Europäischer Überwachungsstaat

EU-Verfassung, zum Zweiten Â…! Nur soll sie jetzt nicht mehr so heißen. Gesprochen wird vielmehr vom Vertrag von Lissabon. Auf dem Sozialforum in Deutschland in Cottbus sagte der Europa-Abgeordnete

Tobias Pflüger kürzlich, er finde es ungerecht, daß die schlimmsten Dinge in der Europäischen Union nach Lissabon benannt würden; das habe die schöne Stadt an der Tejo-Mündung gar nicht verdient. Damit bezog sich Pflüger darauf, daß auch die sogenannte Lissabon-Strategie den Bezug auf diese Stadt hat - das ist jenes Programm, das die Staats- und Regierungschefs dort im März 2000 beschlossen hatten, um die EU zum "wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt" zu machen. Das war der Startschuß, ganz EU-Europa, alle Bereiche der Gesellschaft neoliberal durchzuformen und auch jene Gebiete der Daseinsvorsorge, der Bildung, der Erziehung, des Gesundheitswesens und so weiter, die zuvor noch anderen Regeln gehorchten, der privatkapitalistischen Gewinnmaximierung zuzuführen.

Nun also der nächste Schritt: die Union nicht nur weiter im Sinne des neoliberalen Programms zuzurichten, sondern für militärische Abenteuer nach außen bereitzumachen - wieder verbunden mit Lissabon. Offiziell ist es nur ein Vertrag zur Änderung der Verträge zur EU beziehungsweise der älteren zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft. Nach der Ablehnung des Verfassungsvertrages per Referendum in Frankreich und den Niederlanden im Jahre 2005 verordneten die Herrschenden eine "Denkpause". Sie dachten aber keinesfalls daran, das Projekt zu begraben, sondern überlegten: Womit man einlullt, wenn es greint, / Das Volk, den großen Lümmel. Heinrich Heine, der das schon im Wintermärchen 1844 geschrieben hatte, wußte auch, daß solche "Herren Verfasser" (und Damen) heimlich Wein trinken und öffentlich Wasser predigen. Der französische Präsident Chirac hatte nach dem Referendum zugesagt, dessen Ergebnis zu achten - er tat es jedoch nur als Person, und sein Nachfolger Sarkozy beeilte sich, beim Eintüten mitzuwirken. Das Ganze heißt nur eben nicht mehr Verfassung, von Fahne und Hymne ist nicht mehr die Rede, obwohl sie natürlich bleiben, Textteile wurden umgestellt und ein paar Termini verändert.

Ein anderer früherer Präsident Frankreichs, Giscard dÂ’Estaing, der jenem Konvent vorstand, in dem diese EU-Verfassung gemacht wurde, sagte ungeschminkt, der nun vorliegende "EU-Reformvertrag" weise lediglich "kosmetische Änderungen" auf, die vorgenommen worden seien, auf daß der Vertrag nicht mehr aussehe wie eine Verfassung. Damit sei sie leichter zu schlucken, und weitere Referenden könnten umgangen
werden. Man habe "nur den Umschlag gewechselt. Der Brief im Innern
des Umschlags ist nach wie vor der gleiche".

Darum hatte sich im ersten Halbjahr 2007 die deutsche Ratspräsidentschaft auch nachdrücklich bemüht. Der Europäische Rat, die Versammlung der Staats- und Regierungschefs, die die Entscheidungen letztlich trifft, hatte im Juni die Grundzüge des "Reformvertrages" beschlossen und eine Regierungskonferenz zur Ausarbeitung des Textes beauftragt. Bereits am 18. und 19. Oktober einigte sich der EU-Gipfel in Lissabon, nun unter der portugiesischen Präsidentschaft, auf den endgültigen Vertragstext, wobei noch Änderungswünsche Polens und Italiens berücksichtigt wurden. Am 13. Dezember soll der Vertrag dann in Lissabon unterzeichnet werden. Beabsichtigt ist, die Ratifizierung durch alle 27 Mitgliedsstaaten bis 2009 zu vollziehen - möglichst ohne Referenden (nur in Irland ist dies obligatorisch).

