Brecht 2006 – ein paar Vorschläge

Vortrag auf dem Kongress "er ist das einfache, das schwer zu machen ist - Brecht und der Kommunismus" im Oktober 2006 in Berlin (aus dem Sonderheft der Marxist. Blätter; dort alle Kongressbeiträge)


Brecht 2006 – ein paar Vorschläge

Von Manfred Wekwerth

Entschuldigen Sie, liebe Freunde von Brecht, dass ich gleich zu Beginn unseres Zusammenseins aus der Reihe tanze und auf einer wissenschaftlichen Konferenz, und zwar auf einer sehr wichtigen, Geschichten erzähle. Ich bitte also zunächst um mildernde Umstände, da ich Theatermann bin und kein Wissenschaftler (mein Freund Werner Mittenzwei nennt mich zu Recht nur einen „Liebhaber der Wissenschaften“). Auch will ich mir nicht den Zorn der linken Philosophie zuziehen, wenn ich hier – wie es postmodern heißt – „narrativ“ vorgehe. Ich berufe mich, wie man es immer tut, wenn man selbst nicht weiter weiß, auf Brecht. Und der sagte in einem der letzten Gespräche, das ich mit ihm hatte:

„Wir reden davon, dass der Kommunismus das Einfache sei, das schwer zu machen ist. Aber gerade, die der Kommunismus betrifft, unsere Freunde also, komplizieren immer wieder mein Theater und versuchen, es zu einem Ort der reinen „Gedanken-Produktion“ zu machen und messen dann auch noch seinen politischen Wert. Wenn sie „kritische Haltung“ hören, fällt ihnen vielleicht die „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ein, aber nicht Villon oder Shakespeare. Ein Unsinn. Das ganze Unternehmen unserer Spielweise ist eigentlich ‚naiv’.Wir erzählen mit unseren Aufführungen einfach Geschichten, eben die Fabel. Erkenntnisse, Ideen, Impulse können dabei herausspringen, aber unsere Sache ist das Erzählen von Geschichten, von merkwürdigen Begebenheiten, die das Publikum unterhalten und auch da Spaß machen, wo sie ernst sind.“

Brecht hatte in diesem Gespräch damals unversehens, sozusagen in einem Nebensatz – wie es bei ihm oft bei vorkam –, eine der wichtigsten Kategorien seiner gesamten Arbeit entdeckt, die er zwar immer schon praktiziert, aber so noch nie benannt hatte: die Einfachheit oder,wie er sagte, die Naivität. Und von diesem Gespräch damals will ich kurz erzählen.

Etwa zur gleichen Zeit, in der kürzlich ein Schauspieler mit dem Namen Bierbichler in einem Fernseh-Film, ich glaube, er hatte den Titel „Abschied von der Wahrheit“, von sich behauptete, er sei Brecht, und dumpf und unrasiert auf einem Steg am See in Buckow dasaß wie ein bayrischer Bauer, dem man die Kühe gestohlen hat, und der nun, auf seinen Bankrott wartend, über die Gründe seines Scheiterns nachdachte – saß ich mit einem anderen Mann gleichen Namens an eben demselben Ort. Der Mann war allerdings rasiert und war, obwohl er an einer Viruserkrankung litt, wieder von einer ungewöhnlichen Arbeitslust. So hatte er uns mitgeteilt, dass er beabsichtige, sich in nächster Zeit aus dem Theater zurückzuziehen („Wozu habe ich Schüler!“) um sich wieder ganz dem Schreiben zuzuwenden. An jenem Ort in Buckow übrigens habe ich damals auch nichts von jenen Nymphen bemerkt, die sich im Film in Gestalt sämtlicher Geliebten Brechts der letzten vierzig Jahre alle im Buckower Garten tummeln, denn außer Brecht und mir war zu dieser Zeit weit und breit kein Mensch zu sehen. Besson, den wir erwarteten, war noch nicht aus dem Urlaub zurückgekommen und Helene Weigel kam nur zu den Wochenenden heraus, um uns mit Geselchtem, Knödeln und Kaffee zu versorgen.Wir arbeiteten damals an der literarischen Vorbereitung der Uraufführung des Stücks „Die Tage der Commune“, jenes großen Gesellschaftsentwurfs, den Brecht 1948 in der Schweiz geschrieben hatte und nun bei seiner Ankunft in Berlin sozusagen als „Antrittsgeschenk“ mitbrachte.

