Kampf um die Krippe

Man reibt sich verwundert die Augen: Da steht die CDU kurz davor, der SPD das Thema Frauen- und Familienpolitik abspenstig zu machen und damit auf breiter Front...

Man reibt sich verwundert die Augen: Da steht die CDU kurz davor, der SPD das Thema Frauen- und Familienpolitik abspenstig zu machen und damit auf breiter Front in die lang angepeilten liberalen, großstädtischen Wählermilieus vorzudringen, um dann schließlich doch die Ministerin zurückzupfeifen. So schob die Partei dem Bestreben von Ursula von der Leyen, bis 2013 zusätzlich 500 000 Krippenplätze zu schaffen, vorerst einen Riegel vor.

Worum geht es in der überhitzten Debatte, die sich weniger zwischen Union und SPD als vielmehr in der Union selbst abzuspielen scheint? Allen Beschwichtigungsversuchen zum Trotz um einen - vielleicht den letzten - Kampf zweier Weltbilder. Auf der einen Seite stehen die christdemokratischen Traditionsbataillone, von Bischof Mixa bis Fraktionschef Kauder, die das lang gewachsene Idealbild der Kleinfamilie mit Alleinernährer und Hausfrau verteidigen, und auf der anderen Seite die Truppen der Ursula von der Leyen, die für eine Modernisierung der Partei und ihre Anpassung an die ökonomischen Realitäten eintreten.

Eines ist beiden Seiten gemein: Sie führen permanent das Kindeswohl im Munde. In Wahrheit wird aber dieses Motiv im Kampf der beiden familienpolitischen Lager zumeist instrumentalisiert.

Denn wie verhält es sich tatsächlich mit dem Glück des Kindes in der vorgeblichen "Normalfamilie" - bestehend (in der Regel) aus dem treusorgenden Alleinverdiener-Vater und der Mutter als liebender Hausfrau? Zunächst gilt es mit dem Vorurteil aufzuräumen, es habe sich dabei je um die Normalform gehandelt. Stets waren die ihr Kind im heimeligen Zuhause musisch und sprachlich fördernden Bildungsbürger eher die Ausnahme denn die Regel. Nie machte die Alleinverdienerfamilie, schon aus finanziellen Gründen, das Gros aller Familien aus; sieht man vielleicht von einer Phase in den Anfängen der alten Bundesrepublik ab. Insofern spiegelt die gegenwärtige Debatte wieder einmal vor allem die Perspektive der gutsituierten Mittelschicht.

Aber selbst in dieser ist das heilige Familienbild, das derzeit noch einmal so vehement verteidigt wird, schon lange angekratzt. So hält ein wachsender Teil der Wissenschaft eine Betreuung allein durch eine Bezugsperson für keineswegs förderlich: "Wenn ein Kind mit der Mutter allein ist, bekommt es nur ein Drittel der für seine Entwicklung nötigen Ressourcen. Das zweite Drittel ist die Beziehung zum Vater und das dritte sind die Qualität der Partnerschaft und die sozialen Beziehungen mit anderen, etwa in der Kita oder der Verwandtschaft." Daraus folgt: "Man kann (...) das Aufwachsen des Kindes bereichern, wenn es in eine Einrichtung von hoher Qualität geht."1

Umgekehrt spricht vieles dafür, dass eine enge Bezugsperson allein den gestiegenen Anforderungen nach Kommunikation immer weniger genügen kann - ja, es vielleicht noch nie konnte. Denn schon immer war die Kleinfamilie ein kommunikativer Rückschritt, verglichen mit dem Erfahrungsräumen der Großfamilie. Auch das lässt immer mehr Menschen davon träumen, zu Mehrgenerationenhäusern zurückzukehren. In einem solchen nämlich konnten Kinder früher fast automatisch das Zusammenleben mit vielen Menschen, die unterschiedliche Interessen, Ansichten und Wissensschätze haben, lernen.

