Es gibt wieder Verschwundene

Ein Interview mit Sara Torres

in (10.02.2008)

Die Feministin Sara Torres über argentinische Ausbeutungszirkel und die schwierige Arbeit des Netzwerks No a la Trata (Nein zum Frauenhandel)

Judith Goetz: Du hast dich schon früh für femi­nis­tische Theorien und Sexual­forschung interessiert. Wie bist du auf das Thema Prostitution gekommen?

Sara Torres: In den 1970er Jahren gab es noch keine aktive Frauenbewegung in Argentinien. Die Militärdiktatur funktionierte bestens, so dass wir oft Schwierigkeiten hatten, über Politik zu sprechen und uns zu organisieren. Dennoch gründete ich mit einigen Frauen eine kleine Gruppe namens Política Sexual, die sich mit den in Argentinien stattfindenden Sexologiekongressen auseinandersetzte. Meine erste Forschungsarbeit zum weiblichen Orgasmus war ein großer Skandal, weil meine Thesen den bislang gängigen vollkommen widersprachen. Auf einem Kongress über Psychoanalyse und Sexualität 1985 habe ich die Situation der Frau in der Prostitution analysiert und auf gesellschaftliche Vorurteile und Bewertungen verwiesen. Prostitution war zu diesem Zeitpunkt ein Thema in der argentinischen Gesellschaft, über das nicht gesprochen wurde.

Das Aktionsnetzwerk No a la Trata, in dem du jetzt aktiv bist, wurde erst 20 Jahre später gegründet. Wie kam es dazu?

Wir wollten den Frauenhandel sichtbar machen. In Argentinien ist zwar seit 1999 nur noch die Prostitution von Minderjährigen strafbar. Wenn eine Frau in der Prostitution arbeitet, ist das eine Sache - der Kauf und Verkauf von Frauen aber eine ganz andere. Das wird von einem Aus­beutungs­zirkel, der sich im ganzen Land eingerichtet hat, betrieben. Unglaublich viele Frauen und Mädchen, die in diese Netze geraten, werden entführt, verkauft und dann zur Prostitution gezwungen. Meist werden sie von einem Ort zum anderen geschickt und bleiben nirgends länger als 20 Tage, um zu verhindern, dass sie sich mit anderen Frauen oder den Freiern anfreunden. Dass sie dabei missbraucht werden und massiven Gewalt­akten ausgesetzt sind, steht außer Frage. Es ist ein gutes Geschäft, das nicht ohne die Mithilfe von Polizei, Staat und Gemeinden auskommen kann. Gerade weil die Mächtigen in diesem Land selbst so verstrickt in diese Netze sind, tut niemand etwas dagegen.

Wie sieht die Arbeit von No a la Trata aus?

Die ist sehr schwierig, weil wir alle gegen uns haben - den Staat, die Presse und auch den gesellschaftlichen Konsens. Für die meisten Menschen hierzulande gibt es einfach nur zwei Frauentypen: Die guten Frauen und die schlechten Frauen - also die Huren, und die sind natürlich so, weil sie es sich ausgesucht haben. Ähnliche Argumentationen kennen wir vom Thema Frauen als Opfer häuslicher Gewalt, die es sich ‚ausgesuchtÂ’ oder das ‚verdient hättenÂ’. Selbst wenn sie aus diesen Netzen ausbrechen konnten, hat die Mehrheit der Frauen erhebliche Probleme damit, Dinge zu machen, die ihnen gut tun und ihre Autonomie wieder zu gewinnen. Sie haben durch extreme Gewalterfahrungen im Alltag einen großen psychischen Schaden davon getragen. Uns geht es darum, diesen Frauen zu helfen und sie zum Sprechen zu bringen.

Seit einigen Monaten organisiert ihr regelmäßig Kund­gebungen, die auf die Situation von verschwundenen Frauen aufmerksam machen. Wie kamt ihr darauf und wie ist die Resonanz?

Anlass war der fünfte Jahrestag des Verschwin­dens von Marita Véron sowie der Tod von Otoño Uriarte (siehe Infokasten). Wir sind auf die Straße gegangen mit der Forderung, dass alle Frauen und Mädchen, die über Prostitutions- und Frauenhandelskreise in Argentinien verschwunden sind, auftauchen - und zwar lebend! Seitdem organisieren wir an jedem dritten Tag eines Monats eine Kundgebung vor dem Nationalkongress, auf der Opfer oder deren Angehörige und verschiedene Institutionen auf das Thema aufmerksam machen. Wenngleich es anfangs großes Medieninteresse gegeben hat, unternehmen die Politiker weiterhin nichts. Sie geben vor, von nichts zu wissen und auch nicht, wo die Verschwundenen gesucht werden könnten. Wenn es keine Verschwundenen gibt, gibt es auch keine Statistiken. Die wenigsten Menschen in Argentinien wissen darüber Bescheid, dass auch in der Demokratie noch massenhaft Menschen verschwinden.

Sara Torres

Sara Torres ist Sexualwissenschaftlerin und leitet No a la Trata. Das 2003 gegründete Netzwerk setzt sich mit öffentlichen Aktionen, Dokumentation sowie Medien- und Parlamentsarbeit für die so genannten Desaparecidas en democracia ein: Mädchen und Frauen, die auch im demokratisch verfassten Argentinien jedes Jahr verschwinden und meist zur Prostitution gezwungen werden.

Verschwundene

Marita Verón, 23 Jahre alt, stammt aus Tucumán. Sie verließ am 3. April 2002 das Haus, um zum Gynä­kologen zu gehen und kehrte nicht mehr zurück. Die Suche der Eltern nach ihrer Tochter ist bisher erfolglos geblieben.
Otoño Uriarte, ein 16-jähriges Mädchen aus Río Negro, galt seit dem 23. Oktober 2006 als verschwunden. Ihre Leiche wurde im April 2007 in einem Fluss gefunden.

Das Interview führte Judith Goetz. Sie studiert Vergleichende Literaturwissenschaft und Politikwissenschaft in Wien.