Steuern und Grundrechte: Das Recht auf ein Existenzminimum

Eine radikale Sozialstaatsreform - und das in der Bundesrepublik? Ein schon etwas älteres Gespenst geht wieder einmal um, zur Abwechslung kam es nach Deutschland - das Gespenst des Grundeinkommens.

 

"Alle Menschen sollen essen und wenig arbeiten!"
(Max Horkheimer)

Eine radikale Sozialstaatsreform - und das in der Bundesrepublik?
Ein schon etwas älteres Gespenst geht wieder einmal um, zur Abwechslung kam es nach Deutschland - das Gespenst des Grundeinkommens. In früheren Zeiten, so während der Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre, ist ein solches Projekt propagiert worden und hat Massen in organisierte Bewegung gebracht. Heute hat das Grundeinkommen Anhänger und Befürworter in so gut wie allen kapitalistischen Ländern der Erde; lokale Experimente damit wurden und werden immer wieder versucht - von Alaska bis Südafrika. Das wichtigste internationale Forum für die Debatte um das Grundeinkommen, das Basic Income European Network (BIEN), ist längst über seine europäischen Anfänge hinaus gewachsen. Alle zwei Jahre bringt es Befürworter und Skeptiker zusammen, darunter eine Vielzahl von gestandenen Politikern (nicht nur der Linken) aus aller Welt.1Was viele beunruhigt: Das Grundeinkommen ist kein lupenrein "linkes" Projekt - radikale Liberale, Anti-Sozialisten aller Couleur können sich damit anfreunden, während viele Anhänger der sozialistischen Linken Mühe haben, diesem "kapitalistischen Weg zum Kommunismus" (van der Veen und van Parijs 1986) zu folgen.

Wer von einem Grundeinkommen spricht, pocht auf Rechte, will die vorhandenen Bürgerrechte erweitern - weit über das hinaus, was wir im Moment mehr oder weniger selbstverständlich als Grundrechte betrachten. Es herrscht, wen nimmt es wunder, der Rechts-Positivismus: Was nicht in der Verfassung geschrieben steht, das gibt es auch nicht. Das Grundgesetz ist im Vergleich mit den Verfassungen Frankreichs oder Italiens besonders kurz angebunden und wortkarg, was die sozialen Rechte der Bürger angeht. Davon redet man lieber nicht zu viel, denn schon die mageren Anspielungen auf den Charakter der Bundesrepublik als Sozialstaat (sozialer Rechtsstaat), die sich dort finden, haben nach herrschender Lesart nur Begehrlichkeiten geweckt und das "Anspruchsdenken" gefördert. Im bundesrepublikanischen Kontext war und ist das Grundeinkommen daher ein Skandalon erster Güte: Es handelt sich um nicht mehr und nicht minder als um das Recht auf ein regelmäßiges Geldeinkommen vom Staat und das für jedermann und jedefrau ohne Unterschied. Bedingungslos soll es sein, wie jedes Bürgerrecht, oder eher schon wie eines der Menschenrechte, die auch in der liberalen Rechtstradition als mit der Geburt gegebene, "unveräußerliche " Rechte betrachtet werden.2

Im Vergleich der europäischen Sozialstaaten ist die Bundesrepublik nicht der Normalfall, schon gar nicht Spitze, sondern Extremfall; ziemlich mittelmäßig überdies, was das Leistungsniveau und die Effizienz betrifft.3 Kein anderes Land in Europa hat ein derart strikt auf Lohnarbeit, auf "normale" Beschäftigung im dauerhaften Vollzeitjob (möglichst immer beim gleichen Unternehmen) zugeschnittenes Sozialleistungssystem. Nicht "der Arbeitsmarkt" ist "unflexibel" in Deutschland, vielmehr macht das extrem "lohnarbeits-zentrierte" System der sozialen Sicherungen die Lohnarbeiter in Deutschland weit immobiler und "unflexibler", als sie es sein müssten. Weil alle sozialen Rechte in Deutschland so mühsam durch Lohnarbeit erworben sein wollen und weil alle nicht durch Arbeit und Beitragszahlen erworbenen Rechte seit jeher unter dem Generalverdacht des Schmarotzertums stehen, erscheint die Idee des Grundeinkommens hier zu Lande furchtbar radikal und weltumstürzend. Selbst gestandene Linke sehen schon das "Recht auf Faulheit" am Horizont und schütteln sich. Herr Schröder scheint mit seiner reichlich unpassenden Behauptung, es gebe nun mal kein Recht auf Faulheit und Basta (zumindest nicht in Deutschland unter Rot-Grün) eine bleibende moralische Wirkung erzielt zu haben.4 Verkündet worden ist das Recht auf Faulheit schon früher, von Paul Lafargue, MarxÂ’ Schwiegersohn, der es seinen linken Freunden vorhielt: Seht her, es gibt noch ein Leben jenseits des Achtstundentags, und in der neuen Gesellschaft soll es recht viel davon geben. Auch damals betrachteten nicht wenige die Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen, um im Jargon der Gegenwart zu reden, als Endziel der Arbeiterbewegung.5 Bei den Reaktionen auf derlei Skandalideen scheint regelmäßig die anerzogene bürgerliche Wirtschaftsmoral mit den braven Linken durch zu gehen: do ut des, keine Leistung ohne Gegenleistung, alles hat seinen Preis, ohne Fleiß kein Preis, Leistung über alles und so weiter im altbekannten Lied. Niemand, der in der liberalen und republikanischen Tradition Europas erzogen wurde, wird einem anderen Menschen das elementare Recht auf Leben bestreiten. Aber dies elementare Menschenrecht zu übersetzen in ein soziales und ökonomisches Grundrecht auf den Lebensunterhalt, d. h. aber auf ein Grundeinkommen, mit dem man in einer Marktökonomie auch überleben kann, das fällt uns schon viel schwerer. Denn der gute alte Kapitalismus hat uns auch seine spezielle Wirtschaftsethik eingebläut.6

So grundstürzend ist die Idee eines Grundeinkommens allerdings nicht, die weitaus meisten Staaten erkennen längst ein Recht auf ein Existenzminimum an. Es existiert als elementares Bürgerrecht in vielen Formen: vom Recht auf Sozialhilfe, immerhin nicht an die Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung gebunden, über die Pfändungsgrenzen bei Insolvenz bis hin zum steuerlichen Existenzminimum, das in der Lohn- und Einkommensbesteuerung und selbst in der Vermögensbesteuerung seit jeher verankert ist. Die weitaus meisten Sozialstaaten in Europa kennen darüber hinaus einige mehr oder weniger universelle, für alle Bürger geltende Sozialversicherungen, bei denen die für die Sozialversicherung - jedenfalls in den Köpfen ihrer bundesdeutschen Verteidiger und Verehrer - konstitutive Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung durchbrochen wird.7 Der wichtigste Bestandteil dieser Einrichtungen, die mit der fiktiven Versicherungslogik brechen, bilden die allgemeinen, nationalen Rentenversicherungen, die in vielen Ländern (Schweiz, Großbritannien, Schweden, Niederlande usw.) allen Bürgern, sogar allen legalen Einwohnern des Landes, eine gesetzlich garantierte Grundrente bieten. Sie werden aus dem allgemeinen Steueraufkommen und zum Teil aus speziellen Beiträgen aller Pflichtversicherten - d. h. aller legalen Einwohner des Landes mit Ausnahme der Erwerbslosen, Sozialhilfeempfänger und der Rentner selbst - finanziert; diese Beiträge sind vielfach in die Lohn- und Einkommenssteuer integriert, sie erscheinen nicht als "Lohnnebenkosten". Die niederländischen Volksversicherungen sind ein lehrreiches Beispiel, da sie das umfangreichste und differenzierteste System solch universeller "Bürgerversicherungen" (wie man in Deutschland sagen würde) darstellen, also einen Typ der Sozialversicherung repräsentieren, den es in vielen europäischen Ländern seit langem gibt - nur nicht in Deutschland.8 Kurz und gut: ein bedingtes, nicht bedingungsloses Recht auf ein "Mindesteinkommen" kennen viele kapitalistische Gesellschaften und bürgerliche Staaten seit langem.

Es steht daher nicht zur Debatte, ob ein Grundeinkommen denn möglich wäre, die Debatte kreist um die Frage, wie universell und wie "bedingungslos" ein solches Einkommen sein sollte und auf welcher Höhe es sich bewegen dürfte. Mit der Frage nach der Höhe des Minimums - wie viel Geld braucht ein Mensch zum Leben in einem kapitalistischen Land wie der Bundesrepublik? - erhebt sich sogleich die Frage, die in allen von wütenden Verteilungskämpfen geprägten Gesellschaften als die entscheidende gesehen wird: Wer sollÂ’s bezahlen? Das Wer und das Wie sind nicht zu trennen. Wer die lange Debatte um ein Grundeinkommen kennt, weiß nur zu gut: Ohne eine Steuerreform ist eine radikale Reform der sozialen Sicherung nicht zu machen (vgl. Krätke 1986). Die Parole Grundeinkommen hat nur als Aufforderung zur Reform des Sozial- und Steuerstaats an Haupt und Gliedern einen guten Sinn. Es geht um Geld vom Staat, "Staatsknete" hieß es bei den Spontis, als die noch jung und grün waren - und damit sind wir bei den Steuern.

Steuern und politische Bürgerrechte
Ein freier Mann zahlt keine (direkten) Steuern, er ist niemandem steuerpflichtig. Das ist die mittelalterliche Auffassung von politischer Freiheit. Wer Steuern zahlt, ist ein Unfreier. Eine Kopfsteuer zahlen, eine Steuer, die als persönliche Verpflichtung und Schuldigkeit betrachtet wurde, war gleichbedeutend mit der Unterwerfung unter die Gewalt eines Königs (oder "Staates") (vgl. Grapperhaus 1989, S. 38 ff.).

