Vorwärts in die Gegenwart

Dieser Artikel versteht sich als neugierig und fragend. Fragend nach den drängenden Erfordernissen und Entwicklungen der Zeit. Wobei die Frage als Schritt zur Kritik verstanden wird.

Die Zeit drängt. Nicht, dass ein Häuschen im Grünen mit dichter, vor fremden Blicken und Geräuschen schützender Hecke kein lohnenswertes Ziel wäre. Doch schafft man sich ein Refugium, endet die eigene Neugier häufig an der Gartenpforte.

Dieser Artikel versteht sich als neugierig und fragend. Fragend nach den drängenden Erfordernissen und Entwicklungen der Zeit. Wobei die Frage als Schritt zur Kritik verstanden und der Kritik die Funktion des Denkanstoßes zugewiesen wird. Kritik wird hier verstanden als kultureller Prozess auf dem Weg zu einem humanen Verständnis von Gesellschaft. Am Ende einer solchen Überlegung könnte eine freie, friedliche, kulturvolle, gerechte, also eine sozialistische Gesellschaft stehen.

Wer fragt, kann an und mit den Antworten scheitern. Selbst wer Antworten findet, kann irren. Häufig sogar. Deshalb erhebt der Fragende und Antwortende hier nicht den Anspruch, wahres und wirkliches Bewusstsein zu schaffen. Das wäre anmaßend. Die folgenden Überlegungen sind lediglich: Überlegungen. Wenn sie einen Diskurs initiierten, indem verschiedene Antworten auf die gleichen Fragen gegeben würden, hätten sie ihr Ziel erreicht. Denn dann würden die Antwortgebenden einen offenen Raum betreten, innerhalb dessen sie aus der Kritik heraus eine gemeinsame Erkenntnis gewinnen könnten. Und aus dieser Erkenntnis könnte Veränderung resultieren, wenn neu gewonnenes Bewusstsein in Handeln umgesetzt würde. Die Konjunktive verdeutlichen eines: Es gibt keine Gewissheit, das Richtige zu tun. Passivität jedoch erscheint als das einzig wirklich Falsche.

Parallelgesellschaft Parlamentarismus
Das funktionsfähige und vitale System des Parlamentarismus wirft permanent Fragen nach seiner Effizienz auf. Warum entscheiden die demokratisch legitimierten Volksvertreter gegen die Mehrheitsmeinung des von ihnen repräsentierten Volkes? Wie kürzlich wieder geschehen bei den Beschlüssen des Bundestages zur Ausweitung der Lebensarbeitszeit (Rente mit 67) und zum Einsatz der Tornado-Flugzeuge in Afghanistan. Irrig, fast schon irrsinnig erscheint die Entscheidung für die Rente mit 67 angesichts der hohen Altersarbeitslosigkeit und der hohen Arbeitslosigkeit allgemein. Und nein, natürlich ist der Einsatz der Tornados kein Kampfeinsatz, denn bei der Bundeswehr handelt es sich lediglich um eine friedensschaffende Armee, die den Aufbau ziviler Strukturen im umkämpften Süden Afghanistans vorantreibt. Im Interesse der afghanischen und, wie man seit Peter Struck weiß, auch der deutschen Bevölkerung.

Die Kette solcher Beispiele ließe sich über etliche Seiten fortsetzen. Nur lohnt es nicht. Denn die aufgeworfenen Fragen sind einfach zu beantworten. Der Dialektik verbunden, hier aus verschiedenen Perspektiven. Der Großkoalitionär behauptet sicherlich, er handele in übergeordnetem Interesse, das sich der Kenntnis des Individuums entziehe. Dieses werde jedoch zukünftig davon profitieren und dann anerkennen, dass die paternalistisch-benevolente Entscheidung die richtige gewesen sei. Und entmündigt damit den Bürger, der sich in seinem unmittelbaren Interesse nicht vertreten sieht. Die Opposition kritisiert die Entscheidung und argumentiert bestenfalls mit den Interessen des Bürgers. Jedoch kann sie diese gegen die Koalition nicht durchsetzen.

