Rattern der Nähmaschinen

Im Irak ist auch nach der Befreiung vom Baath-Regime die patriarchale Geschlechterordnung erhalten geblieben. Erst allmählich erschließen sich Frauen auf dem Land neue Freiräume.

Kifri muss einmal eine schöne Stadt gewesen sein. Mit einem prächtigen Bazar und alten Steinhäusern, umgeben von einem Hain aus Dattelpalmen, der in der kargen Halbwüste Schatten spendete. Doch diese Zeiten sind längst vorüber. Heute ist die Innenstadt halbleer, der Bazar besteht aus Schutthaufen. Viele BewohnerInnen haben der Stadt den Rücken gekehrt. Wo einst Geschäfte waren, sind Ladenfronten heute vernagelt. Viele Häuser sind zerstört oder verfallen langsam unter der gleißenden Sonne.
Zerklüftete, felsige Hügel säumen die Kleinstadt, die an der äußersten Grenze des von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Gebiets liegt. Bagdad liegt nur noch eine Autostunde entfernt. Auf den nahen Hügeln hatte die irakische Armee Stellungen postiert. Genau hier verlief die "rote Linie", die von Saddam Husseins Truppen seit der 1991 ausgehandelten halbautonomen Zone im Nordirak zwar nicht übertreten werden durfte, was diese
allerdings nicht daran hinderte, die Stadt mit Artillerie zu beschießen. Erst 2003, als Saddam gestürzt wurde, war der Kugelhagel zu Ende.
Seit drei Jahren ist nun Frieden eingekehrt. Anders als in den weiter südlich liegenden Gebieten ist die Sicherheitslage in Ordnung, kurdische Checkpoints kontrollieren an allen Stadteinfahrten den Personenverkehr. Und dennoch sind Frauen im Stadtbild selten zu sehen. Auch in Friedenszeiten ist die traditionelle geschlechtsspezifische Trennung des sozialen Raumes erhalten geblieben.

Frauen benötigen hier schon einen triftigen Grund, um die eigenen vier Wände zu verlassen. Das Kifri Women Centre, das von der deutsch-österreichischen Hilfsorganisation Wadi aufgebaut wurde, ist einer der wenigen Orte, wo Frauen unter sich sein können. Hier können sie sich in Ruhe treffen, Zeitschriften lesen und sich weiterbilden. Finanziert wird das Zentrum mit Spendengeldern von Wadi sowie durch Mittel der österreichischen Entwicklungszusammenarbeit, der Stadt Wien und des Weltgebetstages der Frauen. "Ich zeige den Frauen, wie man den Stoff schneidet und selbständig Kleider näht", erklärt Kabile Fate Huez. Sie misst den rot-weiß gemusterten Stoff von einer Rolle ab und schneidert daraus behände eine dishdasha, ein bodenlanges Hauskleid. Die anwesenden Frauen, die meisten zwischen zwanzig und dreißig, verfolgen die Handbewegungen aufmerksam. Am Ende des Kurses erhalten sie ein Zertifikat, das sie als Schneiderin ausweist. Sie wolle unbedingt nähen lernen, antwortet die zwanzigjährige Sana auf die Frage, warum sie hier sei. Auch Alphabetisierungs-, Computer- und Friseurkurse sind im Angebot. Und wer weiß, vielleicht wird auch Sana in Zukunft regelmäßig das Zentrum besuchen, wie viele der anderen Frauen.

Althergebrachter Traditionen kann man sich nicht einfach von einem Tag auf den anderen entledigen. "Als die Ärztinnen unserer Mobilen Teams im Nordirak die erste Umfrage über die Verbreitung von weiblicher Genitalverstümmelung in der Region Germian präsentierten, reagierten die kurdischen Behörden zunächst mit Abwehr", erzählt Mary Kreutzer von Wadi Österreich. Doch die irakischen Mitarbeiterinnen der NGO ließen sich nicht einschüchtern und initiierten die Produktion eines Aufklärungsfilmes über die schädlichen Folgen dieser Tradition. "Es bedurfte einiger Monate Überzeugungsarbeit. Heute wird unser Programm akzeptiert und auch die Frauenorganisationen der regierenden Parteien unterstützen uns nun", so Kreutzer. Denn ganz ohne die Zustimmung der lokalen Kräfte, und das sind vor allem die beiden in Irakisch-Kurdistan monopolistisch regierenden Parteien PUK und KDP, gehe nichts im Nordirak. Die erwähnte Studie der Nichtregierungsorganisation besagt, dass mindestens sechzig Prozent der Frauen und Mädchen in der Region Germian Opfer der leidvollen Praxis wurden.
In einem germianischen Dorf nahe Kifri ist es ausgerechnet der Muezzin, der über den Lautsprecher der Moschee die Frauen in die Dorfschule zu einem Treffen ruft. Heute wird hier jener Film, der über die gesundheitlichen Gefahren der Genitalverstümmelung (FGM) informiert, gezeigt. Der Tenor der interviewten Imame und Experten ist klar: Genitalverstümmelung sei unislamisch und daher verwerflich. Nach dem Film entsteht eine lebhafte Diskussion. "So ist nun mal unsere Tradition", sagt eine Frau. Die anderen widersprechen. "Wenn es schlecht für unsere Kinder ist und schlecht für ihre Gesundheit, dann werden wir damit aufhören", lenkt eine Teilnehmerin ein.
"Die Mehrheit akzeptiert, was wir sagen. Aber gerade die Älteren tun sich oft schwerer", erklärt Hero Nejib Samin nach der Filmvorführung. Die medizinische Assistentin ist überzeugt, dass ihre Arbeit einen positiven Einfluss hat.

