Aneignung/Umarbeitung/VerUneindeutigung

in (12.06.2007)

Die Aneignung besticht durch ihre Vieldeutigkeit: Aneignen als sich Einarbeiten in soziale Normen und kulturelle Verstehenshorizonte, aber Aneignung auch als Umarbeiten eingefahrener Normen und

Verständnisse; Aneignen von Wissen und Begriffen, aber Aneignung auch von Dingen, Ressourcen und Kompetenzen; ausbeuterisches Aneignen von Arbeitskraft, aber auch umstürzlerische Aneignung gesellschaftlicher Lebens- und Produktionsverhältnisse. Der Begriff führt keineswegs in Versuchung, Bedeutung still zu stellen oder sich einer einheitlichen Definition zu unterwerfen. Zu fragen ist aber dennoch, welche Bedeutungen unter welchen Bedingungen welche politischen Implikationen entfalten; zumindest dann, wenn der Aneignungsbegriff vielleicht auch strategisch zum Einsatz gebracht werden soll. Wenn ich hier also zunächst auf die Aneignung des pejorativen Begriffs queer durch die politischen Lesben-, Schwulen- und Transgender-Bewegungen zurückkomme, so weil in diesem Falle Aneignung grundsätzlich mit Umarbeitung verknüpft ist bzw. eine Aneignung ohne Umarbeitung als wenig erstrebenswert erscheint. Wird dieser Zweischritt als notwendig angesehen, ist es irreführend, wenn behauptet wird, dass Aneignung eine typische Strategie queerer Praxis sei; vielmehr setzt queer als eine Praxis des queering eigentlich erst an, nachdem die Aneignung vollzogen wurde. Queering hieße dann, den angeeigneten Begriff einer Nutzung zuzuführen, der seine heteronormativen Funktionsweisen gerade nicht wiederholt, sondern die Stigmatisierung, die Entwertung unterbricht und gegen die Norm selbst wendet.

Judith Butler etwa spricht im Zusammenhang von queer von einer "Umkehrung", einer "Fehlaneignung" oder von der Resignifikation, eben jenem Prozess, der bei ihr für die Veränderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse steht, die für sie immer durch Arbeit an diskursiv vermittelten Normen und Zwängen erfolgt und viel versprechend ist, dessen Gelingen jedoch immer fraglich bleibt: [1] Die Resignifikation ist als ein permanenter Prozess zu verstehen, der nicht am Ergebnis (angeeignet), sondern an der fortdauernden Praxis (aneignen) orientiert ist: "Wenn der Begriff 'queer' ein Ort kollektiver Auseinandersetzungen sein soll, ... wird er das bleiben müssen, was in der Gegenwart niemals vollständig in Besitz [angeignet, ae] ist, sondern immer nur neu eingesetzt wird, umgedreht wird, durchkreuzt wird [queered] von einem früheren Gebrauch her und in die Richtung dringlicher und erweiterungsfähiger politischer Zwecke." [2] Die Aneignung/Umarbeitung zielt also auf eine Veränderung von Machtverhältnissen; sie bringt, so mein spezifischerer Vorschlag, die Machtmechanismen der Denormalisierung und der Enthierachisierung zum Einsatz, um das bestehende normative Gefüge ins Wanken zu bringen. [3] Lässt sich diesbezüglich ein Unterschied zwischen der Aneignung eines diffamierten/diffamierenden Konzepts wie beispielsweise der Perversion oder eines machtvollen Konzepts wie dem der Familie bestimmen? Oder ist es gleichgültig, ob es sich hierbei um ein pejoratives oder ein affirmatives Konzept handelt, so es gelingt, die eingefleischte Norm und die entsprechende Definitionsmacht in Frage zu stellen und in Bewegung zu versetzen? Geht es in jedem Fall immer um die Frage, in welches Normalitätsregime interveniert wird und inwiefern dieses seiner Normierungs- und Hierarchisierungsmacht entkleidet werden kann?

Wenn die Aneignung eines machtvollen Konzepts lediglich dazu dient, Zugang zu Privilegien zu finden und diese legitimiert, wird die Aneignung systemstabilisierend und sichert traditionelle Hierarchien ab. Um die Funktionsweisen einer machtvollen Institution anzufechten, muss deren Bedeutung für die Hierarchisierung und Normalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse herausgearbeitet und in diese Mechanismen eingegriffen werden. Bezogen auf das machtvolle Konzept Familie, das sich in lesbisch-schwulen Kreisen aktuell einer gewissen Beliebtheit erfreut, hieße dies, die geschlechtliche Arbeitsteilung, die inter-generationelle Eigentumsweitergabe, die Sozialisation gesellschaftskompatiblen Nachwuchses in den Blick zu nehmen und zu fragen, inwiefern diesbezüglich denormalisierende und enthierarchisierende Alternativen entworfen werden. Meine skeptische Vermutung lautet, dass feministische Bewegungen, die sich der Einpassung in dieses Konzept widersetzt und alternative Formen der Reproduktionsarbeit, der Kindererziehung, der Eigentumsverteilung erprobt haben, den lesbisch/schwulen Aneignungen des Familienmodells überlegen waren, was das Unterbrechen der strukturellen Reproduktion der Institution und ihrer Funktionsweisen betrifft. Wobei allerdings zu bedenken ist, dass sich für viele der feministischen Widerständlerinnen die Strategie der Aneignung der Familie insofern gar nicht stellte, als sie sowieso in diese Institution eingebunden waren. Und angeeignet werden kann nur das, was nicht eh schon besessen wird bzw. dessen Besitz verweigert wird.