Soweit zur Funktionsfähigkeit des politischen Systems. Es wirkt. Schmerzhaft, ineffizient, undurchsichtig und unverständlich. Aber es wirkt. Die Konjunktur zieht nach offizieller Lesart an, die Arbeitslosenquoten sinken, das Paradies liegt bereits in Griffweite. Nur diejenigen Millionen, die von der robusten konjunkturellen Entwicklung nicht profitieren können, die aus der Arbeitslosigkeit in eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme überantwortet werden, die täglich ihre Deklassierung durch Ein-Euro-Jobs erleiden müssen, haben keine Berechtigung zur Teilhabe am Paradies.

Es ist kein Geheimnis, dass sich auch die Linke am Parlamentarismus beteiligt. Sie tut es völlig zu Recht. Sie ringt um gesellschaftliche Mehr- und Minderheiten und bietet manchmal sogar politische Alternativen an. Und krankt als chronische gesellschaftliche Opposition - sieht man von den aktuellen und gewesenen Beteiligungen an Landesregierungen ab - an den gleichen Symptomen der Ineffizienz, wie ihre politischen Gegner.

In der Konsequenz bedeutet das: Auch die Linke kann mit Hilfe ihrer parlamentarischen Tätigkeit die sozial Deklassierten nicht integrieren.

Das Paradoxon sticht ins Auge. Trotz des Funktionierens des parlamentarischen Systems sind die darin organisierten Parteien kaum mehr zu einer realen Interessenvertretung großer Teile der von ihnen repräsentierten Bürgerschaft in der Lage. Der Teil der Gesellschaft, dem nicht das statistische Paradies winkt - und dieser nimmt nicht ab, sondern zu -, bleibt zurück und bildet eine Parallelgesellschaft heraus, deren Funktionalismen, normative und sprachliche Codierungen von der politischen Klasse nicht mehr erfasst und reflektiert werden. Somit wird der Parlamentarismus selbst zu einer Parallelgesellschaft, deren Wirken in weiten Teilen an den Bedürfnissen der von sozialer, kultureller und ökonomischer Teilhabe ausgeschlossenen Menschen vorbeigeht.

Vorsicht! Die vorhergehenden Bemerkungen sind Pauschalierungen, zugleich Zuspitzungen, Antwortversuche. Keine endgültigen Wahrheiten. Können erwähnte Ineffizienzen aufgehoben werden? Ganz leicht sogar, möchte man meinen, indem sich die inhaltliche Ausrichtung der Politik verändert. Und an diesem Punkt darf jeder wieder sein eigenes Süppchen kochen.

