Recht und Freiheit

Einigkeit und Recht und Freiheit Â… - so heißt es in der Nationalhymne der Bundesrepublik Deutschland. Steffie Spira, die einst in der DDR bekannte und in der "Wende" politisch wichtige Schauspiele

sagte in den achtziger Jahren einmal, die Deutschen hätten ein gestörtes Verhältnis zur Nationalhymne: "Die in der DDR spielen die Melodie, verschweigen aber den Text; die in der BRD singen die dritte Strophe und meinen die erste." Nun will ich hier unterstellen, dieser Text sei wörtlich gemeint: Denn dann liege darin eine Verheißung, daß die Freiheit mit dem Recht zu tun hat und die Einigkeit gestört wird, wenn dies nicht mehr der Fall sei. Allerdings war dies eine symbolische Zusammenfassung der Bedingungen, unter denen die DDR-Bürger in die Bundesrepublik eintraten.

Das ändert sich jetzt. Zuerst geschah das in der Außenpolitik. Bald nach den Umbrüchen in Europa und unter Hinweis auf die aufflammenden Bürgerkriege in Jugoslawien wurde erklärt, die Souveränität der Staaten, das Nichteinmischungsgebot und Gewaltverbot müßten zurücktreten hinter dem "Schutz der Menschenrechte". Die Achtung der souveränen Gleichheit der Staaten aber war der Kern der UNO-Charta, wie sie 1945 beschlossen wurde, und dies war zugleich die wichtigste Folgerung aus dem Scheitern der internationalen Ordnung von vor 1939. In der Zeit des Kalten Krieges hatte diese Regel ihre friedenserhaltende Wirkung entfaltet; nach 1990 sollte sie nicht mehr gelten. Die staatliche Souveränität sollte nur noch dann ihre Gültigkeit behalten, wenn die Menschenrechte eingehalten wurden.

Bei der Frage, wer die einhält, ergab sich etwa in Bosnien ein Problem. Gewaltakte und ethnische Säuberungen gab es von Seiten der Serben, der Kroaten wie der bosnischen Muslime. Der Westen entschied sich dann aber für eine Intervention gegen die Serben, im Kosovo ebenso und zugunsten der Kosovo-Albaner. Auch wenn am Ende zugegeben werden mußte, daß die NATO bei den Bombardierungen Serbiens letztlich nur die Luftwaffe der kosovarischen UCK abgegeben hatte, die - genau betrachtet - nicht weniger terroristisch war als die serbischen Nationalisten im Kosovo, soll der Vorgang am Ende mit einer Abtrennung des Kosovo von Serbien gekrönt werden - mit dem Segen der Europäischen Union und der UNO. Mal sehen, welche Folgerungen die Separatisten im Baskenland und auf Korsika daraus ziehen. Wesentlich ist hier: Nach 1990 wurden die Kriterien des Völkerrechts verändert, und die Entscheidung, wann denn interveniert werden soll und wann nicht, wird in das Belieben der Staaten gestellt. Sie entscheiden über Intervention oder Nicht-Intervention; genauer: Der Westen entscheidet über die Intervention des Westens, und zwar jenseits des UNO-Sicherheitsrates. Die NATO hat dies, unter eifriger Beteiligung Deutschlands, im Falle des Jugoslawienkrieges getan, und die USA, hier ohne die Deutschen, mit dem Überfall auf den Irak, dessen Preis das irakische Volk und auch die US-Soldaten jetzt als Blutzoll entrichten. In Deutschland kam in bezug auf den Jugoslawienkrieg noch hinzu, daß die damaligen Bundesminister Fischer und Scharping "Auschwitz" strapazierten, um Deutschland in diesen Krieg zu bugsieren. Am Ende läuft der "Wandel" des Völkerrechts auf dessen Abschaffung hinaus.

Das, was in den vergangenen Jahren bei der Demontage des Völkerrechts so erfolgreich funktioniert hat, soll jetzt unter Verweis auf die "innere Sicherheit" auch auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik ausgedehnt werden. Zunächst hatte Otto Schily, der Bundesinnenminister der früheren Koalition, angewiesen, daß dem Bundesnachrichtendienst und dem Verfassungsschutz durch die Banken Daten über Bewegungen auf Konten von Privatpersonen mitgeteilt werden mußten, die als Ausländer und mutmaßliche "Terroristen" eingestuft wurden. Als die Hartz-IVGesetze in Kraft gesetzt wurden, wurde dies auf eine Auskunftspflicht in bezug auf alle Bürger gegenüber Sozial- und Finanzämtern ausgedehnt.

