30 Stunden-Woche - eine Utopie ?

Die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist momentan nicht das populärste Anliegen der Gewerkschaft. Warum sie dennoch eine Auseinandersetzung wert ist, erklärt Jörg Wiedemuth.

Die Forderung der Gewerkschaften und der politischen Arbeiterbewegung nach Verkürzung der Arbeitszeit ist eine Möglichkeit, die abhängig Beschäftigten am Produktivitätsfortschritt zu beteiligen. Die andere Möglichkeit besteht darin, einen Teil des von ihnen produzierten gesellschaftlichen Reichtums in Form von steigenden Löhnen und Gehältern zu verteilen. In der Vergangenheit gab es zwischen beiden häufig Kombinationen, aber auch Verständigungen, welche Forderung Priorität haben sollte und welche nicht.

Die Forderung, die Arbeitszeit zu verkürzen, ist aber auch immer mit Vorstellungen der politischen Teilhabe der abhängig Beschäftigten verbunden gewesen und auch mit Fragen der gerechteren Verteilung von Erwerbsarbeit und "Familienarbeit", und seit Einzug der Massenarbeitslosigkeit Mitte der 80 er Jahre mit der Vorstellung einer gerechteren Verteilung der Arbeit auf Erwerbstätige und Erwerbslose.

Die Verfestigung der Massenarbeitslosigkeit, flankiert durch eine Wirtschafts- und Steuerpolitik, die seit nahezu zwei Jahrzehnten ihr Heil in der Verbesserung der Gewinnbedingungen für die Unternehmen sucht und einer Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, die gleichzeitig die sozialen Sicherungssysteme schleift, hat zu einer deutlichen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeit und Kapital geführt.

Dies schlägt sich nieder in geringen Entgeltsteigerungen, die zu einem Reallohnverlust von nahezu 1 % gegenüber 1995 geführt haben. Und dies zeigt sich in einer schleichenden Verlängerung der tatsächlichen Arbeitszeit und zunehmend auch in einer Verlängerung der tariflich vereinbarten Arbeitszeit. Die 40-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit ist längst keine am Horizont drohende Größenordnung mehr, sondern vielfach bereits Realität.

Die Forderung nach der 30 Stunden-Woche - wenn sie mit dem Anspruch gestellt wird - aktuelle Politik beeinflussen zu wollen, muss sich vor dem Hintergrund dieser Auseinandersetzungsbedingungen bewähren.

Ver.di hat 2001 auf ihrem Gründungskongress den Auftrag zu einer arbeitszeitpolitischen Initiative formuliert. Diese Initiative hatte zum Ziel, die arbeitszeitpolitische Defensive aufzubrechen und Wege und Möglichkeiten zu entwickeln und zu beschreiten, Arbeitszeitpolitik wieder zu einem politischen und tarifpolitischen Projekt zu machen.

In Folge der Arbeitszeitinitiative ist Arbeitszeitpolitik für viele wieder zum Thema geworden. Arbeitszeitpolitik ist dabei auch differenzierter als Arbeitszeitverkürzung und Arbeitszeitgestaltungspolitik wahrgenommen worden. Gerade auch die Berücksichtigung der Geschlechterdemokratie hat dazu geführt, dass plakativ nicht mehr nur die reine Verkürzung der Wochenarbeitszeit gefordert wird, sondern Fragen der Mitbestimmung über die Lage und Verteilung, die Planung der Arbeitszeit und Fragen der Verteilung der Arbeitszeit im Lebensverlauf stärker in den Mittelpunkt gerückt wurden.

Auch die Hartnäckigkeit der Verteidigung der Arbeitszeitdauer, die in den wochenlangen Streikauseinandersetzungen 2006 eine wesentliche Rolle gespielt hat, zeigte, dass die abhängig Beschäftigten nicht ohne Weiteres bereit waren, eine Verlängerung der Arbeitszeit zu akzeptieren. Trotzdem sind wir von einem arbeitszeitpolitischen Aufbruch weit entfernt.

Im Herbst 2006 müssen wir sogar feststellen, dass wir von dem Ziel, die Tür zu einer Politik der weiteren Verkürzung der Arbeitszeit aufzustoßen, weiter entfernt sind als 2001. In den Tarifauseinandersetzungen im hinter uns liegenden Jahr ist es z.B. nicht gelungen, die 35-Stunden-Woche in der Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitenden Industrie zu verteidigen, auch im öffentlichen Dienst mussten verlängerte Arbeitszeiten für bestimmte Beschäftigtengruppen als Preis für den Erhalt des Flächentarifvertrages akzeptiert werden.

Der Anteil derjenigen, die glauben, durch Zugeständnisse bei der Arbeitszeitdauer ihren Arbeitsplatz im Betrieb retten zu können wächst eher als er schrumpft. Massenarbeitslosigkeit und Reallohnverlust sind nicht der Humus auf dem Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung gedeihen.

Wer die 30-Stunden-Woche wieder auf die Tagesordnung setzen will, sollte zumindest andeuten, wie dafür eine mobilisierungsfähige Mehrheit entstehen könnte.

Wenn es gelänge zu verhindern, dass die in einzelnen Tarifbereichen erfolgten Verlängerungen der Arbeitszeit zu einem allgemeinen arbeitszeitpolitischen roll-back würden -wenn es gelänge, das Arbeitszeitbewusstsein der abhängig Beschäftigten soweit zu schärfen, dass sie weniger Mehrarbeit leisteten , eine geschlechtergerechtere Arbeitszeitverteilung praktizierten und sich der Ausdehnung ihrer Arbeitszeiten in den Abend und auf das Wochenende entgegenstellten, wäre für die Wiedergewinnung einer arbeitszeitpolitischen Offensive mehr gewonnen als durch die erneute Beschwörung der 30-Stunden-Woche.

Diese Auseinandersetzung mit Kraft und Überzeugung zu führen ist allerdings dringend erforderlich.

Jörg Wiedemuth, Tarifpolitische Grundsatzabteilung ver.di