Ein Apropos zum Verhältnis von Entwicklungstheorie und -praxis

Am 11. und 12. Februar 2006 feierte die Peripherie ihren 25. Geburtstag in Berlin mit einem Symposium "100 Peripherien - Die Welt von den Rändern her denken".

Am 11. und 12. Februar 2006 feierte die Peripherie ihren 25. Geburtstag in Berlin mit einem Symposium "100 Peripherien - Die Welt von den Rändern her denken" und bezog sich in drei Podiumsdiskussionen auf ihre wichtigsten Referenzsäulen und die in Heft 100 versammelten Beiträge: Entwicklungstheorie, Praxis der Entwicklungspolitik und internationale Solidarität. Ein zentraler Argumentationsfaden des Podiums zu Entwicklungspolitik und -praxis knüpfte an die zuvor von Ulrich Menzel formulierte Polemik an, dass in kein anderes politisches Handlungsfeld "so viel Geld mit so wenig Ergebnis gepumpt wurde" wie in die Entwicklungszusammenarbeit und in politischen Modewellen "eine Sau nach der anderen durchs Dorf getrieben wurde". Claudia von Braunmühl gibt im Folgenden ihre auf dem Podium entfalteten Überlegungen zur Frage des Erfolgs bzw. der Erfolgschancen von Entwicklungspolitik wider. (Christa Wichterich)

Immer mal wieder, wenn ich entwicklungspolitische Debattenbeiträge, kritische wie rechtfertigende, lese, bin ich an einen kleinen Artikel von Dieter Senghaas erinnert mit dem bemerkenswerten Titel "Wider den entwicklungstheoretischen Gedächtnisschwund" und dem Untertitel "Die Auswege aus der Armut sind bekannt" (Senghaas 1999). Anknüpfend an die Anfangssätze der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung eröffnet Senghaas eine Liste von weiterhin gültigen Einsichten mit dem Satz "Wir halten folgende Wahrheiten für offenkundig". Die Auflistung soll hier nicht wiedergegeben werden; es lohnt sich aber, sie nachzulesen. So erging es mir auch, als ich Band 100 der Peripherie in die Hand nahm. Dort wird auf 99 Ausgaben, in denen "Die Welt von der Rändern her denken" - so der Titel des 100. Heftes - stattfindet, zurückgeblickt und versucht, den nachdenklichen Rückblick mit z.T. erfrischend subjektiv formuliertem gegenwärtig Gültigem zu verbinden. Meine Gedankenassoziation ist nicht ganz fair; es ging in dem Heft nicht um die Präsentation neuer Rezepte, sondern um Innehalten und Reflektieren. Andererseits war es aber doch auch naheliegend, an Senghaas' freundliche Mahnung zu denken und sei es nur, weil in diesem Heft über Themen raisonniert wird, die zum großen Teil seit ihren Anfängen zum Kernbestand von Theorie und Praxis kritischen entwicklungspolitischen Engagements gehören. Es waren vor allem die Beiträge von Eva Maria Bruchhaus, Theo Rauch und Rüdiger Korff, die mich zu inneren Zwischenrufen veranlassten. Meine Einwürfe und Repliken lassen sich in zwei Themenkreise bündeln. Das ist zum einem die Frage, ob Entwicklungszusammenarbeit einmal zu einem guten Ende kommen kann, weil alles und gut getan ist; ob sie im Wesentlichen Sozialarbeit ist, fortwährend damit beschäftigt, die vom System produzierten Ränder zu befrieden, aber das doch mit gewissen Erfolgen; oder schlicht Sisyphusarbeit mit der nicht unwesentlichen Nebenwirkung, dass dieser Sisyphus Grund zur Zufriedenheit mit einer auf Dauer gestellten Bedarfslage hat: Sie ermöglicht ihm immerhin, am lukrativen Ball zu bleiben. Dann ist da noch die Empowerment-Frage. Empowerment wird häufig in Stadien gedacht. Kann es ein höchstes Stadium geben, das mit erreichtem Erfolg gleichzusetzen ist? Der zweite Themenkreis, ein der Linken wohl vertrauter, wird in dem Band wieder und wieder umrissen: wie verhält es sich mit dem Verhältnis von Theorie und Praxis, wie viel Nähe zur Theorie braucht eine gelungene Entwicklungsintervention, wie viel Ferne erzwingen die konkreten Interventionsbedingungen? Gibt es ein mit kritischen Theoriepositionen und solidarischem Impuls verbundenes Ethos, das sich von dem Berufsethos, das man generell von der Entwicklungsbranche erwarten darf, deutlich unterscheidet?

