Möhrendurcheinander mit Käse-Gratin

Einleitung zu spw 152: Gesundheitspolitik

In den Beratungen, die dem Gesundheitskompromiss voran gingen, fühlte man sich oft an das störrische Maultier erinnert, dem immer wieder eine Möhre vor die Nase gehalten werden muss.

In den Beratungen, die dem Gesundheitskompromiss voran gingen, fühlte man sich oft an das störrische Maultier erinnert, dem immer wieder eine Möhre vor die Nase gehalten werden muss, damit es sich von der Stelle bewegt. Die Abgeordneten haben dabei die Rolle der Maultiere inne, während die Fraktions- und Verhandlungsführung Möhren dergestalt hoch hielten, dass diese oder jene Sauerei der CDU/CSU vermieden werden könne, indem man den einen und anderen Kompromiss in der Sache widerwillig aber um des Großen Ganzen Willen mitmache. Im Nachhinein ist es nicht nur ein Verdacht, sondern eine Gewissheit, dass nicht jede Finte allein beim Koalitionspartner ausgeheckt wurde.
Möhrendurcheinander
Als CDU-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder vor Ostern im "Stern" seine Vorstellungen von der Gesundheitsreform "enthüllte" (Stern v. 11.04.2006) wurde nach außen so getan, als würde hier jemand seine Privatmeinung äußern. Noch im SPD-Parteirat im Juni 2006 wurde mit breitester Mehrheit und unmissverständlich beschlossen, dass es mit der SPD keine Kopfpauschale geben würde. Die Wahrheit ist, dass Ulla Schmidt schon früh im Jahr 2006 einen Gesundheitsfonds mit einer kleinen Kopfpauschale - allerdings unter Beteiligung der privaten Krankenversicherungen als Linie ausgegeben und intern mit der Union vorbereitet hat. Am Ende hat sich der Fonds und die kleine Kopfpauschale - allerdings auch die PKV gegen die SPD-Linie durchgesetzt. Die Privaten beteiligen sich nicht.
Die Kleine Kopfpauschale wird - wenn auch sozial abgefedert - eingeführt. Damit ist eine neue Logik in das System der Gesetzlichen Krankenkassen eingeführt, die nicht nur die paritätische Finanzierung weiter aushöhlt, sondern die auch den Wettbewerb um die Gesunden und Gutverdiener massiv in die Gesetzlichen Krankenkassen einführen wird. Der Hinweis, dass sich die Hartz IV Empfänger in Zukunft einer kleinen Kopfpauschale durch einen problemlosen Wechsel der Krankenkasse entziehen könnten, wird nun allenthalben unhinterfragt gepredigt. Tatsächlich können Kranke, die in Chroniker-Programmen sind und Patienten in der integrierten Versorgung nicht einfach wechseln, Alte und weniger gebildete Menschen tun dies ohnehin nach allen Erfahrungen nicht.
Ein weiterer Streitpunkt war die Einbeziehung der Privaten Krankenkassen in die Finanzierung der Gesundheitsreform und der Versuch, so etwas wie "Waffengleichheit" im forcierten Konkurrenzkampf gesetzlicher und privater Krankenkassen zu erreichen. Der zugesagt Morbiditäts-Risikostrukturausgleich (Morbi-RSA) kommt leider wie in Form eines Schweizer Käses daher. Im Gesetzblatt steht ein Risikostrukturausgleich der 180 Krankheiten ausgleicht. Das passte der Union jedoch nicht. Er wurde deshalb verwässert und gleicht nur noch 50- 80 Krankheiten zwischen den Kassen aus. Darüber hinaus soll auch noch ein "Schwellenwert" eingeführt werden, der erstmal überschritten werden muss, um in den Genuss des Risikoausgleichs zu kommen. Was das in der Praxis bedeutet, ist völlig unklar. Weltweit gibt es für einen derartigen Schwellenwert kein Beispiel. Wenn der Risikostrukturausgleich nicht funktioniert, wird es für eine Reihe von gesetzlichen Krankenkassen bitter. Das hängt auch mit dem nächsten Punkt zusammen.