Der Vertragstext ist jetzt 152 Seiten lang; es gibt zwölf Protokolle, zahlreiche Erklärungen und Korrekturen. Es scheint, als habe man absichtlich alles in einer Sprache und Paragraphenstruktur gefaßt, die möglichst wenige Menschen verstehen. Doch bei gründlicher Durchsicht wird deutlich: Der Inhalt ist geblieben.

Die "Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik" ist integraler Bestandteil der gemeinsamen Außenpolitik, das heißt: Die Militarisierung der Außenpolitik der EU ist ebenso Ziel wie die Verpflichtung zur Aufrüstung. Die Rüstungsagentur heißt jetzt "Europäische Verteidigungsagentur". Die Staaten, die die militärischen Ambitionen umsetzen wollen, "begründen eine Ständige Strukturierte Zusammenarbeit", ohne daß die anderen EU-Länder dabei mitreden dürfen. Zugleich wird diese militärische Zusammenarbeit an die NATO gebunden.

Das Europäische Parlament wird informiert, hat aber nichts zu sagen (Art. 21). Eine Zuständigkeit des Gerichtshofes der Europäischen Union - der sonst immer hinzugezogen wird, wenn es um Privatisierungen geht (Stichwort: Sparkassen und VW-Gesetz in Deutschland) - wird in bezug auf das Militärwesen ausdrücklich ausgeschlossen (Art. 11). Ein "Anschubfonds" für Militäreinsätze (Art. 26) bildet den Einstieg in einen EURüstungshaushalt. Gezielt wird auf die "Bekämpfung des Terrorismus", darunter auf dem Hoheitsgebiet von Drittländern - womit wir wieder bei den deutschen Interessen am Hindukusch wären.

Auch auf dem Felde der "inneren Sicherheit" werden verschärfende Schritte anvisiert, die noch weiterer Analyse bedürfen: Europol, eine "Europäische Staatsanwaltschaft" mit Durchgriffsrechten in die Mitgliedsländer; Verwischung der in Deutschland geltenden Trennung von geheimdienstlicher und polizeilicher Tätigkeit; Vorratsdatenspeicherung.

Und was ist mit den Freiheits- und Persönlichkeitsrechten? Vergemeinschaftet wurden bisher noch immer die niedrigsten Standards. Sichtbar werden die Umrisse eines europäischen Überwachungsstaates. Im Bereich der Wirtschaftsintegration findet sich das Sozialstaatsprinzip, das im deutschen Grundgesetz steht, nicht, wohl aber die "Wettbewerbsfähigkeit". Für wen eigentlich? Und gegen wen?

Genau betrachtet gehören wohl die "Wettbewerbsfähigkeit" und die militärische Einsatzbereitschaft zusammen. Früher nannte man das Imperialismus. Dieses Vertragskonvolut verdient Ablehnung wie zuvor die "EU-Verfassung". Sie gilt dem Brief, nicht dem Umschlag, wie schon 2005.

in: Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 12. November 2007, Heft 23

aus dem Inhalt:
Wolfgang Sabath: Einheit in der Einfalt; Erhard Crome: Europäischer Überwachungsstaat; O-ton: Sinnhaftigkeit; Ignaz Wrobel: Handelsteil; Uri Avnery, Tel Aviv: Zwölf Jahre später; Wolfgang Haible, Peking: Fitness; Klaus Hart, São Paulo: Schützer oder Zerstörer?; Peter Gugisch: Kurt Schwaen; Ulrike Krenzlin: Mönch am Meer; Renate Hoffmann: Seltene Pflanze; Klaus Hammer: Perfekt und Imperfekt tranken Sekt; Elke Sadzinski: Halloween 07