Rückzug des Staates und der Gesellschaft
Wenig schmackhaft jedoch erwiesen sich die politischen Zutaten der jüngeren Vergangenheit. Arbeitsmarkt- und Sozialreform, Gesundheitsreform, Steuerreform, Haushaltskonsolidierung etc. taten das ihrige, das Image des fürsorgenden Staates in ein Image des liberalisierten Staates zu wandeln. Der Staat und sein Apparat als Nutznießer der Gesellschaft ziehen sich aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zurück. Auf der einen Seite steigen die Lasten für die Bürger, andererseits werden trotz dieser Mehreinnahmen an Steuergeldern die Mittel für gemeinnützige, soziale, kulturelle, politische Einrichtungen gekürzt. Der Rückzug des Staates aus seiner regionalen Verantwortung wird erklärt mit den alternativlosen Sachzwängen der Globalisierung. Die Argumentation ist entlarvend: Wer Politiken, die unter internationalem ökonomischen Diktat entstehen, als alternativlos bezeichnet, erklärt sich selbst für überflüssig. Die Gesellschaft braucht keine Politiker, die Sachverwalter ökonomischer Interessen sind. Die Gesellschaft benötigt Politiker, die kreativ und innovativ den Herausforderungen einer sich permanent im Wandel und der Entwicklung befindlichen Gesellschaft begegnen und nach Lösungen suchen. Antworten auf Fragen geben, aus ihrer jeweiligen parteipolitischen Perspektive und damit ein Spektrum an Problemlösungsmöglichkeiten aufzeigen. Um die bessere Lösung kann dann in der Öffentlichkeit, mit Hilfe der Medien, gestritten werden. Soweit zur Theorie. Die Praxis ist die des Rückzuges. Wobei der Rückzug des Staates aus seiner gesellschaftlichen Verantwortung einen weiteren Rückzug bedingt, nämlich den der Gesellschaft von sich selbst. Die Gesellschaft, die sich bekanntlich aus ihren einzelnen Mitgliedern, Individuen, Vereinen, Initiativen etc. zusammensetzt, leidet unter der Preisgabe des öffentlichen Interesses durch den Staat. Dort, wo der Rückzug mit Kürzungen einhergeht, kann die Gesellschaft selbst nicht mehr funktionieren und zieht sich somit zwangsläufig von sich selbst zurück. Die Zurückweisung der eigenen sozialen Verantwortung durch den Staat bedingt also einen doppelten Rückzug. Mit fatalen Folgen. Dort, wo sich niemand mehr engagieren kann, tritt ein Zustand der Brache ein. Diese Brachlandschaften umfassen die verschiedensten sozialen Bereiche. Davon betroffen sind z. B. politische Initiativen, Jugend- und Kinderhäuser, -clubs, kulturelle Einrichtungen, Sportvereine. Die Reihe ließe sich fortsetzen und jedem fiele etwas ein. (1)

Die Brachlandschaften wieder zum Blühen bringen, erinnert sei an den Doktor aus Oggersheim, muss Aufgabe politischer Bewegungen und Parteien sein. Die Parteien kranken an ihrem Paralleluniversum, dem Vorbei-Agieren an breiten Schichten der Bevölkerung. Soziale Bewegungen haben es da leichter, in den öffentlichen Raum, sei er noch gesellschaftlich organisiert oder schon Brachlandschaft, hineinzukommen. Eine solche Bewegung kann gleichzeitig parteiförmig organisiert sein. Wesentlich ist ihr jedoch, dass sie eine Ansprache an die Bevölkerung außerhalb des Parlaments finden kann, indem sie ein Thema aufgreift, das keinen Platz in der Parallelgesellschaft Parlament einnehmen kann oder aber sozusagen auf der Straße liegt.

In den Brachen selbst entwickelt sich neues, anderes soziales Leben. Ein soziales Leben in der permanenten Improvisation. Das mag auf den ersten Blick romantisch erscheinen, hat jedoch mit der Blauen Blume rein gar nichts zu tun, sondern ist eher von Deprivation und Perspektivlosigkeit gekennzeichnet. In dieser Situation Hilfestellung zu geben, darin liegt dann die Stärke einer politischen Bewegung bzw. Organisation, die bewusst in die Brache hinein agiert, in bewusster Abkehr von der reinen parlamentarischen Lehre. Die Stärke einer solchen Bewegung besteht darin, sich die oben beschriebene Parallelität zu Nutze zu machen und sich mehr oder weniger stark auf beiden Standbeinen bewegen zu können.

Wer kann ein Träger von Veränderung sein in Zeiten des Postfordismus? Der ökonomischen Abwicklung breiter Landstriche in Ostdeutschland mit Entvölkerungs- und Niedergangsszenarien? Der Deindustrialisierung des Ruhrgebietes? Wer bietet seine Hilfe an? Gegenwärtig gibt es in Deutschland nur eine politische Bewegung, die diesen Weg bewusst geht: Die extreme Rechte, formiert um die NPD.