Als Bürger, d. h. als Mitglied einer (Stadt)Gemeinde, einer politischen Gemeinschaft "Gleicher", konnte ein freier Mann direkte Steuern zahlen. Aber nur als Beitrag zu den Lasten, die die Gemeinschaft als Ganze zu tragen hatte. Jahrhundertelang wurden direkte Steuern in Europa dem ganzen Gemeinwesen (Dorf, Stadt, Provinz) auferlegt und nach dessen vermutetem Reichtum veranlagt, nicht einzelnen Familien oder Personen. Sie wurden von der ganzen Gemeinde getragen und intern auf die Gemeindemitglieder umgelegt. Dem Staat gegenüber haftete die Gemeinde als Ganzes, Steuerschulden waren kollektive Schulden. Adel und Klerus waren nicht völlig steuerfrei, sie besteuerten sich von Fall zu Fall selbst, wenn sie von ihrem König dazu aufgefordert wurden, und so taten das auch die Bürger der "freien Städte" (die nur dem König oder Kaiser untertan waren). Sie genossen das Privileg, über die Steuerforderungen ihres König diskutieren zu können; sie mussten ihnen zustimmen und konnten über das Wieviel und Wie untereinander und mit dem König verhandeln.9 Im frühmodernen "Ständestaat" ging dies Privileg auf alle Stände bzw. deren Vertretungen über. Steuerpflichten waren daher Standespflichten.

Mit der "modernen" Wendung zum liberalen, bürgerlichen Staat, zur demokratischen Republik änderte sich das. Steuern zu zahlen, und zwar jeder für sich, aus dem eigenen Einkommen oder Vermögen, wurde zur ersten Bürgerpflicht. Steuern zu zahlen war die persönliche Pflicht jedes freien Mannes - für sich selbst und für die, die von ihm abhängig waren (Frauen, Kinder und andere Mitglieder seines Haushalts, die nicht als vollwertige Bürger galten). Die Republik im modernen Sinne sollte die gemeinsame Sache aller Bürger sein; jeder einzelne sollte seinen gerechten Anteil an den Lasten und Kosten des Gemeinwesens tragen. Jeder nach seinen Fähigkeiten galt für politisch gleich gestellte Vollbürger. Um Vollbürger zu sein, um mit zu bestimmen, musste man allerdings Steuerzahler sein. Steuern zahlen war ein Recht, ja eine Ehre für jeden Mann, der vollwertiger Bürger einer Republik sein wollte. Von jeder Steuer befreit waren nur Waisen, Witwen, Invaliden, Heimatlose, Obdachlose, Vagabunden - alle, die man nicht imstande achtete, für ihren eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. Vollbürger mit allen Rechten konnte nur werden, wer ein Minimum an direkten Steuern, sicht- und kontrollierbar für alle anderen, zahlen konnte.10 Das aktive und passive Wahlrecht wurde an den Steuerzensus gekoppelt.

Als diese neue Konfiguration politischer Rechte und Pflichten in der Republik zuerst öffentlich erörtert wurde, in den Sitzungen der französischen Konvents 1792, wurde vorgeschlagen, die ärmeren Bürger der Republik von jeder direkten Besteuerung zu befreien. Die Linke im revolutionären Konvent reagierte mit einem Wutausbruch auf diesen wohlgemeinten Vorschlag. Keine Bürgerschaft ohne Steuerpflicht, keine Besteuerung ohne Volksvertretung und Mitsprache der Besteuerten, keine wirkliche Volksvertretung ohne das Recht der Steuerbewilligung bzw. -verweigerung! In diesem Sinn war Maximilien Robespierres empörte Zurückweisung jeder Ausnahme der ärmeren Bürger von der direkten Steuerpflicht überaus bezeichnend für die neue Auffassung von Bürgerschaft und staatsbürgerlicher Gleichheit. Es wäre eine Schande und eine Beleidigung, die ärmeren Bürger mit Hilfe eines großzügig bemessenen Freibetrags von allen direkten Steuern zu befreien, es würde sie zu Bürgern niederen Ranges oder zweiter Klasse ("sous-citoyens") degradieren. Kurz, dieser Vorschlag sei eine Beleidigung für das Volk und ein Versuch, die Demokratie zu reduzieren ("une insulte au peuple, un amoindrissement de la démocratie") (zitiert nach Jèze 1931, S. 456).

Die französische Revolution fand eine Lösung für das Problem, wie die Armen Vollbürger sein konnten, ohne direkte Steuern zu zahlen - in der allgemeinen Wehrpflicht. Alle wehrfähigen Männer sollten der Republik dienen und ihren gerechten Anteil zur gemeinsamen Sache beitragen, auch wenn sie zu arm waren, um direkte Steuern zu zahlen. 11 Mit der allgemeinen Wehrpflicht ließ sich auch die Forderung nach dem Wahlrecht für alle erwachsenen Männer begründen. Militärmonarchien wie das Deutsche Reich gewährten es auf dieser Grundlage.

Das Ideal der liberalen Demokratie war und blieb der kleine, schlanke Staat, die billige Regierung und Verwaltung, daher niedrige Steuern, Steuersenkungen für alle Bürger, wann und wo immer möglich. Genau das war (und ist) der Kern des "bürgerlichen Sozialismus ", den Marx verspottete: Die beste Steuer ist gar keine, oder noch besser, eine Steuer, die die Mitglieder der guten (oder besseren) Gesellschaft nicht zu tragen haben, weil sie sie vermeiden oder auf andere abwälzen können. Die beste Steuer ist die, die die anderen zu zahlen oder zu tragen haben. Ein Staat ohne Kosten, Abschaffung oder Abwälzung aller Abgaben und Steuern, ein Staat, den die Nichtbesitzenden bezahlen, das ist der Sozialismus, der dem Bürgertum gefällt (vgl. Karl Marx, S. 286).12 Vorausgesetzt, der Staat leistet nach wie vor das, was die guten Besitzbürger von ihm erwarten.

Steuern und Eigentumsrechte
Steuerstaat und Privateigentum hängen historisch und logisch eng miteinander zusammen. Privat und sicher ist Eigentum erst, wenn es gegen andere und gegen den Zugriff des Staates geschützt ist. Das Privateigentum beruht auf einer wirksamen und dauerhaften Beschränkung der staatlichen Steuergewalt.13 Der Staat soll seine guten Bürger nicht berauben, nicht enteignen, nicht ausbeuten: Dazu bedarf es klarer, gesetzlich definierter, vor Gerichten einklagbarer "Grenzen der Besteuerung". Die wichtigste Steuergrenze verläuft zwischen dem, was "besteuerbar" und dem, was nicht (mehr) "besteuerbar" sein soll, was daher unter allen Umständen für den Fiskus tabu ist. Solche Grenzen und Tabus bieten die Steuergesetze; sie sollen die guten Bürger vor der gefährlichen Steuergewalt schützen. Weil aber nur der Staat es ist, der ihr Eigentum vor anderen Privatleuten und vor dem Zugriff des Fiskus schützen kann, weil nur der Staat Steuergrenzen setzt und garantiert, beansprucht er Vorrang als Gläubiger, Vorrang für alle Steuerschulden. Der moderne Staat behält sich ein Recht auf Enteignung seiner Bürger vor - unter Vorbehalten (z. B. der Entschädigung). Er kann als Gläubiger Vorrang beanspruchen, weil er es ist, der als einziger das Recht jedes Bürgers, auch des Bankrotteurs mit Steuerschulden, auf seinen Lebensunterhalt, sein ökonomisches Existenzrecht garantieren kann. Das tut er, indem er im Schuld- und Haftungsrecht ein Recht auf den Lebensunterhalt, auf ein (gehobenes) Existenzminimum für jeden guten Bürger (und jeden Risiko tragenden bzw. gelegentlich Pleite machenden Kapitalisten) definiert und garantiert.14 Diese Form des gesetzlichen "Mindesteinkommens" für alle guten Bürger ist noch älter als das "Existenzminimum" in der Besteuerung (vgl. Krätke 1992).

Dass hinter der Besteuerung Raub, Plünderung und Konfiskation lauern, treibt die Liberalen seit jeher um. Um sein Eigentum vor dem räuberischen Zugriff des Staates zu schützen, sollte man es verstecken und den Fiskus möglichst im Ungewissen lassen über das Was, Wo und vor allem Wieviel, den Wert der eigenen Besitztümer. Daher die Neigung der Reichen, den armen Mann zu spielen. Daher der Standardeinwand gegen die moderne Form der direkten Einkommens- und Vermögensbesteuerung: Wer so etwas Unerhörtes einführen wollte, der müsste dem Fiskus erlauben, seine Nase sehr tief in die privaten Geschäfte und Angelegenheiten jedes einzelnen Steuerzahlers zu stecken. Das war ganz einfach unerlaubt und würde nie durchführbar sein, so die Ansicht der großen Mehrzahl der politischen Ökonomen im 18. und 19. Jahrhundert. (vgl. Neumark 1947; Steinmo 1993). In der Tat ist die Geschichte der modernen Einkommensbesteuerung nichts als die Geschichte eines langwierigen, erbitterten Kampfes darum, was der Fiskus über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse jedes einzelnen Steuerpflichtigen wissen müsste und sollte, um die Steuer fair, korrekt und effektiv veranlagen und erheben zu können, und was er besser nicht wissen sollte, um den guten Bürgern die Chance zum Steuerwiderstand zu geben. Kein Wunder, dass diese Geschichte voll fauler Kompromisse und wackliger Hilfskonstruktionen steckt - wie die Schedulensteuern nach britischem und französischem oder die Klassensteuern nach deutschem (preußischem, sächsischem, bayrischem) Vorbild. Von Anfang an enthalten die Gesetze über direkte Steuern Mindeststandards für ein "steuerfreies" Einkommen bzw. Vermögen, das den mehr oder minder anständigen Lebensunterhalt des Steuerbürgers gewährleisten soll. - einschließlich der von ihm über Familienbande ökonomisch abhängigen Personen. Also eine Art von "Recht auf ein Grundeinkommen" für Steuerzahler (also diejenigen, die gerade nicht "arm" waren), mehr oder weniger differenziert nach sozialem Rang oder Quelle des Einkommens, also nach den "Lebensstandards " der verschiedenen Stände und Klassen der bürgerlichen Gesellschaft.

