehen aber auch neue Regulierungsebenen und neue Bündnispartner.

1. Gewerkschaften müssen ihren Einfluss auf die politische Ebene neu organisieren. Statt die eigenen politischen Interessen vorrangig über die SPD zu formulieren (die privilegierte Partnerschaft wurde von der SPD aufgekündigt), muss Einfluss auf alle demokratischen Parteien genommen werden.

2. Notwendig ist überdies ein Bündnis mit sozialen Bewegungen, um der neoliberal geprägten Globalisierung Alternativen entgegenzusetzen.

3. Dabei bleibt der Nationalstaat von hoher Bedeutung. Regelungen in der Europäischen Union werden maßgeblich von den Nationalstaaten, Deutschland an erster Stelle, angestoßen. Insoweit muss eine Zangenbewegung erfolgen. Auf der einen Seite geht es darum, gewerkschaftlichen Einfluss auf nationaler Ebene geltend zu machen, auch um europäische und internationale Regulierungen durchzusetzen. Auf der anderen Seite muss es darum gehen, auf der europäischen und internationalen Ebene Bewegung zu initiieren.

4. Auch die gewerkschaftliche Kraft und Kompetenz in der Betriebs- und Tarifpolitik darf nicht auf den nationalen Rahmen begrenzt werden. Vielmehr muss die Kooperation auf europäischer und internationaler Ebene verstärkt werden, auch um zu supranationalen Regelungen zu kommen.

Bedingungen für erfolgreichen Lobbyismus

In den Gewerkschaften existieren unterschiedliche Herangehensweisen, die neuen Anforderungen zu bewältigen. Zum Teil wird versucht, sich das politische Mandat zu erarbeiten. Zum Teil existieren aber auch Überlegungen, sich angesichts schwindender Ressourcen stärker auf Kernbereiche zu konzentrieren und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen vorrangig durch Lobby-Politik zu beeinflussen. Die Verfechter des zuletzt genannten Weges verkennen allerdings, dass Lobby-Arbeit lediglich dann erfolgreich sein kann, wenn sie auf gesellschaftlicher Stärke beruht. Erklärte Regierungspolitik ist es, die Transformation des Sozialstaatskapitalismus in den Finanzmarktkapitalismus zu bewirken. Nichts anderes ist Inhalt der Politik der Agenda 2010 und ihrer Fortführung durch die Große Koalition. Arbeitnehmerinteressen sind in diese Politik nicht integrierbar. Eine politische Gegenposition der Gewerkschaften kann durch Lobby-Arbeit daher nur dann durchgesetzt werden, wenn sie mit gesellschaftlicher Stärke unterfüttert wird. Zumindest muss die Option vorhanden sein, gesellschaftlich zu mobilisieren.

Gleichwohl führt nicht jede gesellschaftliche Mobilisierung dazu, die jeweilige gewerkschaftliche Position auch unmittelbar durchzusetzen. Beispielhaft kann hier die Mobilisierung gegen die Rente mit 67 genannt werden. Die Rente mit 67 ist ein zentrales Projekt der Regierung, das sich genau in die Transformation des Sozialstaates in den Finanzmarktkapitalismus einordnen lässt. Das erklärt auch, warum die Bundesregierung hiervon nicht lässt, obwohl die besseren Argumente auf Seiten der Gewerkschaften sind und diese Argumentation auch von einem Großteil der Bevölkerung geteilt wird. An den langen Übergangszeiten dieses Projektes wird einmal mehr ersichtlich, dass die neoliberal inspirierte Politik langfristig ausgerichtet ist.

Gewerkschaften und andere Kräfte, die sich dem entgegenstellen wollen, müssen ebenfalls langen Atem haben. Die Art der Mobilisierung, wie sie Gewerkschaften in Tarifauseinandersetzungen eigen ist (kurze, zugespitzte Aktionen, die kurzfristig angelegt sind und in einem Tarifergebnis enden) ist hier nicht angemessen. Dies ist kein Plädoyer für eine geringere Heftigkeit der Auseinandersetzung, sondern dafür, sie langfristig zu führen. Der kurzfristige Erfolg beim Kampf gegen die Rente mit 67 liegt primär in der Formierung der Gegenkräfte und nicht in der unmittelbaren Durchsetzung der materiellen Forderung "Flexibler Ausstieg bis 65 statt Rente mit 67". Die stärkere Formierung der Gegenkräfte ist aber eine Voraussetzung dafür, die Rente mit 67 doch noch zu verhindern, wie sie auch Voraussetzung dafür ist, die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zu verschieben. Die stärkere Politisierung der Gewerkschaftsmitglieder war dabei Grundlage und Folge der Aktionen gegen die Rente mit 67. Diese Aktionen waren gleichzeitig eine Grundlage dafür, dass in dieser Republik wieder mehr über Gerechtigkeit diskutiert wird. Sie waren auch eine Voraussetzung dafür, dass die Kampagne für einen Mindestlohn auf einen fruchtbaren Boden fällt und auch für die - wenn auch zaghaften und unzureichenden Korrekturen beim Arbeitslosengeld und der Zwangsverrentung.

Axel Gerntke ist Gewerkschaftssekretär im FB Sozialpolitik beim IG Metall-Vorstand