Konzeptionelle Orientierung der Linken im öffentlichen Raum
Die parteiförmig organisierte Linke in den neuen Ländern verstand sich traditionell als Anwalt der kleinen Leute. Aber eben nicht nur, sondern gleichzeitig wies ihr Selbstverständnis in Richtung einer Volkspartei, die auf Augenhöhe, gemessen an Wählerstimmen und Prozenten, mit den anderen beiden Volksparteien SPD und CDU agiert. Dem Volksparteienkonzept liegt die Vertretung mannigfaltiger Interessen verschiedenster, wenn möglich aller Milieus, zugrunde. Eine Volkspartei muss, um Volkspartei sein zu können, in der Lage sein, einen permanenten inhaltlichen Spagat zu vollführen. Der Linkspartei, vormals PDS, jetzt auf dem Weg zur gesamtdeutschen Linken, gelang dies für einige Jahre mehr recht als schlecht. Doch in den zurückliegenden Jahren machen sich mehrere Trends bemerkbar, die zu einem strukturellen Problem der Linken, gerade in den neuen Ländern, geführt haben.

Zum einen sieht auch sie sich mit dem Rückzug des Staates und der Gesellschaft konfrontiert und hat ebenso wenig wie ihre politischen Kontrahenten adäquate, in diesem Falle integrierende Antworten geben können. Die sich ausbreitende Abwesenheit von Arbeit, Sozialem und Kultur in breiten Regionen wie z. B. Vorpommern oder der Prignitz und anderen führt häufig zu einem Rückgang des politischen Interesses der Betroffenen. Sie sind für die etablierten Parteien, die jede für sich und in ihren durchaus unterschiedlichen Rollen alle die bestehende Parallelwelt Parlamentarismus repräsentieren, nicht mehr ansprechbar. Die Lebenswelt der Menschen unterliegt einem so rapiden Wandel, den die Parteien als Organisationen - auch in ihrer Sprache - nicht vergegenwärtigen können. Zum anderen leidet die Linkspartei am bekannten Überalterungsphänomen, d.h. ihre Mitgliedschaft kann aufgrund biologischer Prozesse nicht die Präsenz in der Fläche, in den Vereinen, Initiativen etc. zeigen, die sie in den zurückliegenden Jahren gezeigt hat. Die Linke verliert an organisatorischer Schlagkraft.

Als These ließe sich formulieren, dass der Rückzug des Staates neben dem zusätzlichen Rückzug der Gesellschaft von sich selbst auch eine Schwächung der Parteien, der wesentlichen politischen Träger des Staates, und damit des Staates selbst bedeutet.

Die gesellschaftliche Brache nicht anwachsen zu lassen oder gar sie anderen politischen Bewegungen wie den Rechtsextremen zu überlassen, wird eine der originären zukünftigen Aufgaben der Linken sein.

Doch wie? Ist die Linke in der Lage, neben dem klassischen - und existenziellen - parlamentarischen Konzept ein gesellschaftliches Politikmodell zu entwickeln, das die Menschen dort trifft, wo diese sich befinden? Kann die Linke sich aus dem bequemen Parlamentssessel erheben und auf die Straße, ins Einkaufszentrum, in die Hartz- IV-Beratungsstelle, ins Arbeitsamt, auf den Sportplatz, in die Jugendclubs, auf die Bürgerfeste, in die Freiwillige Feuerwehr gehen? Sie tut es. Doch momentan tun andere es - zumindest scheinbar - erfolgreicher. Warum? Wird die Linke nicht gehört, weil sie nichts zu sagen hat? Gilt sie als zu etabliert? Mehrere Gründe fallen sofort ins Auge. Ihre Jugendlosigkeit, die gesellschaftliche Entwicklung, all das, was schon benannt wurde. Die Altersstruktur lässt sich nur durch junge Mitglieder verändern. Wie wird man attraktiv für Jüngere? Indem man ihre Sprache spricht, sie versteht, ihre Interessen teilt. Doch wer hat das begriffen und setzt es vor allem auch in die Tat um? Die Antwort erübrigt sich. Die gesellschaftliche Entwicklung hat sich nicht ohne die Linke vollzogen, ob in der Regierung oder der Opposition, ist es ihr aber bisher nicht gelungen, den Entwicklungen eine andere Richtung zu schenken.
Damit stellt sich die konzeptionelle Frage.