Und bei dieser Arbeit, sicher auch veranlasst von meinem ständigen Drängen, hauptsächlich die politischen Probleme seines Stücks zu besprechen, befiel Brecht plötzlich ein unerwarteter Zorn:

Er habe sich schon lange gefragt, warum die Leute, die eigentlich Freunde sind, seine Theorie, die er ja gemacht habe, die bürgerliche Langeweile aus dem Theater zu vertreiben, um wieder echtes großes Theater zu machen, immer nur von der Theorie reden und nicht auch vom Theater.Als höre bei der Theorie die Welt auf. Aber da fange sie doch erst an. Anfangs habe er seine Formulierungen dafür verantwortlich gemacht. Aber je genauer seine Formulierungen, desto größer die Missverständnisse. Der wirkliche Grund liege offenbar bei ihm selbst. Er habe bei der Formulierung seiner Theorie eine ganze Hälfte weggelassen in der falschen Annahme, so etwas sei selbstverständlich: nämlich die Naivität, ohne die es keine Kunst gebe.

Brecht meinte damit nicht die simple Naivität, die das Denken ausschließt. („Das undifferenzierte Naive ist die Primitivität!“ ergänzte er sofort.) Brecht meinte jene Naivität, die dem Denken folgt. Die nicht das Gegenteil ist von Analyse, sondern sie voraussetzt. Kurz zuvor bei der Arbeit an dem Stück „Katzgraben“ von Erwin Strittmatter, das die revolutionäre Umwälzung auf dem Lande im damaligen Ostdeutschland behandelte, notierte er einmal nach einer Probe, die wir mit politischen Argumenten überladen hatten:

„Es ist nicht genug verlangt, wenn man vom Theater nur Erkenntnisse, aufschlussreiche Abbilder der Wirklichkeit verlangt. Unser Theater muss die Lust am Erkennen erregen, den Spaß an der Veränderung der Wirklichkeit organisieren. Unsere Zuschauer müssen nicht nur hören, wie man den gefesselten Prometheus befreit, sondern sich auch in der Lust schulen, ihn zu befreien. Alle Lüste und Späße der Erfinder und Entdecker, die Triumphgefühle der Befreier müssen von unserem Theater gelehrt werden.“

Eine richtige Erkenntnis, die eine Theateraufführung vermitteln soll, wird erst dann eine wirklich „richtige“ sein, wenn sie beim Zuschauer zugleich naive Haltungen auslöst. Zum Beispiel Neugier, Zorn, Freude, Protest, Zustimmung, Widerspruch, Bestätigung, Verwirrung, Aufatmen, Erschrecken, Empörung, vor allem Verwunderung. Erst solche naiven Reaktionen, die im Theater ja Genuss bereiten, vermögen aus dem „reinen Denken“ das von Brecht so geschätzte „eingreifende Denken“ zu machen. Es ist der Schritt vom Denken zum Handeln.

Auch Brecht selbst brauchte, wie er sagte, solche naiven Anstöße, „um sich wachzuhalten“. So erzählte er, wie er in Dänemark, um nicht der trügerischen Friedlichkeit der Landschaft vor seinem Fenster zum Opfer zu fallen, sich über sein Bett eine Liste gehängt hatte mit einer pedantischen Aufzählung von allem, was die Nazis ihm bei seiner Flucht gestohlen haben: eine Bibliothek mit soundsovielen Bänden; eine komplette Wohnungseinrichtung; ein Auto der Marke Steyr, noch gut erhalten; eine Erika-Schreibmaschine; drei Mützen, 20 Oberhemden usw. Dies immer schon beim Aufwachen vor den Augen war immer neuer Antrieb zu neuen Texte gegen die Nazis. Die Wut förderte bessere Argumente.