Die Aneignung von marginalisierten oder diffamierten Positionen bzw. pejorativen Konzepten kann einfacher und offensichtlicher als Intervention in Normalitätsregime verstanden werden als die Aneignung machtvoller oder ambivalenter Konzepte. Im Hinblick auf die Aneignung der Begriffe lesbisch und schwul als Kategorien positiver Identifikation oder des Begriffs queer als Zeichen anti-identitärer Praxis, wäre dennoch zu schauen, inwiefern diese nicht nur Selbstermächtigungen produzieren, sondern auch dominante Positionen, beispielsweise die Vorherrschaft der Heterosexualität, in Frage stellen. Sehr wohl kann es nämlich passieren, dass zwar alternative Nischen entstehen, jedoch die Privilegierung der Heterosexualität fortbesteht. Oder dass queere Positionen zwar begehrt sind, genau deshalb aber auch von dominanzgesellschaftlicher Seite, z. B. in Form bestimmter medialer Repräsentationen, "angeeignet" oder "eingehegt" werden müssen, um die Privilegien der heterosexuellen Position zu sichern und deren "Normalität" zu reklamieren. Hier setzt dann die politische Arbeit an, sich nicht nur ein entwertetes Konzept anzueignen und neu zu besetzen, sondern auch dominanzgesellschaftliche Konzepte anzufechten. Statt sich allzu sehr am Aneignungskonzept zu orientieren, könnte diesbezüglich auch auf symbolisch-diskursive Politiken gesetzt werden, die eher darauf aus sind, die dominante Position z. B. zu ironisieren, zu diskreditieren oder zu verUneindeutigen. Ein an Heteronormativitätskritik orientiertes Verständnis queerer Politik, das die Aufmerksamkeit auf die Funktionsweisen normativer, d. h. aktuell weißer, monogamer, reproduktiver Heterosexualität richtet und deren Hierarchisierungs- und Normalisierungsmechanismen zu unterbrechen trachtet, kann sich nicht auf eine einzige Strategie beschränken oder würde darin viel zu durchschaubar werden, als dass es gelingen könnte, hegemonialen Aneignungsbewegungen zu entkommen.

Dennoch ist zu vermuten, dass Resignifikationen und Umarbeitungen ohne Aneignung nicht auskommen. Auch queer/feministisches Denken entgeht den Vorgaben der heteronormativen Ordnung nicht, sondern ist herausgefordert, mit vorhandenem kulturellem Material und den entsprechenden Wahrnehmungs- und Darstellungskonventionen transformatorisch zu arbeiten. Sprich, wenn es gelingt, Repräsentationen von Geschlecht, Sexualität und Begehren zu er/finden, die heteronormative Diskurse überwinden, ohne ihrerseits normative Anforderungen und Hierarchisierungen zu produzieren, so deshalb, weil vorhandenes kulturelles Material fehl/angeeignet und neuen Nutzungen zugeführt wird. Meinerseits möchte ich in diesem Zusammenhang über die Aneignung und Umarbeitung hinaus eine Strategie der VerUneindeutigung vorschlagen. [4] Ich führe sie als Alternative zur Vervielfältigung oder Auflösung von Kategorien ein, die sich aus queerer Perspektive als unbefriedigend erweisen, da eine Strategie der Vervielfältigung der Geschlechter dem Identitätsprinzip verhaftet bleibt und nicht geeignet ist, Hierarchisierungen abzubauen, während die Perspektive der Auflösung von Geschlecht einen abstrakten Universalismus befördert, der die Kritik von Machtrelationen wie auch den Kampf für Unterschiedlichkeiten unterläuft. Demgegenüber setze ich auf die VerUneindeutigung als eine gezielt identitätskritische, anti-klassifikatorische und anti-normative Strategie.