Faktisch aber zwingt die flexibilisierte Arbeitswelt heute nicht nur zu Doppelverdiener- Familien, sondern trägt auch zur weiteren Auflösung familiärer Strukturen bei - zunehmend wohnen Großeltern, Eltern und Kinder nicht mehr in derselben Stadt, geschweige denn in einem Haus. Kinder haben also heutzutage in aller Regel nicht mehr die Möglichkeit, zuhause so vielfältige Anregungen zu bekommen, wie es (teilweise) noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts der Fall war.
Das Glück von Mutter und Kind

Die Verteidiger des vermeintlichen Kindeswohls in der Kleinfamilie lassen jedoch noch einen zweiten Aspekt unberücksichtigt. "Die beste Erziehungsmethode für ein Kind ist, ihm eine gute Mutter zu verschaffen", wusste bereits Christian Morgenstern ("Stufen"). Heute wollen Frauen, wie viele Untersuchungen deutlich belegen, in der Regel beides: Kind und Beruf, bzw. die Freiheit und das Recht zu beidem. Also muss man, um das Glück der Kinder zu gewährleisten, beides ermöglichen. Denn eine ihren Beruf vermissende, unglückliche Mutter wird nicht so ohne weiteres eine gute Mutter sein. Auch das lehrt die Geschichte der Alleinerzieherfamilie und ihrer Kosten, der Langeweile und Frustrationen vieler Mütter. (Was keineswegs bedeutet, dass nicht andere Frauen in der ausschließlichen Mutterrolle Erfüllung finden können.)

Die meisten Eltern wünschen sich heute eine partnerschaftliche Aufteilung der Erziehungsarbeit. Trotzdem kehren viele notgedrungen zur traditionellen Rollenverteilung zurück - der Vater als Ernährer, die Mutter zuhaus. Denn infolge unzureichender Betreuungsalternativen müssen sie sich entscheiden, wer von beiden nach dem staatlich finanzierten ersten Jahr zuhause bleibt. Dass das Los dabei oft auf die Frau fällt, ist zumeist nicht ihrem Wunsch nach langjähriger Häuslichkeit geschuldet, sondern schlicht wirtschaftlicher Abwägung: Schließlich verdienen Frauen heute in der Regel noch immer weniger Geld als ihre Männer.

Sorgt die Gesellschaft nicht für bessere Betreuungsmöglichkeiten, wird sie deshalb auch weiterhin mit dem rechnen müssen, was von konservativer Seite als Gebärverweigerung aus Gründen der Selbstverwirklichung gegeißelt wird. Tatsächlich schwindet die Bereitschaft zur Mutterschaft, wenn den Frauen Verwirklichung in und durch Arbeit erschwert oder gar verunmöglicht wird. Wenn aber Erhalt und Ausübung einer (nach wie vor oft alternativlosen) Ganztagsstelle den Besuch einer Krippe erforderlich macht, wird die hinreichende Zahl an Krippenplätzen zur geburtsfördernden Maßnahme.

Während die Union nun erst einmal den "Bedarf" an Kinderkrippen in der Bundesrepublik prüfen will, ist diese Frage eigentlich längst geklärt: In einer jüngst veröffentlichten Studie ermittelte das Deutsche Jugendinstitut eine durchschnittliche Bedarfsquote von 36 Prozent bei Kindern unter drei Jahren. Demnach fehlen derzeit nicht nur 500 000, sondern 540 000 Plätze.2 Frau von der Leyen liegt also mit den von ihr geforderten zusätzlichen Plätzen keinesfalls über dem Bedarf. Damit würde dann insgesamt für gut ein Drittel aller unter Dreijährigen ein Platz zur Verfügung stehen, statt für derzeit nicht einmal ein Zehntel.
Angebot schafft Nachfrage

Hinzu kommt: Ist das Angebot erstmal da, wird es auch stärker nachgefragt. Das belegt eindrucksvoll das Land Sachsen-Anhalt. Mit inzwischen 566 Plätzen auf 1000 Kinder unter drei Jahren existiert dort das engste Betreuungsnetz.3 Gleichzeitig wünschen sich 65 Prozent der Eltern eine geeignete Betreuungsmöglichkeit, das sind doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Solange die Möglichkeit, sein Kind betreuen zu lassen, gegen Null tendiert, werden von vornherein eher andere Varianten - Großeltern, Tagesmütter oder eben dann doch die Ehefrau zuhause - erwogen, bevor man sich auf die frustrierende Suche nach einem nicht vorhandenen Krippenplatz macht.