Das Recht auf Leben(sunterhalt) - in seiner heutigen Gestalt
Als die modernen, integralen Einkommenssteuern in den 1890er Jahren ihren Aufstieg begannen - mit der formellen Scheidung von persönlichen Einkommenssteuern, Vermögenssteuern und Unternehmenssteuern -, waren die Steuersätze überall sehr niedrig. Sie lagen weit unterhalb der Schwelle von 10 Prozent, die im 19. Jahrhundert noch als "natürliche" Grenze jeder Besteuerung betrachtet wurde, die nicht zur Konfiskation ausarten sollte; in Deutschland gingen sie nicht über 4 Prozent des besteuerten Einkommens hinaus. Entscheidend war die Bestimmung und Bemessung des "besteuerbaren" im Unterschied zum "nicht-besteuerbaren" Einkommen. In dieser Hinsicht waren die ersten Formen einer integralen - d. h. alle Formen des privaten Einkommens zugleich erfassenden - Einkommenssteuer noch recht einfach gestrickt. Es gab nur eine Kategorie von nicht-besteuerbarem Einkommen - einen persönlichen Freibetrag für jeden Steuerzahler, nur leicht differenziert nach dem bürgerlichen Stand (verheiratet oder ledig) und der Zahl der ökonomisch von ihm abhängigen Personen, aber mitunter nicht einmal das. Tatsächlich begannen die ersten persönlichen Einkommenssteuern, die auf Dauer, nicht als reine Kriegssteuern eingeführt wurden, mit erstaunlich hohen Grundfreibeträgen. Zum Beispiel mit einem Grundfreibetrag in Höhe von $ 4 000 pro Jahr im Fall der US-amerikanischen Einkommenssteuer von 1913 (vgl. Witte 1985, S. 76 f).15 Jeder, der ein solches Steuergesetz machte, wusste genau, dass mit derart hohen Grundfreibeträgen nur sehr wenige Leute überhaupt in die Verlegenheit kommen würden, irgendetwas zu zahlen; die große Mehrzahl der Bürger bliebe de facto von der Steuer verschont. Ein derartiger Tarif machte die Einkommenssteuer populär - als Steuer nur für die "Reichen" und die "Super-Reichen". Aus genau dem gleichen Grund aber blieb sie eine recht bescheidene Einnahmequelle für den Staat und sie war bei den wohlhabenden Bürgern verhasst.

Daher wurde jedes Mal, wenn eine Erhöhung der Steuersätze oder die Einführung eines progressiven Tarifs auf die Tagesordnung kam, die Frage der Absenkung der persönlichen Grundfreibeträge - als einziges Mittel gegen eine "Klassen-Steuergesetzgebung" - vorgebracht. Steuergerechtigkeit wurde als Abwesenheit von offenen Steuerprivilegien und Allgemeinheit der Steuerpflicht für alle (guten) Bürger interpretiert; auch die Einkommenssteuer sollte für alle gelten. Mit steigenden Reallöhnen entstand eine Schicht von relativ gut bezahlten und stabil beschäftigten, qualifizierten Arbeitern; in wachsender Zahl fielen sie unter das Regime der Einkommenssteuer.

Die Einkommenssteuer wurde nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Massensteuer. Daher mussten die Normbeträge des "nicht-besteuerbaren" oder "steuerfreien" Einkommens (technisch: die Freibeträge) neu festgesetzt werden - nicht nur einmal, sondern immer wieder. Das System der Freibeträge wurde ergänzt durch eine Vielzahl von speziellen Kosten, die als steuerlich "abzugsfähig", d. h. als nicht oder nur in geringerem Maße besteuerbares Einkommen galten. Mit der Differenzierung der Grundfreibeträge nach Familienstand und Kinderzahl wurde in den Einkommenssteuergesetzen die Verpflichtung jedes guten Bürgers, für die von ihm ökonomisch abhängigen Frauen und Kinder zu sorgen, anerkannt. Das ökonomische Existenzminimum wurde also als minimales Familieneinkommen neu interpretiert.16

Progressiv sind die Einkommenssteuertarife erst recht spät geworden. Am stärksten wurden die Einkommenssteuern während des bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg erhöht. Während die nominalen Steuersätze stiegen, die Progression erheblich zunahm, wurden die persönlichen Grundfreibeträge gesenkt - nominal und real. Der Schreck über die unerhört hohen nominalen Steuersätze (mit Spitzensteuersätzen von über 60 und selbst über 70 Prozent in den kapitalistischen Hauptländern) wurde durch eine Vielzahl neuer, spezieller Freibeträge bzw. von der Steuer abzugsfähiger (absetzbarer) Ausgaben gemildert, die ebenfalls in der Nachkriegszeit überall eingeführt wurden. Einige davon, obwohl im Blick auf die Situation des Wiederaufbaus und der akuten Wohnungsnot konzipiert, erfreuen sich bis heute größter Beliebtheit - so z. B. die Möglichkeit, Schuldzinsen (Hypothekenzinsen, später auch Zinsen für Konsumentenkredite) vom besteuerbaren Einkommen abzuziehen. Die Steuertarife wurden dadurch komplizierter, aber auch gerechter, da sie den unterschiedlichen Lebensumständen der Steuerpflichtigen angepasst wurden.

Inflation und steigende Nominaleinkommen brachten ein weiteres Problem zu Tage. Bei unverändertem Tarif entwertete die Inflation das Existenzminimum, während steigende Nominaleinkommen dazu führten, dass immer mehr Leute mit bescheidenem, durchschnittlichem Einkommen progressiv besteuert wurden. Tarifanpassungen, immer zu spät, immer zu gering, konnten das nicht aufhalten. Die Grenze zwischen dem steuerfreien und dem besteuerbaren Einkommen verlor zusehends ihre ursprüngliche Funktion, die wirklich Armen (die arbeitenden wie die nichtarbeitenden) von der direkten Steuer zu befreien. Zwecks Inflationsausgleich wurden die wichtigsten Steuertarife regelmäßig angepasst, sogar indexiert. Aber auch damit verschwanden weder die "stille" Progression noch die schleichende Aushöhlung des Rechts auf ein steuerfreies Existenzminimum. 17 Die "stille" Progression brachte dem Staat reichlich zusätzliche Einnahmen aus der Lohn- und Einkommenssteuer, es war und blieb verlockend, den Inflationsausgleich zu verzögern und möglichst klein zu halten. Also stiegen die nominalen Existenzminima, blieben aber weit unter der offiziellen Armutsgrenze.

Die progressive Lohn- und Einkommenssteuer wandelte sich zur Massensteuer, als die sie nie gedacht war. Dank der stillen oder schleichenden Progression begann die alte Unterscheidung zwischen den Steuern der Arbeiterklasse und den Steuern der Mittelklassen sich aufzulösen. Millionen ganz gewöhnlicher Lohn- und Gehaltsempfänger wurden direkt und obendrein noch progressiv besteuert. Damit wurde auch der Katalog der Freibeträge und der vom steuerpflichtigen Einkommen "absetzbaren" Ausgaben erheblich erweitert; manche davon wurden speziell für proletarische Einkommenssteuerzahler geschaffen.

Als die Steuerprogression anfing, die Mehrzahl der Steuerzahler zu treffen, wurden einige unerwünschte, ja perverse Effekte sicht- und spürbar. Gleiche nominale Freibeträge (oder gleiche nominale Ausgaben, die vom besteuerbaren Einkommen "abgesetzt" werden können) in einem progressiven Steuertarif führen unweigerlich zu sehr unterschiedlich großen Steuerspar- oder Steuerentlastungseffekten für verschiedene Einkommensgruppen, für die unterschiedliche nominale Steuersätze gelten - je höher der nominale Steuersatz, den man zu zahlen hat, desto größer der Steuerspareffekt, den der gleiche nominale Freibetrag (oder vom steuerpflichtigen Einkommen absetzbare Betrag) hat. Bei Freibeträgen ist der Effekt in der Regel geringer als bei von der Steuer "absetzbaren" Ausgaben (soweit diese nicht pauschalisiert oder nach oben begrenzt werden), aber er ist da. Daher haben zum Beispiel die gleichen nominalen Kinder-Freibeträge sehr unterschiedlich große reale Steuerentlastungseffekte für einen durchschnittlichen Lohn- und Gehaltsbezieher und für einen überdurchschnittlich gut verdienenden Einkommenssteuerzahler. Offensichtlich ist dem Staat das "Recht auf Lebensunterhalt" für die Kinder der Reichen mehr wert als das formell gleiche Recht für die Kinder der Armen.

Um derlei Effekte zu vermeiden, sind die persönlichen Freibeträge, wenigstens in den Steuersystemen einiger kapitalistischer Länder in so genannte "tax credits" (Steuergutschriften/Steuerrückerstattungen) umgewandelt worden. Bei dieser Form wird nicht das besteuerbare Einkommen (die so genannte Bemessungsgrundlage) um einen Freibetrag bzw. um steuerlich absetzbare Kosten und Ausgaben reduziert, sondern die Steuerschuld, die rechnerisch zuviel bezahlten Steuern werden dem Steuerpflichtigen direkt ausbezahlt. Das kann ein für alle Steuerzahler gleicher Festbetrag sein - analog zu den Freibeträgen, das können auch Ausgaben in individuell sehr verschiedener Höhe sein, die ganz oder nur teilweise, bis zu einer Höchstgrenze von der individuellen Steuerschuld abgezogen und rückerstattet werden. Tax credit (wörtlich Steuerkredit) heißt das Ganze, weil der Fiskus die zu viel bezahlten Steuern nicht gutschreibt, sondern tatsächlich rückerstattet, z. B. in monatlichen Ratenzahlungen an die Steuerpflichtigen, bevor er die tatsächliche Höhe des Jahreseinkommens und damit die tatsächliche Höhe der Steuerschuld kennt. Es kann also vorkommen, dass einer zu viel an tax credits vom Fiskus erhält und seinerseits eine Rückzahlung leisten muss. Mit dieser Technik wird die Ungleichheit der Steuerersparnis, die bei Steuerprogression durch die Freibeträge und abzugsfähigen Ausgaben zustande kommt, korrigiert. Wenn es sich um Festbeträge handelt, bekommt jeder Steuerzahler den gleichen Nominalbetrag vom Fiskus ausbezahlt und wird um den gleichen Nominalbetrag entlastet.18 Das kann das offizielle Existenzminimum sein, also der Betrag, der unter allen Umständen steuerfrei bleiben soll, es kann aber ebenso gut eine direkte steuerliche Subvention (für Berufskosten, Fahrtkosten, Erziehungs- und Ausbildungskosten, Gesundheitskosten, für die Kosten einer Eigentumswohnung) sein, die von der Steuerschuld abgezogen und direkt ausgezahlt wird. Der Fiskus gewinnt dabei, da die Steuerersparnis bzw. Steuersubvention für die reicheren Steuerzahler deutlich abnimmt.

