Viel Rhetorik um Europa und leider nicht viel mehr

Meßlatte Verfassung

Die Meßlatte für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft liegt in der Wiederbelebung des Verfassungsprozesses. Nachdem die Franzosen über eine/n neue/n Präsidenten/in entschieden haben, soll es langsam ernst werden mit dem weiteren Verfahren und den inhaltlichen Eckpunkten der Verfassung. Bis zum "Europäischen Rat" im Juni soll ein Vorschlag erarbeitet werden, der von allen Mitgliedsstaaten getragen werden kann. Wichtiger Eckpunkt wird der Gipfel der Regierungschefs Ende März sein, auf dem anlässlich des 50. Jahrestages der Römischen Verträge die "Berliner Erklärung" Auskunft über die Werte Europas geben soll. Es verfestigen sich aber mehr und mehr zwei Eindrücke:
1. Das Konzept der Regierung scheint sich auf den Charme der Kanzlerin zu beschränken. Von konzeptionellen Überlegungen ist nichts zu erkennen, technokratisches Kleinklein bestimmt Europa.
2. Die politische Elite glaubt allein mit der Rhetorik der sozialen Dimension alles glätten zu können. Die Europäische Kommission setzt unvermindert weiter auf Deregulierung und freien Wettbewerb, dies wurde an der im Herbst vorgelegten Außenwirtschaftsstrategie sowie an aktuellen Papieren zum Binnenmarkt deutlich. Die SPD will sich dafür stark machen, dass künftig alle europäischen Gesetzesvorhaben auf ihre sozialen Folgen geprüft werden.
Überwunden ist die Vertrauenskrise damit aber wohl kaum! Es fehlt weiterhin an der Bereitschaft, die selbst verursachte Krise Europas in ihrem Ausmaß zu erkennen und zu überwinden.
Pro-europäische Europakritik nötig
Die Ursachen für das Nein in Frankreich und den Niederlanden sind in den Blick zu nehmen. Der slowenische Philosoph Zizek bringt es auf den Punkt: "Die Elite stellte den Menschen eine Entscheidung anheim, die keine war; sie sollten das Unvermeidliche ratifizieren, das Resultat aufgeklärten Experten-tums. Die Medien und die politische Elite inszenierten die Wahl als eine zwischen Wissen und Unwis-senheit, zwischen Sachkenntnis und Ideologie." Gebraucht wird aber ein Leitprojekt, das ähnlich wie zuvor Binnenmarkt und Währungsunion die Entwicklung Europas für mehrere Jahren prägen muss. Es gilt an den Hauptmängeln anzusetzen: Der unterentwickelten sozialen Dimension und der Demokratielücke.
Die Erneuerung des Europäischen Sozialmodells ist in den Mittelpunkt zu stellen. Es braucht einen sozialen Stabilitätspakt in Europa. Dabei sollte an den historischen Erfahrungen der europäischen Natio-nalstaaten angeknüpft werden, dass der Markt zwar ein leistungsfähiger Mechanismus zur Koordinierung wirtschaftlicher Aktivitäten ist - aber dieser mit einer gerechten Verteilung der Wertschöpfung heillos überfordert ist. Ergänzungen und Korrekturen durch eine demokratisch legitimierte Politik sind auch auf europäischer Ebene unverzichtbar.
Über die Ratspräsidentschaft hinaus braucht es deshalb für die Linke eine engagierte europäische Programmatik und Praxis. Diese Aufgabe gilt es anzupacken.

Kai Burmeister arbeitet in der Grundsatzabteilung der IG Metall und ist Mitglied im Juso-Bundesvorstand.

aus: spw 154 v. 16. März 2007