Doch nicht nur das: Sobald es "normal" ist, dass Eltern auch ihre Kleinkinder in einer Kita betreuen lassen, fühlen sich beide - Eltern und Kinder - eben auch nicht mehr als exotische Ausnahme, die sich gegen den immer noch grassierenden "Rabenmutter"- Vorwurf verteidigen müssen. Zudem lässt eine gute Betreuungssituation Eltern die Zeit mit ihren Kindern offenbar aktiver und bewusster verbringen: Während zwei Drittel der berufstätigen Mütter, die die Betreuungsangebote vor Ort als ausreichend ansehen, angeben, sie würden genügend Zeit mit ihren Kindern verbringen, empfinden dies bei schlechter Betreuungslage weniger als die Hälfte so.4

In Frankreich, den Niederlanden, Belgien und vielen anderen Nachbarländern stehen heute schon - selbstverständlich als Angebot, nicht als Zwang - für Kinder ab acht Wochen Krippenplätze zur Verfügung. Es dürfte schwerfallen, allen kleinen Franzosen, Niederländern und Belgiern die Bindungsängste und psychischen Störungen nachzuweisen, vor denen derzeit bei uns immer wieder gewarnt wird.

Letztlich ist es ein Bündel von Faktoren, die soziale wie wirtschaftliche Situation der Eltern, deren Fähigkeit, ein liebevolles Zuhause zu schaffen und sich aktiv Zeit für ihre Kinder zu nehmen, und das sonstige soziale Umfeld, welches die Entwicklung von Kindern maßgeblich beeinflusst. Dabei spielen die Erwerbsarbeit der Eltern und die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche Rolle. Ganz in diesem Sinne forderte zu guter Letzt sogar die Europäische Kommission die Bundesrepublik auf, endlich die Kinderbetreuung zu verbessern und an den europäischen Durchschnitt anzupassen.
Konservative Rückzugsgefechte

All dies hätte die Unionsfraktion eigentlich veranlassen müssen, der Politik Ursula von der Leyens mit freudiger Zustimmung zu begegnen - und damit ihre aktuelle familienpolitische Dominanz weiter auszubauen. Doch das Gegenteil war der Fall: Statt einer Einigung über die erforderliche Finanzierung mit der SPD näher zu kommen, setzten sich die konservativen Bedenkenträger unter Führung von Fraktionschef Kauder in der CDU doch noch durch - weshalb Angela Merkel ihrem General anschließend gehörig den Kopf gewaschen haben soll. Mit Verweis auf den Koalitionsvertrag soll nun erst einmal - auf einem Familiengipfel von Bund, Ländern und Kommunen - der zusätzliche Bedarf an Betreuungsplätzen ermittelt werden.

Prompt kritisierte der Zentralrat der Katholiken die Halbherzigkeit der Union. Bei dem entscheidenden Treffen hätten sich "offenbar jene in der Union durchgesetzt, welche die Realität junger Familien immer noch nicht wahrhaben wollen." Der ehemalige christdemokratische Familienminister Heiner Geißler beklagte eine "strategische Dummheit ersten Ranges" seiner Partei: "Manche haben einen Rechenschieber statt einer politischen Strategie. Das ist keine strategische Meisterleistung, sondern das Gegenteil."5

Trotz dieser Denkblockaden dürfte es letztlich nur eine Frage der Zeit sein, bis sich Ursula von der Leyen auch in ihrer eigenen Partei durchsetzen wird. Denn faktisch hat ihre Politik die ökonomischen und gesellschaftlichen Modernisierungserfordernisse auf ihrer Seite. Denn was nutzt angesichts der vermeintlichen demographischen Katastrophe mehr als eine höhere Geburten- und Beschäftigtenrate?

Das wissen auch die familienpolitisch Ewiggestrigen wie etwa Bischof Mixa in ihrem verzweifelten Verteidigungskampf. Dieser brachte deshalb nicht nur das absurd denunziatorische Bild der Frau als "Gebärmaschine" ins Spiel, sondern stiftete gleichzeitig Verwirrung mit der Behauptung, die vielen Krippen und Kindergärten in der DDR hätten gar nicht zu einer höheren Geburtenrate geführt.