Um einen Sprung zu machen: mich verwundert, dass auch heute die ernstzunehmende linke Brecht-Forschung, die sich zugute halten kann, wieder viel Originales von Brecht zu Tage gefördert zu haben, den Begriff der Naivität, also Brechts letzte große Entdeckung, nicht recht wahrnehmen will oder sogar ausklammert. Man spricht zwar auch dort von dem erstaunlichen Phänomen seiner „Einfachheit“ und von der zwingenden „Verständlichkeit“ seiner Texte, aber man spricht davon wie von einer bewussten Vorgehensweise, von einem mehr taktischen Verhalten. Als würde Brecht sein hohes poetisches und politisches Niveau in „die Einfachheit stecken oder verstecken“, um sich so den einfacheren Leuten verständlicher zu machen.

Das erinnert weniger an Brecht als an Johann Christoph Gottsched, berühmt durch seine Verbannung des Hanswurst von der deutschen Bühne. Denn Gottsched sah in einfachen Geschichten die Möglichkeit, dass auch der Analphabet die Moral versteht.

Ich halte Naivität bei Brecht nicht für eine taktische Vorgehensweise, sondern für eine elementare Befindlichkeit. Für ein konstituierendes Moment seiner Produktivität, seines Denkens und vor allem seiner selbst. Doch zurück zu dem Gespräch im Herbst 1956.

Am 8.August waren wir mit unserer Arbeit an den „Tagen der Commune“ ganz gut vorangekommen und Brecht schlug vor, die Zeit bis zum Mittagessen noch ein wenig mit Reden herumzubringen. Eisler, der an diesem Tag nach Buckow gekommen war, fand das „großartig“. Es hatte nämlich vorher zwischen ihm und Brecht einen Streit über die Verwendung der Musik in dem Commune-Stück gegeben. Eisler hatte, wohl um Brecht, wie er es oft tat, zu provozieren, geäußert, dass es Brecht in den Lieder-Texten zur Commune zum ersten Mal gelungen sei, „kulinarische Genüsse“ ohne Häme zu beschreiben. Brecht hatte sich darüber geärgert, „Die Tage der Commune“ seien doch wohl sein wichtigstes politisches Stück. „Gerade drum!“, hatte Eisler vergnügt gekontert und nannte als Beispiel das Lied von Père Joseph, der vor seiner Hinrichtung als armer Hund bei der Henkersmahlzeit auf Schnittlauch im Salat keinesfalls verzichten will: Ohne Genuss kein Essen! „Denn wozu leistet man etwas, dafür, dass man sich etwas leistet!“ Jetzt, so Eisler, sei für Brecht der Weg zum wirklichen Klassiker offen, denn zu einem Klassiker gehöre nicht Unachtsamkeit gegenüber sinnlichen und fleischlichen Genüssen, sondern deren Poesie.

Brecht war sich bei Eisler nie ganz sicher, ob der es ernst meinte. Deshalb war auch seine Antwort vorsichtig, obwohl er nichts gegen den „wirklichen Klassiker“ einzuwenden hatte. Er müsse sich wirklich mehr darum kümmern, dass man sein Theater nicht als Ort „geistiger Genüsse“ betrachte. Oder als Sammelbecken des „Denkerischen“. Sicher, mehr Vernunft auf der Bühne sei dringend vonnöten, aber nicht ohne Genuss! Man müsse überhaupt im Interesse der Vernunft mehr von Genuss reden.Von echten Genüssen. Und vor allem echte Genüsse beanspruchen, damit niemand auf den Gedanken käme, die neue Klasse sei, was die Sinne betrifft, knauseriger als die alte. Oder sie sei überhaupt nur da, die Menschheit zu befreien. Sie habe eine Mission, aber keine Mittel. Darum brauche es Verzicht. Das sei pfäffisch und man müsse im Gegenteil den Egoismus der Klasse wecken, sich nur so lange anzustrengen, wie sie auch in den Genuss ihrer Anstrengung gelange. Wie aber solle sie Genüsse anstreben, wenn sie sie gar nicht kenne? Weil sie ihr bisher konsequent vorenthalten wurden. Wenn sie aber erst entdecke, was man alles für sich selbst tun kann, falle auch für die anderen genügend ab. Die Arbeiterklasse müsse sich mit großem Anspruch selbst befreien, um auch die anderen um so gründlicher befreien zu können. Eine asketische Arbeiterklasse sei eine schwächelnde Arbeiterklasse.