Strategische Entscheidungen
Zunächst: Wer ist Adressat einer linken Politik? Die Antwort fällt leicht: Alle. Die Linke kann sich nicht gegen die Gesellschaft abschotten, sie muss die Gesellschaft widerspiegeln, die Interessen der Menschen aufgreifen und vertreten. In den verschiedensten Arenen und Parallelwelten. In einem urbanen Raum sieht man sich somit mit ganz anderen inhaltlichen Herausforderungen konfrontiert als im ländlichen Raum. Die konkrete Ausgestaltung linker Politik kann nur vor Ort erfolgen, ein Patentrezept gibt es nicht. Jedoch muss sie in einen reflexiven, kritischen Prozess eintreten und ihre Politik und vor allem die Ziele ihrer Politik ständig hinterfragen und überprüfen. Ziele zu hinterfragen bedeutet, sich in seinen Konzepten und Strategien zu hinterfragen. Keine Mantren, Dogmen, ideologischen Verkürzungen, Beharrungen auf unabänderlicher Alternativlosigkeit zu der eigenen - zumeist parlamentarisch geprägten - Politik. (2)

Die Gefahr der Beharrung auf einer einmal bezogenen Position lässt das Dogma wachsen, zum Schutze des Dogmas errichtet man sich ein eigenes ideologisches Gebäude. Der Vorteil besteht darin, dass man sich innerhalb dieses Gedankengebäudes alles erklären kann. Es funktioniert, und die anderen haben immer Unrecht. Doch: Selbst wenn es stimmen sollte, dass die Positionen der anderen, wie aus der in sich geschlossenen Erklärungswelt heraus vermutet, unzutreffend sind, müssen die eigenen nicht zutreffend sein.

Für die eigenen Positionen und Angebote bedeutet dies, aus einer Unsicherheit heraus zu argumentieren und überzeugen zu wollen. Den öffentlichen Raum mit Angeboten zu betreten, deren Funktionalität noch nicht bewiesen ist. Und noch nicht bewiesen werden konnte, denn es handelt sich zugleich um einen gegenwärtigen und einen antizipativen Prozess. Gegenwärtig, da das Angebot aus der wahrgenommenen Realität heraus und in diese hinein kommuniziert werden muss, antizipativ, da das Angebot über diese Realität hinausweisen und eine andere - bessere, ästhetischere, ökologischere, solidarischere, freiere, friedlichere, sozialistischere etc. - Realität aufzeigen muss.

Ein lebendiges Konzept des Versuches, des Mutes zu Trial and Error unter Beteiligung der Adressaten, der Menschen, Bürger, der Gesellschaft. Ein Konzept also, das aus den vermeintlich funktionierenden Fehlfunktionalismen ausbricht und darüber hinausweist. Ein Konzept, das Parlament und Gesellschaft, ganz wichtig, auch deklassierte Gesellschaft, miteinander versöhnt.

Um die abstrakten Gedanken zu konkretisieren: Auf Deutschland bezogen haben wir eine sozio-ökonomische Entwicklung, die vieler Angebote bedarf. Gerade in den neuen Bundesländern, in denen die Lohnstruktur, die Rentenstruktur sich gravierend unterscheidet von den Niveaus der alten Länder, womit nicht nur die Binnennachfrage merklich gebremst wird, sondern die gesellschaftliche Teilhabe um ein Vielfaches erschwert wird. In den neuen Ländern sind lediglich sieben Prozent der betrieblichen Forschung beheimatet, womit ein selbst tragender Aufschwung sich nicht abzeichnen kann, da Innovation im verlängerten Werkbankprozess keine Rolle spielt. Politische, gesellschaftliche und sozio-ökonomische Brache also. An die beschriebenen Szenarien gekoppelt. Mit der entsprechenden Anfälligkeit für diejenigen mit den zu einfachen Lösungen.