Halabja ist eine Kleinstadt im äußersten Nordosten des Landes. Die schöne Landschaft - sanfte Hügel in saftigem Grün, schroffe Bergspitzen, hinter denen der Iran liegt - ist trügerisch. Die islamistische Terrorgruppe Ansar Al-Islam beherrschte Teile des Gebiets einen Gutteil der Neunziger Jahre, und von der Zeit davor zeugen Massengräber und Memorials. 1988 ließ Saddam Hussein die Stadt mit Giftgas bombardieren, bei den Angriffen kamen über 5.000 ZivilistInnen ums Leben. Aus der Stadt mit einem vielfältigen Kulturleben ist heute eine gesichtlose Ansammlung von einfachen Häusern und ungeteerten Straßen geworden. Halabja ist arm, sehr arm. Die soziale Unzufriedenheit entlud sich zuletzt bei Protesten Mitte März, just am Gedenktag der Giftgasangriffe. DemonstrantInnen setzten das Halabja-Memorial in Brand, nachdem sie zuvor von Sicherheitskräften an der Abhaltung einer Demonstration während der offiziellen Gedenkfeierlichkeiten gehindert worden waren.
Eines der wichtigsten Themen in der Region ist die Alphabetisierung von Frauen. 34 Prozent der Bevölkerung Kurdistans sind AnalphabetInnen - unter Frauen ist die Zahl vergleichsweise höher. Aufgrund von oftmaligen Vertreibungen konnten viele der Stadtbewohnerinnen die Schulausbildung nicht fortsetzen. "Die Frauen sind mit dem Haushalt und den Kindern beschäftigt und haben wenig Chancen auf Bildung", erklärt Jwan Husain, die Direktorin des hiesigen Frauenzentrums.
Fari ist vierzig Jahre alt. "Ich profitiere von dem Zentrum. Ich habe Nähen gelernt hier und mache damit weiter", erklärt sie. "Ich wollte ein Handwerk
lernen und nicht nur zu Hause herumsitzen." Fari spricht ein paar Wörter Englisch. "How are you" und "happy" gehören dazu, genauso wie der bedrückende Begriff "genocide". Sie hat fünf Familienmitglieder bei den Angriffen verloren. Ihr selbst gelang die Flucht in den Iran, später kam sie wieder nach Halabja zurück. Fast jede Familie hier hat Opfer zu beklagen, die Vergangenheit ist allgegenwärtig. Psychologische Behandlung für Traumatisierte gibt es hier nicht und auch die wissenschaftliche Aufarbeitung steckt erst in den Kinderschuhen.
Unter diesen schwierigen Bedingungen wolle man kleine Veränderungen in der hiesigen Mentalität bewirken, sagt Husain. "Das hier ist der einzige Platz, wo sich die Frauen treffen können. Es gibt keine anderen Plätze." Das Frauenzentrum, das nicht nur von Kurdinnen, sondern auch von Araberinnen und Turkmeninnen besucht wird, hat einen guten Ruf und das sei wichtig. "Die meisten Männer bringen ihre Frauen sogar mit dem Auto her", erzählt sie. Am besten, sagt Fari, seien die Parties hier: Da werde Musik gespielt und die Frauen könnten miteinander tanzen.
Im Inneren der kurdischen Gesellschaft tut sich etwas. Nach den Jahren des Terrors ist ein Leben in Sicherheit zum ersten Mal greifbar. Es wird wohl noch etwas dauern, bis auch Frauen ihre kleinen Freiräume erweitern können. Aber die Nähmaschinen rattern schon.

Dieser Artikel erschien in: an.schläge, das feministische Magazin,
www.anschlaege.at