Sisyphus und die Entwicklungszusammenarbeit

In den Anfängen von Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit stand auf der einen Seite Modernisierungserwartung mit Wohlstand durch trickle-down-Effekte und auf der anderen Seite mehr oder weniger radikale kapitalismuskritische Analyse, die auf Verteilungsgerechtigkeit zielte und sich an unterschiedlichen Befreiungsbewegungen orientierte. Irgendwo dazwischen, von dem einen angezogen, von dem anderen belebt, versuchte kritisch-solidarische Entwicklungspraxis, eine Verbindung von Modernisierungselementen mit solchen von mobilisierender Sozialarbeit herzustellen. Es ging ihr um Gerechtigkeit sichernde Teilhabe, um emanzipationsorientierte Selbsthilfe, um Empowerment als Zugewinn an Gestaltungsmacht, um Zugang und Kontrolle zu den ökonomischen und politischen Ressourcen der Lebenssicherung und um die Erweiterung von Lebensoptionen. Später mischte sich die post-koloniale Perspektive in die Debatte. Entwicklung war ihr nie ein überzeugendes Programm, sondern von Anfang an Lug und Trug, eine durchsichtige herrschaftliche 'Erfindung', ideologisch installiert, um sich nicht-kapitalistische Welten profitabel ein- und anzubinden. Während vorherige Existenzweisen nachhaltig zum Entgleisen gebracht wurden, ist das versprochene Leben 'wie im Westen' für die überwiegende Mehrheit der Menschen gerade nicht erreichbar. Aber die post-koloniale Kritik an marktförmig oder sozial-emanzipativ gedachter Modernisierung artikulierte sich hörbar erst nach Ende des Kalten Krieges. Da war "der Westen" schon siegreich gewesen und zugleich das Versprechen schon höchst unglaubwürdig geworden, dass die nun als Globalisierung diskutierte kapitalistische Modernisierung und globale soziale Gerechtigkeit vereinbar seien. So bleibt dem kritischen Blick heute im Wesentlichen die Ablehnung von entwicklungspolitischen Interventionen, verbunden mit der vorrangig an die OECD-Staaten adressierten Forderung, Strategien globaler nachhaltiger Entwicklung zu entwerfen, selber umzusetzen und ihre Umsetzung zuzulassen. Oder aber tatsächlich auf Sozialarbeit im oben intendierten Sinne zu fokussieren, angereichert hier und da mit ökologischen Erwägungen. Das wäre gar nicht so wenig, wenn man die für mobilisierende Sozialarbeit erforderlichen Ressourcen bedenkt und sie nicht nur preemptive Befriedung des gefürchteten Chaos- und Konfliktpotenzials in bestimmten sozialen und geographischen Zonen bedeutet. Befinden wir uns damit notwendigerweise im Bereich endloser Sisyphusarbeit mit profitablen Beigeschmack? Rüdiger Korff scheint das zu fürchten. "Durch die Bestimmung der Erfolge der vorhergehenden Entwicklungsphase als Probleme der kommenden werden zwar keine Entwicklungsprobleme gelöst, aber die erweiterte Reproduktion des 'Entwicklungsbusiness' garantiert" (501). Das ist ein in mehrfacher Hinsicht voraussetzungsvoller Satz. Zunächst einmal unterstellt er die manipulative Konstruktion von Bedarfslagen im Dienste des Einkommensflusses der Entwicklungsprofession. Näher an den Realitäten des Gewerbes indes ist, dass als Mangel ausgewiesen werden 'darf', was vordem herrschaftlichen Tabus unterlag. Oder dass zum Zwecke politisch erwünschten Wandels spezifische Interventionsstrategien und -formen negativ bewertet werden (sollen). Ist es nicht