Die Scheuklappen des Entwicklungsdiskurses

Anmerkungen zu Theo Rauchs

in (01.10.2007)
Der Entwicklungsdiskurs hat seine eigenen Zwänge, denen sich, wenn er sich auf ihn einlässt, keiner entziehen kann, nicht einmal ein so kritischer Geist wie Theo Rauch. Wie jeder Diskurs konstruiert er sich seine eigenen Objekte selbst - im gegebenen Fall die Entwicklungsländer als "generic mythical LDCs", "countries with all the right deficiencies" (Ferguson 1990: 70) - denen nämlich, die die "Entwicklungs"-Institutionen mit ihrem Instrumentarium zu bearbeiten können glauben. Diese "Länder" sind es, die die Einheiten der Analyse wie der Einflussnahme darstellen - selbst in Fällen, in denen das ökonomische Gravitationszentrum eines Landes so eindeutig außerhalb seiner Staatsgrenzen liegt wie in Fergusons Paradebeispiel Lesotho, wo (um 1980) gegen 70 % des Volkseinkommens aus der Wanderarbeit in Südafrika stammten (so ganz anders sieht bzw. sah es aber auch in Mosambik und Burkina Faso und Puerto Rico und den Philippinen und selbst Mexiko nicht aus). Sie bleiben es auch bei Rauch, selbst dort, wo er von "Globalisierung" spricht, denn sie sind es, die entweder "systemische Wettbewerbsfähigkeit" entwickeln oder eben nicht und je nachdem Globalisierungsgewinner oder -verlierer werden. Die Entwicklung dieser Fähigkeit aber hängt davon ab, ob die entscheidenden Akteure in diesen Ländern den richtigen oder den falschen Wertmustern und Handlungsorientierungen folgen und ob die staatlichen Strukturen denen in den entwickelten Industrienationen entsprechen oder nicht. Die Anreizsysteme dürfen weder zu individualistisch noch zu kollektivistisch ausgerichtet sein, Rent Seeking und Klientelismus dürfen keine verbreiteten Handlungsmuster sein und Staatsklassen keine dominanten Akteure, denn mit Staatsklassen gibt es keine Good Governance, und die ist in der Entwicklungspolitik zwar nicht alles, aber ohne sie ist alles nichts. Gar nicht in den Blick kommen demgegenüber externe Faktoren wie Transnationale Konzerne oder oligopolistische Weltmarktstrukturen. Das ärgerlichste von all den Konzepten dieses Diskurses, die in Rauchs Beitrag eingehen, ist in meinen Augen das des "Rent Seeking". Das ist alles andere als ein analytischer Begriff. Es ist nichts als ein modisches Schimpfwort ohne jeden Erklärungswert - "die da unten wollen nicht arbeiten (Rente = arbeitsloses Einkommen), deshalb entwickeln sie sich nicht". Irgendwer hat es irgendwann einmal eingeführt, und nun ist es fester Bestandteil des Standardvokabulars. Niemand hat sich jemals die Mühe gemacht, den Begriff zu operationalisieren und dann empirisch zu untersuchen, ob die Eliten (auch so ein Wort) in den Entwicklungsländern dem Rent Seeking mehr frönen als im "entwickelten" Teil der Welt. Auch hier würde kein Staat/Staatsapparat, wenn sich auf seinem Souveränitätsgebiet Erdöl- oder Edelmetallvorräte finden, darauf verzichten, die entsprechenden Öl- oder Bergwerksrenten zu kassieren. Und auch kein Unternehmen, das sich wie auch immer Eigentumsrechte an Ölquellen oder Silberminen erobern konnte, würde dies tun. Kein Konzern, der sich auf einem noch so kleinen Gebiet eine Monopolstellung sichern kann, wird auf die daraus resultierende Monopolrente verzichten, keiner, der sich einen Knowhow-Vorsprung patentieren lassen kann, auf die Patentrente. Und die größten Rent Seekers in der Dritten Welt sind allemal die dort tätigen Transnationalen Konzerne, die oft genug alle drei genannten Rentenarten auf einmal kassieren können und kassieren. Ähnlich steht es mit den Staatsklassen. Der Begriff evoziert automatisch die Assoziation vom aufgeblähten Staatsapparat, dessen parasitäre Bürokraten das gesamte gesellschaftliche Mehrprodukt aneignen - Privatisierung als Heilmittel ist die nächste Assoziation. Solche gefräßigen Staatsbonzen mag es ja durchaus geben, aber die Hauptprofiteure sind zumindest in Afrika allüberall private Kapitaleigentümer - Contractors, Immobilienhaie, Import-Export-Kaufleute, Aktionäre von Joint Ventures mit ausländischen Konzernen usw. Der Staat hat zwar das große Geld, aber er hat es schon früher nirgendwo zur Gänze und selten zum größten Teil in staatliche Produktionsanlagen gesteckt; seit den Privatisierungsprogrammen von IWF und Weltbank geschieht dies schon gar nicht mehr. Der bei weitem größte Teil wird vielmehr in ungezählten "Contracts" an private Unternehmer vergeben (vgl. Hauck 1992) - für Entwicklungsprojekte, deren effektive Durchführung keine Bürokratie jemals kontrollieren kann. Natürlich hat dies - in Zusammenwirken insbesondere mit der Tatsache, dass die lukrativen privaten Märkte allesamt uneinnehmbar fest in den Händen ausländischer Konzerne sind - unliebsame Konsequenzen: Staatliche Vergabeentscheidungen bestimmen über die Erwerbschancen der privaten Unternehmer, was