Das nun aber ist nachweislich falsch: 1989 lag die Geburtenrate in der DDR bei durchschnittlich 1,6 Kindern pro Frau, in der Bundesrepublik dagegen schon seit vielen Jahren lediglich bei 1,3. Nicht nur das umfassende und kostenfreie Angebot an Krippen, Kindergärten und nicht zuletzt Schulhorten, sondern eine ganze Reihe von Unterstützungsmaßnahmen machten die Entscheidung für - wenn, dann in der Regel zwei - Kinder leichter. So gab es seit 1976 ein voll bezahltes Mutterjahr, die Rückzahlraten staatlicher Ehekredite verringerten sich mit jedem Kind, bei Krankheit konnten die Eltern bis zu sechs Wochen im Jahr bezahlt zu Hause bleiben. Kinderkriegen war insgesamt "normaler", die Vereinbarkeit von Familie und Beruf leichter - bei allen Schwierigkeiten, die die Doppelbelastung vor allem für die Frauen mit sich brachte.6

Wem diese Reise in die deutsche Vergangenheit ideologisch zu belastet ist, dem mag ein Blick auf die Nachbarländer genügen, um zu erfahren, wie es auch in Deutschland mit dem Nachwuchs zukünftig besser laufen könnte. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat in einem Vergleich europäischer Länder festgestellt: Wo mehr Frauen arbeiten, wo die Gesellschaften reicher sind, wo der Grad der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen als hoch bewertet wird und, ja auch das, wo mehr Scheidungen gezählt werden - in diesen Ländern ist die Geburtenrate vergleichsweise hoch. So bekommen Frauen in Schweden, Finnland und Dänemark im Durchschnitt derzeit 1,8 Kinder.7

An diesen Erfolgen demographiegeleiteter Familienpolitik wird auch die Union auf kurz oder lang nicht vorbeikommen. Das weiß auch Ursula von der Leyen: Die Zeit spielt für sie. Wer deswegen jetzt das Bild eines "konservativen Feminismus" bemüht,8 sollte dagegen lieber genauer hinschauen. Sicherlich handelt es sich um eine Debatte innerhalb der Union, die den Bedürfnissen der Frauen nach Gleichberechtigung Rechnung trägt. Mit ein bisschen good will kann man deshalb von einem nachholenden Feminismus der CDU sprechen.

Dieser ist aber ersichtlich nicht konservativ, ganz im Gegenteil. Ungeachtet aller Beteuerungen von Kindes- und Frauenwohl, dürften die eigentlichen Triebkräfte der christdemokratischen Modernisierer woanders liegen. In erster Linie geht es um die Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die Erfordernisse des flexibilisierten Kapitalismus. Ganz in diesem Sinne hat das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft jüngst die Renditeerwartung besserer frühkindlicher Bildung berechnet. Und siehe da: Langfristig würden sich für den Staat höhere Bildungsinvestitionen mit rund acht Prozent rentieren, volkswirtschaftlich ließen sich gar 13 Prozent Rendite erzielen.9

Deshalb vor allem sind die gegenwärtig zu erlebenden letzten Kämpfe und Krämpfe der Konservativen innerhalb der Union gegen eine wirtschaftskompatible Modernisierungsstrategie letztlich zum Scheitern verurteilt. Die Mixas und Schönbohms dürften am Ende verlieren, weil die ihnen gegenüberstehenden Bataillone ob der marktwirtschaftlichen Notwendigkeiten schlicht stärker sind. Angela Merkel, die Frau aus dem Osten, hat das längst begriffen. Ihre Partei ist dagegen noch nicht ganz "so weit".

1 Der Psychologe Wassilios Fthenakis, in: "die tageszeitung", 21.2.2007.
2 Walter Bien, Thomas Rauschenbach und Birgit Riedel (Hg.), Wer betreut Deutschlands Kinder? DJI-Kinderbetreuungsstudie, Weinheim 2006.
3 Die Differenzen zwischen den Bundesländern sind enorm: In Bayern und NRW beispielsweise stehen je 1000 Kinder 21 Plätze zur Verfügung.
4 Vgl. www.familie-stark-machen.de/files/zeit_ fuer_kinder_web.pdf
5 "Spiegel Online", 7.3. und 8.3.2007.
6 Vgl. www.berlin-institut.org/pdfs/Kroehnert_ Ostdeutschland.pdf.
7 Vgl. http://www.berlin-institut.org/pdfs/emanzipation_ oder_kindergeld.pdf.
8 Mariam Lau, in: "Die Welt", 7.3.2007.
9 Vgl. www.iwkoeln.de
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2007