Mit dieser Technik lässt sich der Schritt zu einer Negativsteuer, d. h. einem Einkommenstransfer vom Fiskus zum Steuerzahler leicht vollziehen. Man braucht nur die pauschalisierten tax credits für Steuerzahler, die unterhalb einer bestimmten Einkommensschwelle bleiben, für nicht rückzahlbar erklären - auch dann, wenn die Steuerrückerstattung, sei es ein spezieller tax credit oder die Summe aller gewährten tax credits, höher ausfällt als die tatsächliche Steuerschuld. So lassen sich tax credits in direkte staatliche Einkommenssubventionen verwandeln, auch dann, wenn sie nicht vollständig und bedingungslos als eine nicht-rückzahlbare Subvention gewährt werden. Auch dann, wenn der Steuerzahler so wenig verdient, dass seine Steuerschuld kleiner ist als die definierten Mindesteinkommensbeträge für alle - bzw. die speziellen Subventionen für Berufs-, Fahrt-, Unterhalts- und Erziehungskosten für Kinder usw., die ebenfalls für alle gelten sollen - werden ihm die entsprechenden Beträge vom Fiskus ausgezahlt. Dann bekommen tatsächlich alle Bürger ein Mindesteinkommen vom Staat - die einen als Abzug von der Steuerschuld und Steuererstattung, die anderen als einen (in der Regel nicht rückzahlbaren) Einkommenstransfer, der in der Form des tax credits gezahlt wird. Obwohl diese Technik der tax credits oder Steuergutschriften wohl bekannt ist, wurde sie erst in jüngster Zeit zögerlich und inkonsequent angewandt, in einer kuriosen Mischung mit Freibeträgen und steuerlich absetzbaren Kosten.

Tax credits haben einen weiteren Vorteil, soweit sie ganz oder teilweise als nicht rückzahlbare Zuschüsse oder Einkommenssubventionen für die ärmeren Steuerzahler ausgestaltet werden. Sie schlagen eine Brücke vom Recht auf ein Existenzminimum, das als bedingtes Recht für alle direkten Steuerzahler gilt, zum Recht auf ein Existenzminimum, das in allen Sozialstaaten auch für vermögens- und einkommenslose Bürger gelten soll, die auf öffentliche Unterstützung angewiesen sind.

Armutsfallen
In den meisten Sozial- und Wohlfahrtsstaaten sind die Steuer- und die Sozialleistungssysteme nicht gut integriert. Die diversen Unter- oder Mindestgrenzen in beiden Systemen passen nicht zueinander, vor allem dort nicht, wo es keinen offiziellen Mindestlohn gibt, wie das in der Bundesrepublik noch stets der Fall ist. Das ist, technisch gesprochen, der Kern des Problems, das wir unter dem Namen der "Armutsfallen " oder auch der "Unterbeschäftigungsfallen" seit langem kennen. Wenn die wichtigsten Steuerbefreiungen wie die persönlichen Grundfreibeträge deutlich unterhalb des Niveaus der Armutsgrenze, unter den Normbeträgen von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld festgesetzt werden, ist die Falle aufgestellt (vgl. Pond 1980). Denn dadurch werden auch mit sehr geringen Eingangssteuersätzen Niedriglöhne in Netto-Arbeitseinkommen verwandelt, die unter oder nur knapp über den Einkommen von Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern liegen. Also schnappt die Falle zu: Der Schritt von der Sozialhilfe oder offiziellen Arbeitslosigkeit in eine niedrig bezahlte Beschäftigung bedeutet unter heutigen Bedingungen in den meisten Sozialstaaten der Welt einen finanziellen Verlust und keinen Gewinn. Je niedriger die Löhne im neuen Job, desto größer die Verluste, die sich aus dem Fortfall von Sozialtransfers und der Lohnbesteuerung ergeben. Im günstigsten Fall gelingt es den wieder arbeitenden Niedriglöhnern, in etwa das Realeinkommensniveau zu halten, das sie als Arbeitslose oder Sozialhilfeempfänger hatten; Lohnarbeit lohnt sich also für Niedriglöhner nicht - je größer der "Niedriglohnsektor" und je niedriger die dort gezahlten Löhne, desto mehr Arbeitslose bleiben in dieser Armutsfalle hängen.19 Der einfachste und effektivste Weg, um den ärmsten Steuerzahlern (den arbeitenden Armen), den (Langzeit- und jugendlichen) Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern gleichzeitig zu helfen, liegt auf der Hand und ist seit Jahrzehnten bekannt: Die persönlichen Grundfreibeträge - wenigstens die Summe aller persönlichen Freibeträge einschließlich der Familien- bzw. Kinderfreibeträge - müssen auf, besser noch deutlich über das Niveau der offiziellen Armutsgrenze, also der tatsächlich an Nicht-Arbeitende (Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger) gezahlten Sozialtransfers, angehoben werden.20 Je deutlicher der Abstand zwischen den persönlichen Grundfreibeträgen (noch besser den persönlichen Steuergutschriften - tax credits - für alle Steuerzahler, die die Freibeträge ersetzen sollten) und dem offiziellen Armutsniveau, d. h. den durchschnittlichen Sozialtransfers an Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose, desto eher wird die durch eine falsche Konstruktion des Sozialstaats verursachte Armutsfalle geschlossen.

Die Sozialversicherung fügt in den meisten Ländern eine Komplikation hinzu, die in der gleichen Richtung wirkt. Sozialversicherungssysteme sind mehr oder weniger zur gleichen Zeit eingeführt worden wie die moderne, integrale Einkommenssteuer, in manchen Ländern, z. B. in Deutschland, einige Jahre früher.21 Tatsächlich waren die Sozialversicherungen mit ihren für alle gleichen monatlichen Beiträgen die erste Form einer direkten Besteuerung auf Arbeitseinkommen, die größere Teile der Arbeiterklasse betraf, obwohl zu Anfang nur eine Minderheit damit zu tun bekam.22 Die meisten Sozialversicherungen operierten bei der Beitragserhebung mit einer Mindestgrenze, beruhten also auf einer nominal definierten Schwelle des "sozialversicherungspflichtigen " Einkommens. Damit sollten irregulär, unregelmäßig, prekär Beschäftigte, Unqualifizierte und Tagelöhner von der Sozialversicherung ausgeschlossen werden; also auch die Leute, die in den proletarischen Selbsthilfe-Organisationen nicht willkommen waren. Um diese unerwünschten Mitglieder fern zu halten, war es völlig ausreichend, die untere "Versicherungspflichtgrenze" noch unterhalb des Niveaus des steuerfreien Existenzminimums in der Lohn- und Einkommenssteuer festzusetzen.23 Obwohl sie immer wieder erhöht wurden, bleiben die unteren Versicherungspflichtgrenzen noch weit unterhalb der steuerlichen Grundfreibeträge und vertiefen dadurch die Armutsfalle. Solange wie man Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe bezieht, sind die meisten Sozialstaaten großzügig genug, um die Beiträge für die Kranken- und Rentenversicherung zu übernehmen - einige tun das sogar für Langzeitarbeitslose. Sobald man aber wieder einen bezahlten Job hat, ist man in dem Moment wieder völlig auf sich selbst gestellt, wo das Arbeitseinkommen die in den Steuer- und Sozialversicherungsgesetzen definierten Mindestschwellen übersteigt. Und das ist unter den bis heute gültigen Regelungen in den meisten Sozialstaaten schon sehr bald der Fall.24 Auch dieser Teil der Armutsfalle ließe sich auf einfache Weise schließen - etwa dadurch, dass das steuerfreie Existenzminimum in der Lohn- und Einkommensbesteuerung konsequent auch zum beitragsfreien Existenzminimum in den Sozialversicherungen erklärt würde.

Das Zusammenspiel von Einkommenssteuer und Sozialleistungssystem vertieft die Armutsfallen und bringt eine regelrechte "Unterbeschäftigungsfalle" hervor, die es vielen Arbeitslosen schwer macht, selbst im formellen Niedriglohnsektor wieder Fuß zu fassen und die es vielen arbeitenden Armen besonders schwer macht, aus ihrer Notlage heraus zu kommen. Nach heutiger Sozialstaatslogik sind vor allem die Sozialleistungen auf der unteren und untersten Ebene (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld) an eine strenge Bedürftigkeitsprüfung gebunden. Wer einen noch so lausig bezahlten, noch so prekären Job annimmt, tut dies auf eigene Gefahr, da ihm die Sozialtransfers gnadenlos und sofort gestrichen werden. Daher das viel beklagte Faktum, dass arbeitende Arme oft genug schlechter dastehen als Empfänger von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Aber der Fehler liegt im System des Sozialstaats, nicht bei den

Bill Jordan hat für Großbritannien schon Anfang der 1990er Jahre untersucht, wie der spezielle Teil der Armutsfalle, der sich aus dem Zusammenspiel von Lohn-/Einkommenssteuer und Sozialversicherung ergibt, die Leute, die in der Falle sitzen, zu komplizierten Überlebensstrategien zwingt (vgl. Jordan e. a. 1992, 128 ff.). Alle Studien zeigen: Die Opfer der Armutsfallen wissen genau, dass es in den bestehenden Steuer- und Transfersystemen nominale, klar definierte Einkommensgrenzen gibt, die man besser offiziell nicht überschreitet, will man nicht den Anspruch auf viele Sozialtransfers und/oder Steuersubventionen verlieren.