Künftig sollen Krankenkassen auch insolvent werden können. Damit nicht genug: sie sollen nicht mehr als Körperschaften öffentlichen Rechts, sondern als GbR geführt werden, wodurch die Haftung im Insolvenzfall allein und ausschließlich auf die insolvente Krankenkasse und ihre Versicherten beschränkt wird. Dieser kritische Punkt wurde zwar von den Fachpolitikern erkannt, im Gespräch ist jetzt, dass die Laufzeit für die Einführung eines solchen Veränderung noch mal einige Jahre nach hinten verschoben werden soll. Aber man muss ernsthaft fragen, ob wir wollen, dass Gesetzliche Krankenkassen überhaupt in einen solchen Rahmen gepresst werden sollten. Wer weniger Krankenkassen will, der kann es einfacher und ehrlicher haben: Wie in den Niederlanden könnten wir auch in Deutschland Mindestgrößen für Krankenkassen vorgeben und damit auf einen geordneten Fusionsprozess setzen. Aber offensichtlich geht es eben auch darum, die Selbstverwaltungsstrukturen der Krankenkassen nachhaltig zu zerschlagen. Dazu mag man stehen wie man will, ich heule nicht den Kassenvorständen nach, aber erneut wird ein Wettbewerbsbegriff hoffähig gemacht, der sich in meinen Augen nicht mir einem Auftrag öffentlicher Daseinsvorsorge verträgt, wie wir ihn gerade im Gesundheitsbereich brauchen. Wettbewerb um Qualität der Versorgung und besten Service und angemessene Kostenstrukturen - ja. Aber privatwirtschaftliche Logik und Kostendruck und Auslese der Kranken um "wettbewerbsgerecht" zu agieren, finde ich mehr als bedenklich.
Die Parlamentarische Linke hat bereits im Oktober eine umfangreiche Arbeitsgrundlage erarbeitet, die wir in diesem Schwerpunkt dokumentieren. Zahlreiche kritische Anmerkungen kamen und kommen auch von Experten aus der fachwissenschaftlichen Forschung und Politikberatung: Beispielhaft dafür veröffentlichen wir in diesem Schwerpunkt einen Beitrag Kai Mosebach und Rolf Schmucker vom Zentrum für Gesundheitswissenschaft der Universität Frankfurt. Mit Fragen der Selbstverwaltung und Marktorientierung befasst sich der Artikel des Düsseldorfer Sozialexperten Harry Fuchs. Neben seiner Kritik an der überwiegend marktwirtschaftlichen Ausrichtung des Gesetzesvorhaben kritisiert Fuchs v.a., dass die Krankenkassen künftiger weniger denn je in der Lage sein werden, selbst über die wichtigsten Eckpunkte ihrer Einnahmen zu entscheiden und damit die Selbstverwaltung auf der Strecke bleibt.
In diesem Schwerpunktheft veröffentlichen wir darüber hinaus einen Beitrag, der den Blick über die aktuelle "Reform-Diskussion" hinaus schiebt. Uwe Kremer analysiert in seinem Aufsatz die ökonomischen und politischen Impulse, die sich aus der Gesundheitswirtschaft als dynamische Entwicklungsbranche ergeben.
Es kommt für die Linke aktuell nicht nur darauf an, im Gesetzgebungsprozess die richtigen Weichen zu stellen. Wir müssen auch in der politischen Kommunikation deutlich machen, dass es in der Gesundheitspolitik nicht nur um großkoalitionäre Auseinandersetzungen geht, sondern hier auch Chancen für eine bewusste fortschrittliche Positionierung der Sozialdemokratie liegen können. Wir sollten sie ergreifen.
Reform als Großlochkäse.
Was lehrt uns die aktuelle politische Debatte in Berlin? Wer mit der falschen Strategie in die Verhandlung geht läuft Gefahr, dass bei zunehmenden Druck die eigene Positionen derart Blasen schlagen, dass letztlich übergroße Löcher entstehen. So entsteht Großlochkäse, aber kein Jahrhundertwerk. Und ob diese Gesundheitsreform länger hält als die Koalition, die sie ausgehandelt hat, ist ungewiss.
Es kommt nun darauf an, aus dem vorliegenden Text die gröbsten Schnitzer zu entfernen und Elemente zu verankern die es erlauben, im Falle kommender Regierungskonstellationen ein Umsteuern in Richtung solidarische Bürgerversicherung vorzunehmen. Diese Perspektive darf nicht verbaut werden.

aus: spw 152 vom 21.11.2006