Die Linke läuft in den Auseinandersetzungen mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und der politischen Bewegung des Rechtsextremismus (gerade in den neuen Ländern) oft Gefahr, sich in abstrakten Programmdebatten zu verlieren. Na klar, man muss argumentativ aufgestellt sein. In der Diskussion mit den von sozialer Exklusion Betroffenen nützt das schönste Programmzitat jedoch: rein gar nichts. Die Frage, die diese stellen, lautet schlicht und einfach: Was kannst Du heute für mich tun?

Die zentrale Frage für Politik im Allgemeinen und linke Politik im Besonderen ist demnach keine originär politische. Sie kommt daher als lebensalltäglich. Sie trägt viele Bestandteile in sich. Sozio-ökonomische, kulturelle, politische. Sie ist, da sich Gesellschaft bekanntlich aus jedem Einzelnen konstituiert, eine gesellschaftliche Fragestellung. Und die Antwort darauf kann nur gesellschaftlich verstanden und gegeben werden. Von Angesicht zu Angesicht. Politik wird dann mit den sie flankierenden vielfältigen Angeboten zu einem Ringen um die gesellschaftliche Hegemonie, die sich in der Meinungsführerschaft ausdrückt.

"Der Einstieg in einen Kampf um politisch-kulturelle Hegemonie ist in der Vergangenheit immer dann gelungen, wenn ein gesellschaftliches Tabu gebrochen wurde - am Ausgang des 18. Jahrhunderts war das die angebliche Gottgewolltheit feudaler Ausbeutung und Herrschaft, im 19. Jahrhundert ging es um die viehische Ausbeutung von Frauen und Kindern, in den sechziger Jahren war es in der Bundesrepublik der verdrängte Nationalsozialismus. Heute heißt das Tabu Angst. Die Frage ist nicht, ob dieses Tabu gebrochen werden wird, sondern wer es brechen wird." (3)

Wie? Indem man die Angst benennt. Und ihr Linderung verschafft. Der Weg: Die Lebenssituation der Menschen verbessern. Ein möglicher erster Schritt: Bürgerschaftliches Engagement im Sinne einer solidarischen Kultur. Ein zweiter Schritt: Ein kulturelles Angebot im Sinne gesellschaftlicher Teilhabe. Ein dritter Schritt: Den Menschen den Glauben an die eigene Kraft zur Veränderung schenken. Nur zu spät sollte man dabei nicht sein. Sonst bestraft das Leben die Partei.

Linke Öffentlichkeitsarbeit und Gegenkultur
Wesentliche Bedeutung - womit die Frage der politischen Taktik aufgeworfen ist - in der Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie kommt der Öffentlichkeitsarbeit zu.

Ziel von Gegenöffentlichkeit: die kulturelle Mehrheit in der Gesellschaft zu erreichen, um mittel- und langfristig politische Interessen durchsetzen zu können. Denn über die kulturelle Mehrheit im Sinne der oben dargestellten Elemente von Kultur sind politische Mehrheiten in der Gesellschaft zu erringen. (4)

Das erfordert ein direktes Zuwenden zur Gesellschaft, eine Herausbewegung aus dem rein Parlamentarischen, hinein in die entstehenden Brachen.

Wie verhält es sich um den Zustand der Kultur in der Gesellschaft? Wie verhält sich die Linke zur Kultur? Staat und Gesellschaft ziehen sich aus ihrer kulturellen Pflicht zurück. Damit erwächst eine neue Aufgabe in der Zeit angesichts wachsender Kulturlosigkeit und damit einhergehender kultureller Verwahrlosung: Bewusstseinsbildung durch Kultur. Der kulturelle Prozess der Bewusstseinsbildung sollte dabei zwei Formen annehmen: Eine äußere Impulssetzung und eine innere Reflexion.