auffällig, wie viele entwicklungssoziologische und -politische Studien nach 1989 die Unhaltbarkeit von Projekten und Programmen in autokratisch und diktatorisch regierten Entwicklungsländern nachwiesen? Wenn aber dies hoheitliche Hinweise sind und der Zeitgeist-Effekt politischer Gelegenheitsfenster nicht von wesentlichem Einfluss ist, wenn wirklich eine offene Bewertungs- und Gestaltungssituation gegeben ist oder mutig unterstellt wird - auf was sonst als auf bisherige Probleme oder auch im und am Erfolg erst deutlich gewordene Mängel soll sich Handeln in der Gegenwart beziehen? Wer in Entwicklungspolitik Sinn und Aufgabe sehen kann, der darf nicht die ungeduldige Erwartung hegen, die bei Korff herausklingt: Dass Entwicklungszusammenarbeit sich dem Geschäftlichen entziehen solle und dass es einmal ein Ende haben müsse mit dem Zyklus Problem - Erfolg - Problem usf., dass die Dinge einmal zufriedenstellend geregelt sein könnten. Dahinter steht eine Gestaltungsvorstellung von Finalitätscharakter, wie sie allerdings des öfteren in Entwicklungspolitik und -zusammenarbeit zu finden ist. In der Tat, "die Erfolge der früheren Phase sind die Probleme der aktuellen Phase" (500). Nichts anderes können sie sein. Wenn es sich denn wirklich so verhielte, wenn 'Entwicklung' nicht lediglich die Rückseite metropolitan gesteuerter Wachstumsprozesse wäre, dann wäre sie als das erkannt und ins Werk gesetzt, was sie historisch nur sein kann, eine Daueraufgabe im Dienst der Überwindung von Armut, Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Krieg. Die Rede Korffs von einer "fehlenden Ordnung" (503) legt nahe, dass es eine endgültige, ein-für-alle-mal-Geregeltheit geben könne, dass eine 'richtige' Ordnung denkbar und dem finalen Zugriff zugänglich sei. Die in der Entwicklungspolitik immer wieder auftretenden "Diskrepanzen zwischen offiziellen Zielen und tatsächlichen Ergebnissen" (502) müssen, so Korff, als Resultat einer fehlenden Ordnung erkannt werden. So wird immer nur eine "versteckte Ordnung" (ebd.) verhandelt, das heißt recht eigentlich keine. Die unterschiedlichsten Akteure kämpfen um die Dominanz ihrer jeweiligen Agenden, die Sinn nur in ihrem eigenen, interessenumzäunten Denkraum machen. Es herrscht kein harmonischer Klang, sondern Kakophonie, keine klare definierte Gemeinsamkeit, sondern ein "Chaos multipler Realitäten" (505). "Die unterschiedlichen Wirklichkeiten treffen im Rahmen konkreter Entwicklungsprojekte aufeinander. Die Vermutung, dass es gemeinsame Entwicklungsziele gebe und dass Abweichungen sich daraus ergäben, dass etwas versteckt werden soll, ist vor allem ein Missverständnis" (504). Aber ja doch! Was denn sonst? Die ganze Entwicklungszusammenarbeit beruht auf strukturellen Missverständnissen und das v.a. und ganz besonders hinsichtlich der Zielbestimmungen. In der Tat, multiple Realitäten und Agenden - höchst multiple! - treffen aufeinander. Bestenfalls ergeben sich temporäre Schnittmengen, die ein Stück gemeinsamer Wegstrecke erlauben. Genau diese - überaus asymmetrische - Strecke, euphemistisch als Konsens und Partnerschaft fehlgedeutet, wird sich nach geraumer Zeit und in der nächsten Kurve als Missverständnis erweisen. Es ist die zeitweise, prekäre Vereinbarkeit unterschiedlicher Agenden, die Entwicklungsprojekte und -programme