In den demokratischen Wohlfahrtsstaaten des globalen "Nordens" hat die offensichtliche Differenz zwischen den offiziellen Armutsgrenzen und der Definition des "steuerfreien" Existenzminimums (oder Grundeinkommens) für jeden Bürger nur selten irgendwelche Aufmerksamkeit erregt. Für die große Mehrzahl der Steuerzahler, die sich dieser Tatsache nicht bewusst sind, gibt es kein Problem, solange ihr persönliches Nettoeinkommen deutlich oberhalb dieser offiziellen Armutsgrenzen bleibt. Selbst die Erfahrung lang anhaltender Massenarbeitslosigkeit und einer technologischen Arbeitslosigkeit bzw. durch die internationale Konkurrenz und Mobilität des Kapitals bedingten Arbeitslosigkeit, die so gut wie jeden jederzeit treffen kann, hat daran nichts geändert. Es kann sein, dass die rasante Zunahme irregulärer und prekärer Formen der (Unter-)Beschäftigung in jüngster Zeit einen Bewusstseinswandel herbeiführt. Im Moment aber ist die erst wenige Jahre zurückliegende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes, die die Bundesregierung dazu verdonnerte, das Niveau des persönlichen Grundfreibetrages im Lohn- und Einkommenssteuertarif zumindest auf gleiche Höhe mit der offiziellen Armutsgrenze zu bringen, eine bemerkenswerte Ausnahme.25

Auf der Suche nach der machbaren Reform
Was Rechte wert sind, merkt man, wenn man sie in Anspruch nimmt. Das Recht auf ein Existenzminimum ist in den heutigen Wohlfahrtsstaaten an viele Bedingungen geknüpft und stets in Gefahr. Alle Sozialstaaten, auch die großzügig eingerichteten, behandeln ihre Armen unterschiedlich, in der hoch moralischen (und politischen) Ökonomie des Sozialstaats gelten arbeitende Arme mehr als Arbeitslose, Arbeitslose, die rasch wieder einen Job finden, mehr als dauerhaft Erwerbslose, die unter dem Generalverdacht des Schmarotzertums stehen.26 In dieser moralischen Ökonomie werden Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger nicht als Gleiche, als Bürger wie alle anderen anerkannt und behandelt; nicht was ihre persönlichen Freiheitsrechte oder ihre Privatsphäre betrifft, nicht was ihre Rechte als Privateigentümer angeht. Auch als Privateigentümer sind sie Bürger zweiter Klasse, deren Eigentum nicht den gleichen Schutz verdient wie das ihrer Geld verdienenden und (direkte) Steuern zahlenden Mitbürger. Sozialhilfeempfänger und andere unfreiwillige Mündel des Staats werden gezwungen, ihre Besitztümer zu verkaufen und den Erlös aufzuessen. Ihr Recht auf ein Existenzminimum gilt eben nur unter der Bedingung, dass sie nichts mehr haben, was sich noch zu Geld machen ließe.27 Sobald sie in eine der offiziellen oder inoffiziellen Problemkategorien (Langzeitarbeitslose, "Alte", d. h. über 45-Jährige, Unqualifizierte bzw. Leute, die den falschen Beruf haben) fallen, wird den Arbeitslosen klar gemacht, dass ihre erworbenen Rechte auf Lebensunterhalt - oberhalb des offiziellen Armutsniveaus - nur sehr bedingt gelten. Der Sozialstaat nimmt sich das Recht, ihnen fast alles zuzumuten und ihre "Freiheiten" auf dem Arbeitsmarkt (das Recht der freien Berufs- und Arbeitsplatzwahl, die Freizügigkeit usw.) stets drastischer zu beschränken. Indem die Sozialstaaten heute in Europa ihren Mündeln stets härtere Bedingungen stellen, machen sie ihnen klar, dass die versprochene "soziale Sicherheit" nicht für alle gilt - sie ist wieder zum Klassenprivileg geworden. Die ständige "Unsicherheit der Lebenslage", einst das wichtigste Kriterium der Proletarität, ist für eine wachsende Zahl von Sozialleistungsempfängern wieder da, ebenso wie für die wachsende Zahl der prekär Unterbeschäftigten. Das macht die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens attraktiv - als Ausweg aus der staatlich oktroyierten und verwalteten Armut und Unsicherheit.

Leider eignet sich das bedingungslose Grundeinkommen nicht für die Art der Reformpolitik, die in kapitalistischen Demokratien möglich ist.28 Jeder radikale Bruch mit dem bestehenden System der Sozialleistungen und -transfers wäre mit erheblichen Verlusten für eine Mehrheit von Lohnabhängigen und Sozialleistungsempfängern verbunden. Es sieht verlockend aus, alle rund 138 verschiedenen Sorten von Sozialleistungen im heutigen bundesdeutschen Sozialstaat durch eine einzige zu ersetzen - das Grundeinkommen oder "Bürgergeld" - und obendrein sich den größten Teil der heutigen Sozialbürokratie sparen zu können. Der Verwaltungsaufwand bei einem Bürgergeld, das für alle gleich ist und Monat für Monat, ein Leben lang ausgezahlt wird, ohne irgendwelche Fragen zu stellen, ist in der Tat minimal im Vergleich zu heutigen Sozialversicherungs- und Sozialhilfesystemen. Die Postbank oder das Finanzamt könnte das nebenbei erledigen. Aber gerade im bundesdeutschen Sozialstaat, dessen Konstruktion die vorhandene Ungleichheit der Arbeitseinkommen reproduziert und verstärkt, gäbe es viele Verlierer. Da die erworbenen Ansprüche gegenüber den Sozialversicherungen bis heute die mit Abstand wichtigste Form des "Vermögens" für die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen darstellt, käme der radikale Bruch mit diesem System, der Sprung ins Reich des Grundeinkommens für die Mehrheit der heutigen Sozialleistungsempfänger einer brutalen, schlagarten Enteignung gleich. Eine nicht unbedeutende und dank der fortschreitenden Ausbreitung prekärer und irregulärer Beschäftigung wachsende Minderheit würde bei einem möglichst raschen Übergang ins Reich der 800 oder 900 Û für alle, jeden Monat und lebenslang, profitieren; für die Mehrzahl der heute Armen und vom Sozialstaat Gedrückten wäre das eine Erlösung von alltäglicher bürokratischer Schikane. Neoliberale Ideologen schwärmen von dieser Radikalkur, weil sie wissen, dass die Klientel der Besserverdienenden den herkömmlichen Sozialstaat nicht braucht - sie ist mit privaten Versicherungen und privater Vermögensbildung weit besser bedient, und weil sie hoffen, auf diese Weise den verhassten Sozialstaat los zu werden. Sie lockt der Gedanke, mit dem Grundeinkommen zugleich sämtliche Sozialleistungen los werden zu können Und natürlich lockt sie die Gelegenheit, die Lohnnebenkosten los zu werden und gleichzeitig auch sämtliche Löhne und Gehälter mit einem Schlag um den Betrag des Grundeinkommens kürzen zu können. 29 Sozialdemokraten und Gewerkschafter in den meisten europäischen Ländern misstrauen der Utopie des Grundeinkommens, weil sie genau diesen radikalen Abbau des gesamten Sozial- und Wohlfahrtsstaats fürchten, für den das Grundeinkommen den Vorwand bieten kann. Zu Recht bezweifeln sie, dass sich der Rest des ökonomischen und sozialen Lebens schon von selbst, nach Marktlogik richten werde, wenn nur erst ein Grundeinkommen für alle gewährleistet und der übrige Sozialstaat aufgelöst wird.30

Alternativen zur Radikalkur sind möglich und werden seit langem diskutiert: Formen einer Grundsicherung, die nicht mehr bedingungslos und auch nicht mehr für alle zu haben wären, aber dafür denjenigen aufhelfen würden, die unter den heutigen Bedingungen die schlechtesten Lebenschancen haben. In Deutschland sind das die Kinder, die in absolut und relativ rasch wachsender Zahl in Armut aufwachsen müssen. In Deutschland wie in anderen europäischen Ländern sind das die Niedriglöhner sowie die Masse der prekär und irregulär Beschäftigten. Denen ist mit der Einführung eines Mindestlohns - wie in vielen europäischen Sozialstaaten seit langem üblich - und einiger zusätzlicher, bedingter Einkommenssubventionen, die auf die heute Einkommensarmen und "sozial Schwachen" zugeschnitten sind (Hilfen, nicht Beihilfen für den Lebensunterhalt und vor allem die Bildung und Ausbildung von Kindern) mehr und schneller geholfen. Das wäre eine Sozialreform nach RawlsÂ’schem Muster: Einigen, denen es nicht besonders weh tut, wird genommen, um denen zu geben, die gegenwärtig unter den ungünstigsten Bedingungen leben müssen. Die meisten Sozialstaaten in Europa funktionieren bisher anders und der bundesdeutsche in extremer Weise, nämlich nach dem Matthäus- Prinzip "Wer hat, dem wird gegeben". Jede Reformstrategie, die zunächst eine bedingte Grundsicherung für die heutigen Armen zustande zu bringen sucht, steht bei den Anhängern der Utopie des Grundeinkommens unter Generalverdacht. Ein Verdacht, der vom Zeitgeist getragen wird, da jede weitere, spezielle Sozialleistung, die auf bestimmte Gruppen von Bedürftigen zugeschnitten ist, mehr Verwaltung und Kontrolle bedeutet.