Die äußere Impulssetzung erfolgt durch Kommunikation über Medien. Schön wäre die Welt, die Massenmedien agierten in linkem Interesse. Aber das ist nicht der Fall. Das Interessante an den Massenmedien ist - neben der gewaltigen Machtkonzentration in den Händen Weniger - der allgemeine Prozess von Meinungsbildung, vom Agendasetting, also der Wahl der Themen; dass die hochideologisierte Meinungsmaschinerie in Permanenz Schlagworte wiederkäut, die im besten Orwellschen Neusprech ihres ursprünglichen Sinnes beraubt sind. Schlagworte wie Freiheit, Demokratie, selbst Frieden bedeutet nicht mehr das Schweigen der Waffen, Frieden schaffen kann heutzutage auch den Einsatz von Waffen bedeuten. Hinzu treten Scheinargumente, in Leerlaufformeln wie globaler Wettbewerb, Sachzwang, Alternativlosigkeit, Standortkonkurrenz. Und diese Meinungsmaschinerie nimmt für sich selbst absolute Objektivität in Anspruch. Auf der Basis jeglicher Ideologieferne, versteht sich.

Daraus resultiert für die Linke die Frage, wie sie äußere Impulse setzen kann angesichts eines Mainstream-Journalismus, eines in dogmatisch-ideologischen Formeln agierenden Bildungsmusters öffentlicher Meinung? Wobei als These formuliert sei, dass der meinungsmediale Mainstream eine integrative Wirkung erzielt, diese jedoch bei sozial Deklassierten schwächer ausgeprägt ist. Das liegt daran, dass der Mainstream integrativ in der Normsetzung ist, die Normen jedoch häufig - man denke an die Hetzkampagnen gegen Arbeitslose und Hartz-IV-Empfänger - zu Lasten ganzer gesellschaftlicher Milieus gehen. Und somit segregierend wirken. Die staatliche und gesellschaftliche Brache wird massenmedial reproduziert.

Eine gekonnte Ansprache erfasst die Medien und Codes, die einen tatsächlichen Bezug zum Leben der Menschen haben. Mit denen sie selbst kommunizieren. Träger von Botschaften können neben klassischen Medien wie Fernsehen, Radio, Zeitung auch Mode, Musik, Kulturveranstaltungen sein und sind es. Um die Menschen zu verstehen, muss Kenntnis über die Bedeutung der Dinge und Begriffe vorherrschen, die den gemeinsamen Lebensalltag prägen. Und sei das Milieu noch so unterschiedlich. Nur über die Gemeinsamkeit gelingt die Kommunikation. Wo also steht der Empfänger einer Botschaft? Welche Sprache spricht dieser? Wo also steht der Sender einer Botschaft? Welche Sprache spricht jener? Kann ein gegenseitiges Verständnis überhaupt zu Stande kommen? Fragen, die um die kulturelle Hegemonie zu erreichen, unabdingbar zu beantworten sind. Denn die eigentliche Bedeutung der Kultur liegt darin, dass sie, sobald sie in den öffentlichen Raum, die Gesellschaft und die gesellschaftliche Brache transportiert wird, in Politik übersetzt wird.

Davor schützt keine noch so dichte Hecke, kein noch so schönes Häuschen. Sobald Normen transportiert werden, werden sie angenommen, abgelehnt, ignoriert. In irgendeiner Form jedoch geht man zwangsläufig mit ihnen um. Und je näher der Normenvermittelnde am Rezipienten und dessen Lebenssituation dran ist, desto glaubhafter erscheinen die zu vermittelnden Normen. Und desto leichter werden diese adaptiert. Womit die zweite und wichtigere Form der Bewusstseinsbildung durch Kultur erreicht ist. Die Phase der inneren Reflexion. Je mehr Adressaten der eigenen Politik sich in diese Phase hineinbegeben, weil die ihnen unterbreiteten Angebote sie überzeugen, desto leichter fällt es dann der jeweiligen politischen Bewegung bzw. Partei, den Kampf um die kulturelle Hegemonie für sich zu entscheiden.

Dieser Prozess findet bereits statt. In den Brachen, aus denen sich aus den verschiedenen Gründen auch die Linke zurückgezogen hat, werden bereits neue Normen vermittelt. Wenn die Linke nicht bald reagiert und die entsozialisierten Räume mit ihren Angeboten rekultiviert, wird so manches Häuschen im Grünen eingerissen werden.