überhaupt möglich macht. Kann Entwicklungstheorie und Entwicklungsforschung einen für die Auflösung der 'Missverständnisse' geeigneten Raum und hilfreiche Orientierungen geben? Oder sind eher handlungsnahe, konkrete Flexibilität, kritische Empathie und v.a. globale Rahmenbedingungen erforderlich, die lokale Artikulation zulassen und lokale Gestaltungsräume erweitern? Müssen wir uns Sisyphus "als einen glücklichen Menschen vorstellen" (499) oder die geduldige Bescheidenheit lernen, dem rückrollenden Ball beharrlich kleine Barrieren entgegenzubauen? Nichts anderes gilt für den Gedanken und die Zielsetzung von Empowerment. Es kann einen Endpunkt nicht geben. Die "allseitig befreite - und ermächtigte - Persönlichkeit", von der wir in den 1970er Jahren kalauerten, werden wir in den Erfolgskatalog gesicherter, womöglich noch nachhaltiger, Ergebnisse nicht aufnehmen können. Nie! Auch hier stehen wir vor einer Daueraufgabe am und unter Menschen. Das ist weniger faustisch gemeint, als es klingen mag, und lässt sich am Beispiel der Partizipation von Frauen im Bereich der Wasserversorgung sehr praktisch verdeutlichen. Die Aktivitätsbereiche und der Status, den Frauen sich in Nutzergruppen, Wasserkomitees und ähnlichen Strukturen erobern, die konkreten Interaktionen in der Gruppe und die Rolle, die Frauen im Umgang mit externen Akteuren wahrnehmen, variieren beträchtlich und das oft in sehr kleinteiliger Geographie selbst innerhalb eines Landes. Während an dem einen Ort Frauen über den Status gelegentlicher, u.U. eher obligatorischer Konsultation kaum hinaus kommen, mag es ihnen nicht wenige Kilometer weiter gelungen sein, unter Hinweis auf ihre häufige Präsenz am Brunnen in den Genuss der technischen Ausbildung zu kommen, die für die Ausführung kleiner Wartungs- und Reparaturarbeiten oder auch die Kassenführung erforderlich ist. Vielerorts wird ihnen die Obhut über die gesundheitsrelevanten Aspekte von Wasserquelle und -fassung überantwortet, zumeist in Verbindung mit örtlichen Gesundheitskomitees. Jeder dieser Schritte musste erkämpft werden und wird als Empowerment erlebt und gefeiert, und das durchaus mit Recht. Entgegen häufigen Annahmen über 'Stadien des Empowerment' setzen sich Gruppenbeteiligung, Zuständigkeiten und Kompetenzanerkennungen aber nicht unbedingt und schon gar nicht automatisch in erweiterte Handlungsspielräume der Frauen im Kontakt mit der Außenwelt um; eher noch erbringen sie einen gewissen Zuwachs an Stimmgewicht innerhalb der Gemeinde. Auch der ist im Einzelfall zu erstreiten. Es kann durchaus geschehen, dass die Wasserversorgung, einmal zufriedenstellend geregelt, vom überaus wichtigen Projekt in den Status von Weiberkram absinkt. M.a.W., die Antwort auf die Frage nach Empowerment lässt sich weder in Skalen noch im Zeitablauf konstant fassen. Es bedarf in jedem einzelnen Fall prozessualer Analysen, um den Umschlag von effizientem Wassermanagement zu weitergreifendem bürgerschaftlichem claim making und einem Zugewinn an kollektiver und individueller Gestaltungsmacht mit Gewissheit behaupten zu können. Hier hat in Entwicklungshandeln eingebrachte Forschung eine wichtige Aufgabe. Wir wissen viel zu wenig über Dynamiken und Kontexte, um das Wort 'nachhaltig' im Zusammenhang mit sozialen Empowermentprozessen in Anspruch nehmen zu können.