Die VerUneindeutigung knüpft insofern an Aneignungsbewegungen an, als sie ihren Ausgangspunkt in hegemonialen Repräsentationen und Praktiken findet. Sie manifestiert sich in Prozessen, die hegemoniale Formen verschieben, umarbeiten und reartikulieren. Sie kann beispielsweise durch Verzicht auf eine Markierung erfolgen, wo eine Markierung erwartet wird. Oder durch das gleichzeitige Aktivieren diverser, einander widersprechender Geschlechterkonnotationen. Sie zeigt sich in aktiven Fehlaneignungen eines Identitätsdiskurses, die dessen Instabilität oder Inkohärenz hervortreten lassen. Oder sie erfolgt dadurch, dass Geschlechterimaginationen in so rapider Geschwindigkeit aneinandergereiht werden, dass keine kohärente Bedeutung mehr hergestellt werden kann. Deutlich wird bei der VerUneindeutigung das Ineinandergreifen von Bedeutungsproduktion und Wirklichkeitskonstruktion: Als eine semiotisch-rhetorische Strategie mündet sie in Materialisierungen, die klassifikatorische Logik, kategoriale Fixierungen und substanzialistische Verständnisse von Geschlecht und Sexualität unterminieren - wobei sie den Geschlechtskörper gerade nicht ausnimmt. Denn einem Verständnis der Subjektivität als unabschließbaren Prozess und als immer schon KörperSubjektivität zufolge findet die Reartikulation keine Grenze an den Körpern, sondern erfasst diese durch die irreduzible Verflechtung semiotischer, materieller und imaginärer Prozesse. Sie unterstützt damit das feministische Anliegen, die polare Entgegensetzung von Kultur-Natur, Subjekt-Objekt, innen-außen in Bewegung bringen, indem sie das Zusammenspiel physisch-materieller Dimensionen von Körper und Geschlecht mit symbolisch-kulturellen, psychischen, sozialen und interaktiven Dimensionen zu nutze macht. [5]

Kritisch gilt es jedoch zu fragen, inwiefern die Strategie der VerUneindeutigung kompatibel ist mit neoliberalen Konzepten der Flexibilisierung und Individualisierung, im Zuge derer die These von der Konstruiertheit in eine Norm der eigenverantwortlichen, nutzenorientierten Gestaltung von Geschlecht und Sexualität übersetzt wird. [6] Oder spezifischer auf das hiesige Thema bezogen: Inwiefern hintertreibt die VerUneindeutigung auch den Aspekt der Aneignung im Sinne einer Verfügungsmacht - sei es über symbolische oder materielle Ressourcen? Ist die VerUneindeutigung geeignet, die Logik des Besitzes zu irritieren, die dem Konzept der Aneignung eingeschrieben ist? Denn während einerseits antikapitalistische Aneigungspraktiken als effektive Umverteilungspolitiken gefeiert werden, bleibt die Vermutung doch, dass damit die Prinzipien von Ausschluss, Einschluss und Privilegierung nicht unterbrochen sind. Im Kontext der Queer-Bewegungen zeigt sich dies darin, dass die postulierte Offenheit des Konzepts queer von unterschiedlichen Machtpositionen sehr unterschiedlich genutzt werden kann, was nicht zuletzt den Vorwurf begründet, die Positionen von Queers of Color seien hierbei einer enteignenden Aneignung unterworfen worden. [7] Auch Konzepte, die auf Marginalisierungen oder Entwertungen verweisen, bleiben mit den dominanten Macht- und Normalitätsverhältnissen verflochten. Damit entkommt, wie Jasbir Puar sehr überzeugend zeigt, beispielsweise auch eine queere Aneignung der "Diaspora" der Verwicklung in Nationalismen nicht; doch zugleich ergibt sich gerade aus dieser Verwicklung ein Potential, die Nationalismen zu queeren. [8] Entscheidend bleibt also die Frage: Kann es ein Aneignen geben, das die Subjekt/Objekt-Logik sprengt, statt lediglich das Subjekt des Verfügens auszutauschen und das glücklich herrenlose Gut wieder unter die Fittiche einer neuen Besitzern/eines neuen Besitzers zu bringen?

[1] Butler, Judith: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995 [1993] (Berlin Verlag): 295f..
[2] A. a. O. 301.
[3] Engel, Antke: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation, Frankfurt/M. 2002 (Campus): 204ff..
[4] A. a. O. 2002.
[5] In diesem Sinne verbindet sie sich mit Jacob Hales These von der Multiplizität des Sex/Gender; vgl. Hale, C. Jacob: Lederlesben Boys und ihre Daddies. Anleitung zum Sex ohne Frauen und Männer, in: Haase, Matthias/Siegel, Marc/Wünsch, Michaela (Hg.): Outside. Die Politik queerer Räume, Berlin 2005 (b_books): 127-145.
[6] A. a. O. 199ff..
[7] Vgl. Ferguson, Roderick A.: Of Our Normative Strivings. African American Studies and the Histories of Sexuality, in: Social Text 84-85, Nos. 3-4, 2005: 85-100; Gutiérrez Rodríguez, Encarnación: 'Sexuelle Multitude' und prekäre Subjektivitäten. Queers, Prekarisierung und transnationaler Feminismus, in: Pieper, Marianne et al. (Hg.), Empire und biopolitische Wende. Die internationale Debatte im Anschluss an Hardt und Negri, Frankfurt/M. 2007 (Campus), S.125-139.
[8] Puar, Jasbir K.: Transnationale Sexualitäten. Südasiatische (Trans)Nation(alism)en und Queere Diaspora, in: Haase, Matthias/Siegel, Marc/Wünsch, Michaela (Hg.): Outside. Die Politik queerer Räume, Berlin 2005 (b_books): 105-126.

Dieser Artikel erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, "Aneignen", Sommer 2007.