Allerdings kann man darauf bauen, dass es bereits eine ganze Reihe von solchen Teilreformen gibt, die an die vorhandenen Rechte auf ein Existenzminimum anknüpfen und wenigstens einige Sozialstaaten Europas auf den Weg hin zu einem Grundeinkommen gebracht haben. Bill Jordan und andere haben das schon vor längerer Zeit für Großbritannien konstatiert (vgl. Jordan e.a. 2000). In den letzten Jahren hat sich diese Entwicklung verstärkt: In Großbritannien hat die Labour- Regierung das System der tax credits reformiert, seit 1999 wurde das ältere System des Family Credit ersetzt durch den Working families tax credit (WFTC), eine steuerliche Subvention für Familien mit Niedrigeinkommen. Seit 2003 gilt ein neues System, die Kombination von Working tax credit (WTC), einer speziellen Steuersubvention für Niedriglöhner, und Child tax credit (CTC), einem speziellen tax credit, der Kinder vor der Einkommensarmut schützen soll.31 Diese tax credits wirken wie eine dauerhafte, zielgerichtete Einkommenssubvention für Niedriglöhner, besonders für Familien mit Kindern, die von Niedriglöhnen leben müssen; Selbständige mit kleinem Einkommen können die tax credits ebenso in Anspruch nehmen wie Lohnempfänger, es handelt sich nicht um eine direkte Lohnsubvention.32 Der Clou der Sache ist, dass die tax credits zwar in einem jährlichen Steuerausgleichsverfahren neu berechnet, aber bis zu bestimmten, gesetzlich festgelegten Einkommensschwellen nicht und darüber nur teilweise zurückgezahlt werden müssen, mit einer langsam steigenden "Anrechnungsrate". Der Zweck dieser komplizierten Übung besteht im Vermeiden der Armutsfalle, die zuschnappt, wenn ab einer bestimmten, im Regelfall sehr niedrigen Einkommenshöhe sämtliche Einkommenstransfers vom Staat mit einem Schlag wegfallen. Sobald man also mehr verdient als das steuerfreie Existenzminimum (oder einen gesetzlich definierten Mindestlohn), greift der Fiskus zu und entzieht der Sozialstaat seine Leistungen - das kommt einem Grenzsteuersatz von deutlich über 100 Prozent gleich, wohlgemerkt für Geringstverdiener! Auch nach konventioneller fiskalischer Weisheit ist das alles andere als gerecht. Für prekär beschäftigte Niedriglöhner, deren Einkommen um das Existenzminimum schwankt, aber auch für kleine Selbständige mit unsicheren, häufig schwankenden Niedrigsteinkommen ist eine solche Art der An- bzw. Verrechnung von Arbeitsverdiensten mit tax credits besonders wichtig: Die vom Fiskus überwiesenen Gelder werden nicht proportional um den jeweils hinzuverdienten Betrag gekürzt, sondern nur teilweise und allmählich. Der Abbau der nicht rückzahlbaren tax credits findet schrittweise statt, anders als im Fall einer reinen "negativen Einkommenssteuer". Nach konventionellen Maßstäben ist dies komplizierte Manöver erfolgreich, die Kinderarmut in Großbritannien ist seit 1997 um 1,5 Millionen zurück gegangen, die Erwerbsquote unter den allein erziehenden Eltern (weit überwiegend Frauen) ist deutlich gestiegen. Da tax credits nicht das Stigma der Sozialhilfe oder des Arbeitslosengeldes tragen, werden sie von mehr Bedürftigen in Anspruch genommen - obwohl nach wie vor 15 bis 25 Prozent der Anspruchsberechtigten auf die ihnen zustehenden Unterstützungen verzichten. Im Hartz-Deutschland sind die Quoten der nicht beanspruchten Sozialleistungen mehr als doppelt so hoch.33 Die britischen tax credit Systeme bewirken eine "Öffnung" der Armutsfalle, erleichtern Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern den Übergang zu einer niedrig (unterbezahlten) Beschäftigung im formellen Sektor.34 Man sollte sich jedoch hüten, von einem "britischen Modell" zu reden. Die tax credit Programme sind notwendig, weil in Großbritannien das Arbeitslosengeld bzw. die Sozialhilfe niedriger sind als in jedem anderem OECD Land. Die Maßnahmen der Blair-Regierung zur "Flexibilisierung" der Arbeitsmärkte durch zusätzliche, finanzielle "Anreize" haben keineswegs für mehr Beschäftigung gesorgt. Das britische "Beschäftigungswunder" hängt mit den extrem langen Arbeitszeiten - länger als in jedem anderen EU-Land - und mit der Expansion des öffentlichen Sektors zusammen; mehr als die Hälfte der rund 750 000 neuen Jobs im Lande, die in den letzten fünf Jahren entstanden sind, entfällt auf den öffentlichen Dienst, der Rest ist dank wachsender öffentlicher Aufträge an die Privatwirtschaft zustande gekommen, hat also mit einem "deregulierten" Arbeitsmarkt nichts zu tun.

Daher stehen alle eifrigen Reformer vor einem Problem. Im Prinzip, und technisch gesprochen, wäre sehr vieles machbar, um dem dringendsten Problem, der wachsenden Armut in den reichsten Ländern abzuhelfen.35 Viele der dringend notwendigen Aktionen würden uns tatsächlich einem Grundeinkommensregime näher bringen. Aber politisch gesprochen, ist die Fixierung auf das Fernziel, die Welt des bedingungslosen Grundeinkommens, in der es reale Freiheit für alle - mithin auch die reale Möglichkeit der produktiven Tätigkeit für alle - ebenso wie Muße für alle gäbe, eine unnötige Übertreibung, die der Reformaktion eher schadet als nützt. Dennoch können wir hier und heute schon sehr viel mehr als die konventionelle Weisheit der politischen Klasse, eingesponnen im modischen, neoliberalen Dogmatismus, wie sie ist, sich träumen lassen will. Auch mit Hilfe verhältnismäßig komplizierter Konstruktionen wie den Steuergutschriften (tax credits) anstelle der vorhandenen Mischung von Freibeträgen, von der Steuer absetzbaren Kosten und Sonderausgaben auf der einen, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe auf der anderen Seite. Wir könnten sogar die Armutsfallen zum größten Teil beseitigen. Wir könnten die vorherrschende Praxis der Sozialpolitik mittels Steuern bzw. Steuersubventionen zugunsten der Reichen und Superreichen beenden - mit Hilfe von fiskalischen Techniken, die kompliziert aussehen, nicht ganz einfach zu handhaben sind, einigen Kontrollaufwand erfordern, aber mehr steuerliche Gerechtigkeit im konventionellen Sinn bewirken können. Das wäre ein Reformpaket, das zu einem (bedingten und differenzierten, auf die Bedürftigsten zugeschnittenen) Grundeinkommen für viele, nicht für alle Bürger führen würde: In Deutschland ist ein erster Schritt mit der Erhöhung der Grundfreibeträge in der Lohnund Einkommenssteuer auf bzw. leicht über das Niveau der offiziellen Armutsgrenze schon getan, weitere müssen folgen. Als zweites muss ein Mindestlohn eingeführt werden, damit alle folgenden Reformschritte nicht zur Lohndrückerei missbraucht werden können;36 Mindestlöhne gibt es in vielen kapitalistischen Ländern seit langem, selbst in den USA, dem Wunderland der neoliberalen Ideologen; in vielen europäischen Nachbarländern (Großbritannien, Frankreich, Niederlande usw.) bestehen Mindestlöhne und spielen auch für die Bestimmung der Untergrenze von Sozialtransfers eine wichtige Rolle.37 Drittens müssen die Grundfreibeträge, die persönlichen und familienbezogenen Freibeträge sowie sämtliche steuerlich absetzbaren Kosten in tax credits (Steuergutschriften) umgewandelt werden; dazu gehört eine entsprechende Differenzierung - z. B. in tax credits für die Bezieher von Niedriglöhnen, tax credits für die Unterhalts-, Erziehungs- und Ausbildungskosten von Kindern, tax credits für Wohnungskosten, tax credits für Gesundheitskosten usw.38 Viertens müssen diese tax credits so ausgestaltet werden, dass sie die Armutsund Unterbeschäftigungsfallen tatsächlich vermeiden - es braucht eine hinreichende Differenzierung der tax credits, zugeschnitten auf bedürftige Gruppen von Einkommensarmen. Tax credits für Kinder und für allein erziehende Eltern hätten dabei in Deutschland absolute Priorität. Und es braucht tax credits, die erstens nicht rückzahlbar sind (auch wenn sie die Summe einer etwaigen Steuerschuld übersteigen) und zweitens nur teilweise auf etwaige Verdienste, die über das Niveau des Mindestlohns hinausgehen, angerechnet und entsprechend gekürzt werden - also großzügige "Teilanrechnungssysteme" für alles, was ein heutiger Bezieher von Arbeitslosengeld II hinzuverdient bzw. für alles, was ein Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor über den gesetzlichen Mindestlohn hinaus verdienen kann. Diese Teilanrechnungen können und sollten für verschiedene tax credits unterschiedlich ausgestaltet werden, so dass z. B. die tax credits für die Erziehung, Ausbildung und den Lebensunterhalt von Kindern bei steigendem Arbeitseinkommen der Eltern mit einer deutlich niedrigeren Rate gekürzt werden als andere.

Um all das aber tun zu können, um diese technischen Operationen politisch durchsetzen, ja nur sinnvoll erörtern zu können, wird man sich auf einen wirklichen Kampf einstellen müssen - den Kampf gegen die heute herrschende Ideologie, ja säkulare Religion der "Einfachheit", wonach "einfache" Steuern gerecht und jeder Schritt zur "Steuervereinfachung" ein Schritt zur Gerechtigkeit sei. Diese Ideologie hat zu dem Aberglauben geführt, dass steuerliche Gerechtigkeit nur mit Mitteln aus der finanzpolitischen Steinzeit - wie Kopfsteuer, flat tax und dergleichen - zu erreichen sei. Das Gegenteil ist richtig. Ein "gerechtes" Steuersystem ist kompliziert, eine "gerechte" Steuer nicht ohne einen differenzierten, hoch komplexen Tarif zu haben. Nach wie vor ist das Beste, was wir in absehbarer, kurzer Zeit erreichen können, eine erweiterte Version des alten und wohl etablierten Rechts auf ein Existenzminimum für alle guten Bürger und Steuerbzw. Beitragszahler. Dazu gehören auch die Armen, die Un- und Unterbeschäftigten sowieso. Nach wie vor befinden wir uns, unter der ungebrochenen Hegemonie neoliberaler Vorstellungen, in der paradoxen Situation, dass die politischen Rechte aller Bürger in der Regel respektiert werden und nicht zur Debatte stehen - es sei denn, eine andere gut bürgerliche Obsession, der "Sicherheitswahn", beherrscht gerade mal wieder die Szene -, während die Existenzrechte, die sozialen und ökonomischen Bürgerrechte so umstritten und angreifbar erscheinen wie nie zuvor seit dem Beginn der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung. Das ist ein Widerspruch, den eine bürgerliche Gesellschaft beklagen, aber nicht (auf)lösen kann. Jeder Versuch, den sozialen und ökonomischen Bürgerrechten den gleichen Rang zu geben wie den politischen und Ernst damit zu machen, richtet sich gegen die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, bringt den Widerspruch zwischen ökonomischer und sozialer Ungleichheit und formeller politischer Gleichheit zum Eklat.