Entwicklungstheorie und Zivilcourage

Wenn Dieter Senghaas vom entwicklungspolitischen Gedächtnisschwund spricht und von weiterhin gültigen Einsichten, dann sind erreichte und theoretisierte Wissensbestände gemeint, hinter die in entwicklungspolitischem Handeln und Diskurs zurückzufallen bestenfalls fahrlässig, öfter Schlimmeres ist. Es geht um Handeln wider bessere Einsicht und um die Simulation von neuem Terrain, wo es sich eher um ausgetretene, dabei oft schon bös beschädigte Pfade handelt. Nicht gemeint scheint mir die Umsetzung theoretischen Wissens in spezifischen Kontexten, die immer auf Gegebenheiten und Konstellationen trifft, welche Blockaden verursachen, Umwege erzwingen und Kompromisse erfordern. Ebenso wenig ist das Scheitern von theoretisierten Entwicklungsstrategien an übermächtigen Kräften gemeint. Hier haben Passagen in den Beiträgen von Eva Maria Bruchhaus und Theo Rauch mich zum Widerspruch gereizt. Die in den 1960er und 1970er Jahren genährten Hoffnungen auf Entwicklung im Modus von self reliance zerbrachen an der neoliberalen Politik der Strukturanpassung mit ihrem über den Hebel der Schuldenpolitik erzwungenem Einfügen in globale, vermachtete Märkte, dem Rückbau politischer Interventionsinstrumente und zunehmender Informalisierung, erst im Süden, dann auch im Osten und Norden. Hätten wir uns, Eva-Maria Bruchhaus' abschließende Überlegungen aufnehmend, besser dagegen wehren können, wenn die Kluft zwischen Theorie und Praxis geringer gewesen wäre? Eva-Maria Bruchhaus zitiert Regis Debray. "Diejenigen, die denken, handeln nicht. Und die Handelnden haben keinen Durchblick" (456). Theo Rauch beklagt, "dass in einer entscheidenden Phase linke Wissenschaft und linke Praxis sich in einem - allenfalls teilweise begründeten - Krisengerede erging und deshalb dem neo-liberalen Mainstream wenig entgegenzusetzen hatte" (497). Wie, so seine Frage, lässt sich die 'Komplexitätsfalle' - "Alles, was einfach ist, funktioniert nicht. Alles, was komplex ist, wird nicht getan" (499) - umgehen, wie kann komplexe Theorie in Praxis umgesetzt werden? In seinem polemischen und anregendem Rundumschlag "Das Elend der großen Theorie" hat Ulrich Menzel schon vor Jahren in historisch erfolgloser Theoretisierung von Emanzipationsprozessen den eigentlichen Schurken im Drama enttäuschender Entwicklungserfolge ausgemacht (Menzel 1992). Die Frage, wie komplexe Theorie in Praxis umgesetzt werden kann, enthält, scheint mir, ein gerüttelt Maß an Potenzwahn. Erstens ist analytisch gewonnene Erkenntnis, dies gilt zumindest für die Humanwissenschaften, nie umstandslos in Praxis umzusetzen. Davor und dazwischen steht die Kontingenz der menschlichen Existenz und mit ihr die Offenheit von Geschichte. Menschliches Handeln findet in konkreten Bezügen statt und ist von einer sehr viel größeren Vielfalt von Faktoren bestimmt, als dass Theorie ihr hinreichende Richtschnur sein könnte. Zweitens findet die Umsetzung von Erkenntnis in Praxis im machtstrukturierten Kräftefeld gesellschaftlicher und persönlicher Interessen statt. Auch das verbietet die Erwartung unmittelbarer Umsetzung von in Theorie gefasstem Wissen. Es ist auch müßig, den über Think Tanks und universitäre wie regierungsadministrative Personalpolitik gelaufenen neoliberalen Siegeszug zu rekonstruieren in der Meinung, davon Wesentliches für die eigenen Strategien lernen zu können. Die neoliberale Denke 'überzeugt' durch eindeutige Verknüpfungen mit materiellen und positionellen Interessen, nicht aber durch ihre Schlüssigkeit hinsichtlich sozial gerechter Entwicklung. Theo Rauch beschreibt empathisch ein vorzügliches, von ihm seit langem genutztes Honig-Shampoo, das "unter Berücksichtigung dependenz-, staats- und verflechtungstheoretischer Erkenntnisse!" (499) (mit Ausrufezeichen!) produziert wurde. Vielleicht wäre es auch mit weniger intellektuellem Aufwand zustande gekommen und verdankt sich möglicherweise überhaupt ganz anderen Dynamiken. Die weitergreifende und eigentliche Frage nach dem Wachstumszwang, der den Systemzusammenhang vorantreibt, ist weiterhin offen. In subjektiv gewendeter Form lautet sie: Wie sind Menschen dazu zu bewegen innezuhalten, das entscheidende 'Es ist genug' zu sagen, zu teilen, die individuelle wie kollektive Versorgung dem Wachstumszwang zu