wiederum zur Folge hat, dass der interne ökonomische Konkurrenzkampf der Bourgeoisie nicht in erster Linie mit ökonomischen, sondern mit politischen Mitteln geführt wird, als Kampf um den Zugang zu politischer Entscheidungsmacht. Private Geschäftsleute (kleine wie große) suchen die Protektion politischer Entscheidungsträger, um überhaupt gewinnträchtig agieren zu können; die Politiker ihrerseits lassen sich dies durch Gefolgschaftsdienstleistungen (finanzieller oder nichtfinanzieller Art) entgelten. Dies mag man "Klientelismus" nennen, aber es folgt eben nicht, wie der Begriff suggeriert, aus irgendwelchen "traditionellen" Wertmustern oder Handlungsorientierungen, hat kaum etwas mit der Psychologie von "Staatsklassen" zu tun, dafür aber umso mehr mit den aktuellen sozioökonomischen Strukturen, welche der Bourgeoisie keine alternativen Akkumulationsfelder belassen. Ebenso sekundär im Vergleich zu diesen Strukturen erscheint die Frage, ob die Anreizsysteme einseitig auf Eigenverantwortung bzw. auf Solidarität ausgerichtet sind oder in einem "ausgewogenen Verhältnis" zueinander stehen. Zudem fehlen auch hier sämtliche Maßstäbe - was ist zu viel an Individualismus, was zu viel an Solidarität, wann ist das Verhältnis ausgewogen?. Schließlich "Good Governance": "Die Belege dafür, dass es dort, wo die Institutionen besser funktionieren, weniger Armut gibt, sind eindeutig. Der Good-Governance-Ansatz will also Armutsminderung durch bessere Anreizsysteme ..., durch armutsorientierte Allokation öffentlicher Mittel ...", schreibt Rauch. Leider nennt er uns jene Belege nicht. Und zumindest bezüglich des Good-Governance-Konzepts der Weltbank sind doch erhebliche Zweifel angebracht, ob Armutsminderung eines von deren vorrangigen Zielen benennt. "Good Governance ... ist gleichbedeutend mit gesundem Entwicklungsmanagement" (World Bank 1992: 1), heißt es dort. Es geht darum, dass der Staat befähigt wird, "Normen zu etablieren und durchzusetzen, Recht und Ordnung zu schaffen und Eigentumsrechte durchzusetzen" (ebd. 6) - wobei mit "Eigentumsrechten" selbstredend nicht kollektive (z.B.) Bodeneigentumsrechte gemeint sind, sondern kapitalistisches Privateigentum, welches das Privateigentum an Produktionsmitteln selbstverständlich einschließt. Aus der Akkumulationsdynamik dieses Eigentums selbst resultierende Ungleichheit und Armut sind für die Weltbank - anders als aus "abuse of power" resultierende (ebd. 16; vgl. auch Ziai 2003: 416) - kein Stein des Anstoßes. Und man muss kein Marxist sein, um zu der Überzeugung zu gelangen, dass der ganz normale Prozess der kapitalistischen Akkumulation zumindest phasenweise wachsende Ungleichheit produzieren muss. Die auch von Rauch apostrophierte Kuznets'sche U-Kurve behauptet genau das gleiche; und dass die überwältigende Mehrheit der postkolonialen Staaten von heute den zweiten, aufsteigenden Ast dieser Kurve (soweit von diesem überhaupt die Rede sein kann) noch nicht erreicht haben, ist allgemeiner Konsens. An dieser Ungleichheit und der daraus resultierenden Armut zu rütteln, liegt jedenfalls dem Weltbank-Konzept von Good Governance so fern wie nur irgend denkbar. Die weltweit herrschenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse stehen nicht zur Diskussion. Dass der Beitrag von Theo Rauch erhellend und außergewöhnlich informativ ist, steht außer Frage. Sein Überblick über die Geschichte der Armutsminderungsstrategien ist in dieser Systematik und Vollständigkeit neu und in der Darstellung der Aporien all dieser Strategien und der Gründe für ihr Scheitern originell und argumentativ überzeugend. Noch überzeugender aber hätte - so die Quintessenz meiner Anmerkungen - die Kritik an diesen Strategien werden können, wenn es der Autor geschafft hätte, sich sehr viel eindeutiger aus der Verstrickung in den Mainstream-Entwicklungsdiskurs zu lösen, statt immer wieder auf dessen Vokabular zurückzugreifen, welches doch immer nur Objekte konstituiert, von denen angenommen wird, sie ließen sich technologisch, durch Maßnahmen des Entwicklungsmanagements, bearbeiten. Literatur Ferguson, James (1990): The Anti-Politics Machine. Minneapolis. Hauck, Gerhard (1992): "Demokratisierung und Entwicklung. Testfall Nigeria". In: Peripherie, Nr. 45, S. 67-76. Rauch, Theo (2007): "Von Basic Needs zu MDGs. Vier Jahrzehnte Armutsbekämpfung in Wissenschaft und Praxis und kein bisschen weiter". In diesem Heft. World Bank (1992): Governance and Development. Washington DC. Ziai, Aram (2003): "Governance und Gouvernementalität". In: Nord-Süd Aktuell, Nr. 3, S. 411-422. Anschrift des Autors: Gerhard Hauck gihauck@t-online.de

Aus: PERIPHERIE Nr. 107: "Millenniumsziele. Entwicklung von Armut", 27. Jg. 2007, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 246-249

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