Brecht gefiel der Gedanke von der „verschwenderischen neuen Klasse“ so gut, dass er – wie oft, wenn ihm etwas gefiel – zu einem Salto mortale ansetzte: Man müsse künftig nur noch Stücke schreiben, die Genüsse als Klassenkampf zeigen. Luxus als Kampfposten. Die Forderung nach Schnittlauch für den Salat als Klassenbewusstsein. Dabei sei es nicht so wichtig, solche Genüsse sofort zu bekommen, sondern sie als Genüsse überhaupt zu kennen. Denn wie solle man für etwas kämpfen, das man gar nicht kennt? Eisler, entzückt von dem, was er da ausgelöst hatte, schlug vor, sofort dem „Vorwärts und nicht vergessen“ des Solidaritätslieds eine neue Strophe hinzuzufügen. Dazu kam es allerdings nicht, denn Helene Weigel rief zum Mittagessen.

Am Nachmittag, Brecht kam erfrischt von seinem 30-Minuten-Schlaf zurück, kam das Gespräch noch einmal auf „politisches Theater“. Brecht war nicht glücklich darüber, dass man gerade seine Theorie benutzte, um nur das als politisches Theater gelten zu lassen, was das politische Thema auf der Bühne bringt. Allein das politische Thema aber bedeute auf der Bühne noch längst kein politisches Theater. Es könne sogar außerordentlich unpolitisch sein, wenn es zum Beispiel langweilig ist. Und Stücke, in denen Politik nicht vorkomme, könnten außerordentlich politisch sein. In seinem Stück „Die Kleinbürgerhochzeit“ falle kein einziges Wort über Politik und trotzdem sei es – bei richtiger Spielweise – eine direkte politische Kritik des Kleinbürgertums.Man entdekke das Kleinbürgertum, schmorend im eigenen Saft, als gefährlichen Feind der Revolution, das auch Funktionäre befallen könne. Für ihn sei politische Theater nicht das politische Thema, sondern vor allem die politische Haltung, die es einnimmt und die es auslöst. Eben die kritische Haltung, der Zweifel, der zur Veränderung führt. Und politisches Theater muss neben der Fähigkeit die Lust zur Veränderung erzeugen.

Auch in dem Stück „Die Tage der Commune“ sei es nicht hauptsächlich das politische Thema, das es zu politischem Theater mache. Die Forderung des jungen Arbeiters und Communarden Jean Cabet, nach dem Sieg der Commune trotz dringender politischer Aufgaben endlich Zeit für seine Liebe zu der Näherin Babette zu finden, sei mindestens so politisch wie die Eroberung des Pariser Stadthauses durch die Arbeiterbataillone. Es sei die Veränderung der Lebensweise der Menschen, schließlich würden Revolutionen deshalb gemacht.

In diesen letzten Gesprächen, erinnere ich mich, benutzte Brecht, um seine Arbeitsweise zu beschreiben, kaum mehr den Begriff des „Epischen Theaters“. Er war ihm, stammend aus den Zwanzigerjahren, zu sehr nur auf die Form bedacht. Auch „Dialektisches Theater“, einen späteren Begriff aus den Fünfzigerjahren, benutzte er nur kurze Zeit. Er war ihm wiederum zu „philosophisch“ und zu wenig das Ästhetische betreffend. Brecht sprach zuletzt – sehr vorsichtig allerdings – von „philosophischem Volkstheater“. Die Verbindung der anscheinend unverträglichen Gegensätze von Philosophie als einer hohen Form menschlichen Denkens auf der einen und der Naivität echten Volkstheaters auf der anderen Seite hatten Brecht schon immer gereizt. So beantwortete er die Frage nach seinen Lieblings-Lehrern zum Beispiel mit: „Karl Marx und Karl Valentin.“ Eine Analyse des „Philosophischen Volkstheaters“ blieb uns Brecht schuldig. Ich erinnere mich nur an eine Bemerkung, die ich mir am Rande notierte, als Brecht das Gespräch grinsend abschloss: „Warum soll man nicht auch mal den Weltgeist zum Entertainer machen, da muss er sich wenigstens mal sehen lassen.“ Das wollte ich hier sagen, damit Sie wissen, warum wir auf unserer Konferenz die wissenschaftlichen Beiträge ab und zu mit Geschichten von und über Brecht unterbrechen und dafür um Ihr Verständnis bitten.

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