Wolfgang Schäuble, der Innenminister der jetzigen Koalition, arbeitet nun an einer Änderung des Paßgesetzes. Die Polizei soll online Zugriff auf die digitalisierten Paßfotos der bei den Meldeämtern gespeicherten Bilder erhalten. Das soll auch bei den im Zusammenhang mit den neuen Reisepässen gespeicherten Fingerabdrücken Anwendung finden. Galt im bürgerlichen Rechtsstaat bisher die Unschuldsvermutung, geht es jetzt um die Daten aller Bürger - jede und jeder gilt nunmehr als potentiell verdächtig.

Das ist eine Abkehr von der Moderne: Bei der Heiligen Inquisition der Vormoderne galt der Rechtsgrundsatz, daß jeder Denunzierte verdächtig war, und dieser, um dem zu entrinnen, seine Unschuld beweisen mußte. Der bürgerliche Rechtsstaat hingegen ging von der Vermutung der Unschuld jedes Beschuldigten aus, die Beweislast liegt bei der Anklage.

Schäuble weist nun darauf hin, die Unschuldsvermutung gelte bei der Verfolgung von Straftaten, nicht aber bei der "Abwehr von Gefahren". Zu dieser im Interesse der "inneren Sicherheit" gehören nun der "Lauschangriff", die Ausweitung der Telefonüberwachung, die Verschärfung des Luftsicherheitsgesetzes, die Einführung und Nutzung des "biometrischen" Personalausweises, die Schleier- und Rasterfahndung, die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, die automatische Gesichtserkennung, die Nutzung von Mautdaten für die Fahndung, die Vorratsspeicherung von Telefon- und Internet-Daten. Jetzt findet eine erneute Umkehr der Beweislast statt; wie bei der Inquisition gilt jeder wieder als schuldig.

Der Publizist Heribert Prantl hat kürzlich darauf hingewiesen (Süddeutsche Zeitung, 21./22. April 2007), daß alle diese Instrumente im Ausländerrecht ausprobiert wurden: "Die Ausländer- und Asylpolitik war ein Menetekel - die Beschränkung der Individualrechte, die Vereitelung des grundgesetzlich garantierten Rechtsschutzes, wurde dort vorexerziert: Der Rechtsschutz im Asylrecht ist kaum noch existent; und im Ausländerrecht gelten Ausländer grundsätzlich als verdächtig. Die Unschuldsvermutung ist hier längst abgeschafft. Ausländer werden wegen Straftaten abgeschoben, ohne daß sie wegen dieser Taten verurteilt worden sind. Die ›Sicherheit der Bundesrepublik‹ genügt zur Rechtfertigung einschneidenster Maßnahmen. Das Bild vom potentiell gefährlichen Individuum, das den neuen Präventionsstaat kennzeichnet, wurde im Ausländerrecht konturiert - im allgemeinen Polizeirecht wird es nun koloriert und multipliziert. Immerhin ist damit dem Gleichheitsgrundsatz Genüge getan: Im neuen Präventionsstaat sind alle Menschen Ausländer."

Die Bundesregierung plant jetzt ein Gesetz, daß alle Verbindungsdaten von Internet-Nutzern und deren E-Mail-Verkehr sechs Monate gespeichert werden sollen. Auch das heimliche Durchsuchen des Computers von als "gefährlich" eingestuften Menschen soll rechtens sein. Bald allerdings stellte sich heraus, das erfolgt längst durch die Geheimdienste. Grundlage soll eine Dienstanweisung sein, die noch von Schily stammt - ohne gesetzliche Grundlage.

Im Star-Wars-Film, Episode 3, sagt Senatorin Padmé Amidala am Übergang von der Republik zum Galaktischen Imperium: "So geht die Freiheit zugrunde: Mit donnerndem Applaus." Die "Terrorismus"-Vermutung macht es hier und jetzt möglich. Die Abschaffung der Freiheit erfolgt mit den Mitteln des Rechts und schafft Uneinigkeit.

in: Des Blättchens 10. Jahrgang (X) Berlin, 14. Mai 2007, Heft 10

Erhard Crome: Recht und Freiheit; Murat Çakir: Willkommen im Club; Tota Li Thaer: Zurück zur Ordnung; Martin Nicklaus: Deutschleid erwacht, Heerke Hummel: Gläubiges Rätselraten; Wolfgang Sabath: Das 30-Prozent-Mißverständnis; Andreas Reimann: Peter Sylvester; Wladislaw Hedeler: Lydia Cederbaum; Jörn Schütrumpf: Der letzte Bolschewik; Hartmut Pätzke: Ein "inoffizieller" Künstler; Mathias Iven: Florenski lesen; Ove Lieh: Vorsicht, Natur!;
Henryk Goldberg: Willy, rück die die Kohle raus