Literatur
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Michael R. Krätke - Jg. 1950, Prof. Dr., Politologe, Universität Amsterdam, Mitherausgeber von spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft. Publikationen (Auswahl): Die Wiederentdeckung der Klassen (gemeinsam mit Veit- Michael Bader, Albert Benschop); Europa des Kapitals oder Europa der Arbeit? (gemeinsam mit Thomas Blanke, Pierre Bourdieu); Kleine Geschichte der Weltwirtschaft; Mut zur konkreten Utopie (gemeinsam mit Joachim Beerhorst, Kerstin Jürgens); Ökonomie ohne Arbeit - Arbeit ohne Ökonomie? (gemeinsam mit Alfred Krovoza, Hinrich Oetjen). Zuletzt in UTOPIE kreativ: Neun vorläufige Antworten auf neun schwierige Fragen, Heft 189/190 (Juli/August 2006).

1 Über die Aktivitäten des Netzwerks, das seit 1986 besteht, kann man sich auf der website der Organisation informieren: www.etes.ucl.ac.be/bien/bien.htm.

2 Bürgerrechte kann man verlieren, sie können aberkannt werden, wenigstens auf Zeit, Menschenrechte nicht. Das macht die Unterscheidung zwischen beiden interessant. Staaten können bestimmen, wer unter welchen Bedingungen zu den Bürgern gehört, nicht aber, wer ein Mensch ist. Die historische Erfahrung, dass Bürgerrechte wichtiger, aber auch prekärer sind als Menschenrechte, ist in der deutschen Verfassung verankert.

3 Die Spitzenposition im Blick auf Effizienz und soziale Gerechtigkeit nehmen nach wie vor die skandinavischen Länder ein.

4 Daneben lag er erstens, weil derzeit niemand etwas derartiges gefordert hatte. Auch ein sozialdemokratischer Bundeskanzler, zumal ein Ex-Juso, der stets und mit berechtigtem Stolz auf seine Abkunft aus kleinen Verhältnissen wies, hätte wissen müssen, dass auch Sozialhilfeempfänger arbeiten, allein erziehende Mütter mit Kindern sicher nicht weniger als die überbezahlten, übergeschäftigen Manager aus Schröders Bekanntenkreis. Und zweitens, weil es selbst unter seiner Regierung sehr wohl ein verbrieftes Recht auf Faulheit gab (und nach wie vor gibt) - nämlich für Vermögensbesitzer, insbesondere für Investoren, die weder arbeiten müssen noch sich für ihr Nichtstun bzw. ihre Nicht-Arbeit zu rechtfertigen haben. Ihr Eigentum befreit sie automatisch, ohne weiteren Rechtfertigungszwang, von jeder Arbeitspflicht. Mit diesem Recht auf Faulheit wäre es erst jenseits des Kapitalismus vorbei, wie auch ein Ex-Juso eigentlich noch wissen sollte.

5 Das Pamphlet "Recht auf Faulheit" hat Paul Lafargue 1883 in französischer Sprache veröffentlicht. Das war ein ernst gemeinter Witz und eine Provokation an die Adresse der Arbeiterbewegung, die sich im Kampf um den Achtstundentag, Lohnerhöhungen und Arbeiterschutz erschöpfte. Heute kann es gar nicht schaden, daran zu erinnern, dass das "Reich der Freiheit " erst beginnt, wo alle das Recht und die Möglichkeit haben, müßig zu gehen.

6 Da hat der alte Max Weber eben nach wie vor Recht, wenn auch das gemeinte Arbeitsethos keineswegs rein protestantischen und europäischen Ursprungs ist - die Grundidee stammt ohnehin von Marx, der mal wieder mit einer Fußnote Generationen von Soziologen in Schweiß gebracht hat.

7 Durchbrochen ist dies hehre Prinzip seit langem schon, auch in Deutschland: Sobald ein regelmäßiger Staatszuschuss aus allgemeinen Steuermitteln in die Sozialversicherungskassen fließt. Damit verlassen wir das Reich der bürgerlichen Gerechtigkeitsvorstellungen, in dem jeder nur bekommt, was und wofür er bezahlt hat, und zwar auf Heller und Pfennig, und jeder verdient hat, was er bekommt.

8 Sie heißen wirklich so (volksverzekeringen auf Niederländisch), sie sind von christdemokratischen, von der katholischen Soziallehre geprägten Politikern zusammen mit Sozialdemokraten eingeführt worden, und niemand regt sich darüber auf - obwohl der Wirtschaftsliberalismus als Partei in den Niederlanden weit stärker und deutlich rechtsradikaler ist als in Deutschland.

9 Ein derartiges Steuerprivileg - informell und illegal - genießen heute nur noch einige Großkonzerne, die mit dem lokalen Fiskus in der Tat verhandeln können - auch weil sie sich langwierige Prozesse vor den Finanzgerichten leisten können und über exzellente Steuerrechtsspezialisten verfügen.

10 Noch heute kennen einige Demokratien in Europa den Brauch, die Steuerlisten und die von jedem einzelnen gezahlten Einkommens- und Vermögenssteuern zu veröffentlichen. Das ist z. B. in Schweden der Fall, selbst in den USA war es einige Zeit im Schwang. In Deutschland wäre das schon eine kleine Revolution.

11 Man kann die Umwälzung der sozialen Rangordnung ermessen, die da stattfand, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es im mittelalterlichen Europa geradezu als das zentrale Privileg des Adels galt, dem König nicht mit Geld, sondern mit Blut zu dienen, also Kriegsdienst zu leisten, statt Steuern zu zahlen.

12 Der bürgerliche Sozialismus in diesem Sinne hat in jüngster Zeit einen wahren Siegeszug angetreten. Denn nach einer Serie von "Steuerreformen" in so gut wie allen kapitalistischen Ländern können sich die Reichen, genauer die privaten Vermögens- und Kapitalbesitzer, weitgehender Steuerfreiheit erfreuen. Der Staat, verschuldet, abgemagert, verschlankt, zum "Sparen" gezwungen, ist immer noch da - wie die große Mehrzahl der öffentlichen Leistungen. Die Staatsausgaben sind allem offiziellen "Sparen" zum Trotz in fast allen kapitalistischen Ländern unablässig weiter gestiegen - aber die Steuerlasten, die nach wie vor wachsen, tragen die anderen. Sie sind es auch, die für die Staatsschulden aufkommen müssen, von denen nach wie vor die "Reichen", d. h. die Besitzer der Staatsschuldpapiere profitieren. Alle Investoren, zumal die institutionellen Anleger, halten gerne Staatsschuldpapiere und kassieren die Zinsen dafür vom Staat - dem einzigen Schuldner, der dank universeller Steuerpflicht, dankeines gut funktionierenden Fiskus und dank einer Masse von Steuerzahlern, die keinen effektiven Steuerwiderstand mehr leisten können, nicht zahlungsunfähig werden kann.

13 Besteuerung heißt schließlich nichts anderes als Aneignung des Hab und Gut eines anderen - ohne jeden Austausch, ohne jede Gegenleistung.

14 Es findet sich definiert als "Pfändungsgrenze" im Insolvenzrecht. Seit dem 1. Juli 2005 ist das pfändungsfreie Existenzminimum in Deutschland (nach § 850c ZPO) für einen Alleinstehenden bei 989,99 EUR festgesetzt. Das entspricht einem monatlichen Bruttoeinkommen von 1 400 EUR und einem jährlichen Bruttoeinkommen von 16 800 EUR. Im geltenden Sozialgesetzbuch werden allerdings die Existenzminima für ein Ehepaar darunter und die für ein Ehepaar mit zwei Kindern nur leicht darüber - bei monatlich 1 555 EUR - festgelegt. Von einer einheitlichen Legaldefinition des Existenzminimums kann in Deutschland nach wie vor keine Rede sein.

15 Die während des Bürgerkriegs eingeführte Einkommenssteuer hatte dagegen einen Grundfreibetrag von nur $ 600.

16 Der so genannte Familienlohn ist eine recht späte und höchst künstliche Einrichtung in der politischen Ökonomie der kapitalistischen Länder, die durch die Sozialversicherung und die Einkommenssteuer, also durch den Staat (mit)geschaffen und (mit)bestimmt wird.

17 Mit der Wende zur Politik der "Haushaltskonsolidierung " um jeden Preis wurden die Indexierungen der Einkommenssteuertarife schleunigst wieder abgeschafft bzw. auf Eis gelegt.

18 Die auffälligste Veränderung für einen durchschnittlichen Lohnsteuerzahler besteht darin, dass er einen Teil seines Nettoeinkommens in Form von monatlichen Überweisungen vom Finanzamt erhält.

19 Zu der im internationalen Vergleich unsäglichen deutschen Diskussion um einen Niedriglohnsektor ist nur zu bemerken: Erstens gibt es den schon längst und er wächst rasant; zweitens wird dadurch - und vor allem in einem Land, das keinen offiziellen Mindestlohn kennt, wie ihn die meisten zivilisierten kapitalistischen Länder kennen - das ganze Problem der Langzeit- und Jugend-arbeitslosigkeit nur verschärft. Wer, wie etliche sozialdemokratische und grüne Vordenker, einen Niedriglohnsektor im Ernst propagiert, braucht dringend Nachhilfe in politischer Arithmetik, von Ökonomie ganz zu schweigen.

20 Gleichzeitig wäre der Entlastungseffekt für Steuerzahler mit geringem Einkommen weit größer als bei den mit viel Trara veranstalteten Senkungen der nominalen Eingangssteuersätze.

21 Die Anfänge der staatlichen Sozialversicherung in Deutschland fallen in die 1880er Jahre, die Einkommenssteuer wird gut ein Jahrzehnt später eingeführt - und es dauert noch einmal Jahrzehnte, bis sie auch die Lohnarbeiter trifft. Die deutsche Lohnsteuer datiertvon 1920, als zum ersten Mal ein direkter Steuerabzug vom Arbeitslohn eingeführt wurde - um den Lohnarbeitern das Steuerzahlen zu erleichtern.

22 Erst recht spät in der sozialstaatlichen Entwicklung kommt es so weit, dass die weit überwiegende Mehrzahl aller Lohnarbeiter in das System der Sozialversicherungen aufgenommen wird. In jüngster Zeit wird dieser Fortschritt mit der Ausbreitung irregulärer und prekärer Beschäftigungsverhältnisse wieder in Frage gestellt.