Martin Schirdewan - Jg. 1975, Diplom-Politikwissenschaftler, seit 2001 Redakteur bei UTOPIE kreativ; zuletzt: Zwischen Macht und Anarchie, Heft 150 (April 2003)

(1) "Konformismus hat es stets gegeben: Heute handelt es sich um eine Auseinandersetzung zwischen ›zwei Konformismen‹, das heißt um einen Kampf um die Hegemonie, um eine Krise der bürgerlichen Gesellschaft. Die alten geistigmoralischen Führer der Gesellschaft spüren, wie ihnen der Boden unter den Füßen schwindet, sie merken, dass ihre ›Predigten‹ halt zu bloßen ›Predigten‹ geworden sind, das heißt zu wirklichkeitsfremden Dingen, reiner Form ohne Inhalt, Hülle ohne Geist; daher ihre Verzweiflung und ihre reaktionären und konservativen Tendenzen: Da die besondere Form von Zivilisation, Kultur, Moral, die sie repräsentiert haben, zerfällt, erklären sie lauthals den Tod jeglicher Zivilisation, Kultur, Moral und verlangen vom Staat repressive Maßnahmen oder schließen sich zu vom realen Geschichtsprozess abgesonderten Abwehrgruppen zusammen und verlängern so die Krise, denn der Untergang einer Lebensund Denkweise kann sich niemals ohne Krise vollziehen. " Antonio Gramsci: Der Mensch als Individuum und der Massenmensch, in: Ders.: Gedanken zur Kultur, Reclam, Leipzig 1987, S. 39.

(2) "Daß eine große Umschichtung im Politischen in der Luft liegt, ahnen viele; daß ein Hegemoniekonzept erarbeitet werden muß, das nicht auf eine ›auserwählte Klasse‹ zielt, sondern jenen Menschen ein Angebot zum Handeln macht, die nicht länger gewillt sind, sich unter den Schlägen eines dogmatischen Liberalismus zu ducken, ahnen ebenfalls viele; daß dafür ein Denken ›ohne Geländer‹ (Hannah Arendt) vonnöten sein wird, ahnen die meisten - fürchten sich aber möglicherweise davor." Jörn Schütrumpf: Denken ohne Geländer. Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?, in: UTOPIE kreativ, Heft 179 (September 2005).

(3) Jörn Schütrumpf: Deutschland verändert sich zur Kenntlichkeit. Vier Thesen, in: UTOPIE kreativ, Heft 185 (März 2006).

(4) Vgl. Jörn Schütrumpf: Denken ohne Geländer. Die Linke an der Schwelle zur Mündigkeit?, in: UTOPIE kreativ, Heft 179 (September 2005).

in: UTOPIE kreativ, H. 200 (Juni 2007), S. 497-504

aus dem Inhalt:
VorSatz; Essay JÖRN SCHÜTRUMPF: Unter ausgeblichener Flagge: die "Linke" Gesellschaft - Analysen & Alternativen MARTIN SCHIRDEWAN: Vorwärts in die Gegenwart; ULLA PLENER: Für eine neue Partei. Hoffnungen und Illusionen 1990; WOLFRAM ADOLPHI: Asiaticus, China 1937; Dokumentierte Geschichte Gute Vorsätze - Eine Chrestomathie! Demokratie & Emanzipation HELMUT BOCK: Was ist des Deutschen Vaterland? 175 Jahre Hambacher Fest? Konferenzen & Berichte EFFI BÖHLKE: Ein weites Feld. Die Linke und Bourdieu Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau Bücher & Zeitschriften Hans Christoph Binswanger: Die Wachstumsspirale. Geld, Energie und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses (ULRICH BUSCH) Margareta Mommsen: Wer herrscht in Rußland. Der Kreml und die Schatten der Macht (KARL-HEINZ GRÄFE) Joseph Stiglitz: Die Chancen der Globalisierung (JÖRG ROESLER) Summaries