23 Bekanntlich dienen die oberen Versicherungspflichtgrenzen (im deutschen Sozialversicherungsjargon "Beitragsbemessungsgrenzen " geheißen) dem edlen Zweck, die Bezieher höherer, deutlich überdurchschnittlicher Einkommen aus der Verpflichtung zur Solidarität mit dem gemeinen Plebs der Beitragszahler zu entlassen und dem Geschäft der Privatversicherungen mit "sozialen " Risiken wie Krankheit, Alter und Berufsunfähigkeit zur Blüte zu verhelfen.

24 Die Intention der ersten rot-grünen Bundesregierung, die unterbezahlten Minijobs, die gerade wegen der gezahlten Niedrigstlöhne und der bestehenden Sozialversicherungspflichtgrenze aus der Sozialversicherung heraus fielen, in die Sozialversicherung herein zu holen, war völlig richtig. Leider führte die gesamte Reformoperation nur dazu, dass aus sozialversicherungspflichtigen Vollzeitjobs viele kleine, niedrigst entlohnte und prekäre Minijobs geschneidert wurden - in Deutschland stieg die Zahl der Teilzeitbeschäftigten.

25 Tatsächlich hat die Bundesregierung im Jahre 2005 das steuerfrei zu lassende gesetzliche Existenzminimum für Alleinstehende auf 7 356 EUR pro Jahr, für ein Ehepaar auf 12 240 EUR und für Kinder auf 3 648 EUR beziffert. Der steuerliche Grundfreibetrag beträgt seit 2005 7 663 EUR für Alleinstehende, 15 329 EUR für Ehepaare und 3 648 EUR für Kinder, liegt also geringfügig über dem gesetzlichen Existenzminimum. Das allerdings wäre nach der geltenden EU-Norm zur Bestimmung der Armutsgrenze - 60 Prozent des Durchschnittseinkommens - immer noch viel zu niedrig angesetzt.

26 In der moralischen Ökonomie des Sozialstaats gibt es nur wenige respektable Gründe, sich den Zwängen des Arbeitsmarkts wenigstens zeitweilig zu entziehen: Krankheit, Berufs- oder Arbeitsunfähigkeit (soweit ärztlich attestiert) und Alter, d. h. "Ruhestand ". In jüngster Zeit ist der "Vorruhestand" hinzu gekommen, da es einer Reihe von Sozialstaaten opportun erschien, den Arbeitsmarkt zu "entlasten", indem man möglichst viele potenzielle Arbeitslose vor der Zeit aufs Altenteil schickte.

27 Neuerdings besinnen sich die Sozialstaaten in Europa wieder auf das soziale Netz "Familie" als probates Mittel, um die "sozialen Lasten" zu privatisieren. Die schönen liberalen Ideale von individueller Unabhängigkeit und Freiheit sind schnell vergessen, wenn es darum geht, den Sozialstaat möglichst klein zu "sparen".

28 Das Grundeinkommen bedeutet eine Revolution - ähnlich wie der Übergang zu einer demokratischen Wirtschaftsordnung oder zu einem Marktsozialismus. Es bedarf daher auch einer Revolution, um es zustande zu bringen. Allerdings - das machen sich die Befürworter auf der Linken selten klar - kann das auch die neoliberale Revolution gegen den Sozialstaat sein. Neoliberale lieben das Grundeinkommen als Hebel, um den ganzen Sozialstaat und seine Klientel los zu werden, damit auch jegliche Verpflichtung zu irgend einer Form von Beschäftigungspolitik. Das Grundeinkommen erscheint ihnen als Patentrezept, um die Masse der Überzähligen und Überflüssigen billig und ein für allemal los zu werden und ruhig zu stellen.

29 Alle reden im Blick auf das bedingungslose Grundeinkommen von Freiheit, aber sie meinen nicht das gleiche. Neoliberale meinen Freiheit vom Sozialstaat und Marktfreiheit, die fortan jedermann/jedefrau mit 800 EUR in der Tasche (aber in einer Welt ohne öffentliche und Gemeingüter - außer Justiz und Polizei) für sich verwirklichen darf.

30 Dieser Kardinalfehler aller Grundeinkommensprojekte lässt sich schon reparieren - aber nur im Kontext einer Strategie der Erweiterung und Wiedergewinnung öffentlicher Räume, also des Gegenteils der gegenwärtigen Politik der Privatisierung. Dazu gehören radikal Erhöhung der öffentlichen Investitionen für öffentliche und Gemeingüter, die dann tatsächlich allen zur Verfügung stehen und zwar ohne Gebühren, Fahrpreise, Eintrittsgelder und sonstige fiskalische Tricks (vgl. Krätke 2004). Konkreter gesprochen: Ein Grundeinkommen im Kapitalismus kann bestehen, wenn es z. B. auch ein öffentliches, voll aus Steuermitteln finanziertes Gesundheits- und Erziehungswesen gibt. Dazu aber sind weit radikalere Reformschritte nötig als sich die Freunde eines Grundeinkommens auf der Linken in der Regel vorstellen können und wollen.

31 Ähnliche tax credit Systeme gibt es seit langem, d. h. seit 1975, in den USA (Earned Income Tax Credit, heute ca. 4 400 $ pro Jahr, plus einen speziellen Children tax credit in Höhe von c. 1000 $ pro Jahr); in Frankreich besteht eine so genannte Arbeitsprämie in Höhe von 538 Euro pro Jahr, die an Leute mit einem Jahreseinkommen von weniger als 12 300 E gezahlt wird. Das ist natürlich viel zu wenig. Daher steht in Frankreich eine gründliche Reform dieses halbherzigen Stückchens Symbolpolitik an.

32 Solche Lohnsubventionen, die direkt an Arbeitgeber gezahlt werden, die Langzeitarbeitslose beschäftigen, gibt es in Großbritannien auch.

33 Das offizielle Ziel von New Labour ist ein Mindesteinkommen für alle Lohnarbeiter, im Jargon bekannt als "Labour Market Participation Income" (LMPI).

34 In Deutschland wird ähnliches derzeit unter dem Stichwort des "Kombilohns" diskutiert - bislang ohne Erfolg im politischen Betrieb.

35 In Deutschland ist dies Problem am dringendsten. Keines der reichen und ökonomisch hoch entwickelten kapitalistischen Länder Europas hat eine so große Armutsbevölkerung, in keinem europäischen Nachbarland funktioniert der Sozialstaat dank der falsch gerichteten und erbärmlich durchgeführten Reformen der jüngsten Zeit so schlecht und ist er so ungerecht wie in Deutschland.

36 Solange die Gewerkschaften stark genug waren und das System der Flächentarifverträge intakt war, brauchte es in Deutschland keine gesetzlichen Mindestlöhne. Die Untergrenze wurde durch Tarifverträge festgesetzt. Das ist heute anders.

37 Wo die Mindestlöhne deutlich zu niedrig angesetzt worden sind wie in den USA, gibt es trotzdem eine wachsende Zahl von arbeitenden Armen (working poor). Ein Mindestlöhner verdient bei regulärer Beschäftigung etwa 10 600 $ pro Jahr, die offizielle Armutsschwelle liegt bei knapp 15 000 $; etwa 13 Prozent aller Erwerbstätigen in den USA zählen zu den Mindestlöhnern. Allerdings können seit 2004 die einzelnen Bundesstaaten der USA Mindestlöhne selbständig festsetzen. Wo die Mindestlöhne in etwa auf bzw. leicht über dem Niveau des Existenzminimums festgesetzt worden sind, wie in Frankreich und in den Niederlanden, zeigt sich, dass dank eines noch halbwegs intakten Sozialstaats nur eine winzige Minderheit der Beschäftigten tatsächlich zum Mindestlohn beschäftigt wird, fast alle tatsächlich gezahlten Löhne liegen deutlich darüber.

38 In Deutschland gehört dazu die Abschaffung des Ehegattensplittings, eines in jeder Hinsicht ungehörigen Steuerprivilegs, das durch spezielle tax credits für Kinder und bedürftige Familien zu ersetzen ist. In den Niederlanden, die deutschen "Modernisierern" seit den 90er Jahren und völlig zu Unrecht als leuchtendes Vorbild gelten, ist ein solcher Schritt, die Umwandlung der wichtigsten Freibeträge und einiger von der Steuer absetzbarer Ausgaben in tax credits, vor einigen Jahren schon getan worden.

in: UTOPIE kreativ, H. 196 (Februar 2007), S. 109-125

 

aus dem Inhalt:
Bebel zum Nachdenken August Bebel an Karl Liebknecht: "... vor allen Dingen finanziell von der Partei unabhängig sein"; Essay JÜRGEN MEIER: "Für alle ist irgendwo ein Lächeln..." Dmitri Schostakowitsch zum 100.; Gesellschaft - Analysen & Alternativen MICHAEL R. KRÄTKE: Steuern und Grundrechte: Das Recht auf ein Existenzminimum; KATJA KIPPING: Ist Marx ein Muss für die neue Linke?; ULRICH SCHACHTSCHNEIDER: Soziale Nachhaltigkeit als konkrete Utopie?; PETER STRUTYNSKI: Exportartikel Menschenrechte? Auf das "Wie" kommt es an; Die Linke historisch THEODOR BERGMANN: Zwischen Hoffnung und Verzweiflung - Außenwirkungen von 1917; WERNER SEPPMANN: Der Marxismus und das Christentum der Bergpredigt; Konferenzen & Berichte LENA ELLENBERGER, FRANK NITZSCHE: Erneuerung des Sozialstaats in Europa - Chance gegen den Neoliberalismus; B>Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Günter Schmidt, Ulrich Kaufmann: "Ritt über den Bodensee". Studien und Dokumente zum Werk des Jenaer Germanisten Joachim Müller (KAI AGTHE); Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945 (GÜNTER WIRTH); Alexander Karmann, Joachim Klose (Hrsg.): Geld regiert die Welt? Wirtschaftliche Reflexionen (ULRICH BUSCH); Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von Boris Groys und Michael Hagemeister unter Mitarbeit von Anne von der Heiden; Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Hrsg. von Boris Groys und Aage Hansen-Löve unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (MICHAEL WEGNER); Summaries