entziehen und darauf zu dringen, dass die ökonomische wie die politische Klasse ihr Handeln an Parametern eines verallgemeinerbaren, guten Lebens orientiert? Solange es nicht gelingt, diese Frage - wie es in den Anfängen der Peripherie so schön hieß, praktisch folgenreich - in die gesellschaftspolitische Arena einzubringen, mindestens solange, wenn nicht länger, ist Theorie eine nützliche Ressource, nicht mehr. In aller Welt haben Umweltbewegungen, Frauenbewegungen, der politische Aufbruch indigener Völker und unterschiedliche ökonomie- und sozialkritische Bewegungen erfolgreich agenda setting betrieben. Sie sind nicht lediglich, wie Ulrich Menzel ihnen abwertend nachsagt, soften Modethemen nachgelaufen, sondern haben Kernschwächen der kapitalistischen politischen Ökonomie aufgewiesen, haben zur Delegitimierung beigetragen und neue Bearbeitungsgegenstände und Forderungen auf die Tagesordnung gesetzt. Dabei waren und sind theoretisch fundierte und begründete Einsichten von großer Bedeutung, aber für die Bestimmung der jeweiligen Dynamik sind sie im Wirkungsgrad ein kontingenter Faktor unter vielen. Wenn Senghaas uns daran erinnert, dass es viel mehr erfahrungsgesättigtes, zur Theorie verdichtetes Wissen gibt, als in Praxis umgesetzt wird, liegt die Kluft dann wirklich in der 'Komplexitätsfalle' begründet oder nicht vielmehr, um es in einem altmodischen Begriff zu fassen, am Mangel an Zivilcourage, den jeweiligen hegemonialen Diskursen Zwischenfragen, Widerworte, gut durchargumentierte alternative Konzepte entgegenzustellen? Wie viel Grundlagenpapiere, Richtlinien, Gutachten u.ä. enthalten Verzerrungen und Schweigen, buchstabieren ergeben den neuen Duktus durch, legen in Kenntnis "oben" gewünschter Ergebnisse willig eben diese vor? Dabei ist es doch gerade Theorie, die in die Lage versetzen sollte, kritischen Debatten in praktischen Zusammenhängen Substanz zu geben und mit ihrer Hilfe kritikwürdiger Praxis unabweisbare Argumente entgegenzusetzen. Dort wo systemkritisches Wissen konstitutiv zum Organisationsmandat gehört, wie z.B. bei der Pharmakampagne der Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) oder der Landminenkampagne von medico international, ist das freilich leichter. Aber es werden immer ÜbersetzerInnen kritischen, d.h. auch innovativen Wissens in die Apparate der Shakers und Makers gebraucht. Wer dort mit ihrem/seinem kritischen Wissen bestehen will und es nicht dem brow-beating oder mehr der jeweiligen Obrigkeiten opfert, die/der braucht ganz unbedingt ein hochkomplexes Denken, das Zusammenhänge und Bedingungsgefüge im Blick hat und doch den Kurs nicht verliert. Gerade im Gespräch mit 'denen da oben' kommt man mit einfachen Wahrheiten nur sehr bedingt weiter. Im Entwicklungsgeschäft werden Waren und Dienstleistungen ge- und verkauft, die Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit ist ein der Einkommenssicherung dienender Beruf. Ja, und? Es gab einmal eine Zeit, da war AutorInnen wie LeserInnen der Peripherie der Begriff 'politische Berufspraxis' vertraut. Im sogenannten bürgerlichen Berufsleben, also einem, was sich nicht a priori in einen politischen Zielkontext stellt, kennen wir den Begriff des Berufsethos. Für das eine wie das andere Berufsverständnis gilt, nicht das Reproduktionsinteresse ist der Skandal, sondern das Handeln gegen besseres Wissen und klügere Einsicht - oder auch die Weigerung, Einsicht und Wissen überhaupt zuzulassen. Der hohe Ton des institutionalisierten Altruismus indes, der den solchermaßen Anspruchsvollen adelt, ist völlig deplaciert. Er markiert einen Anspruch, der, um an den ersten Themenkomplex anzuknüpfen, auch sonst an Sozialarbeit nicht gestellt wird. Eva-Maria Bruchhaus meint, sich nahezu selbstanklagend die Frage stellen zu müssen, warum sie Entwicklungsarbeit im Süden statt Sozialarbeit in ihrem Kölner Umfeld zu ihrem Berufsfeld machte. Da hat eine Interesse an Arbeit im Süden, studiert Tropenlandwirtschaft, engagiert sich in Frauenpolitik und sucht ihren Beruf in der Entwicklungspolitik. Was ist daran auszusetzen? Allenfalls stellt sich die Frage nach der Legitimität der Intervention. Hier indes ist eine fundamentale Unterscheidung heute kaum mehr relevant. Intervention ist auch die Sozialarbeit in Köln. SozialarbeiterInnen kommen meist aus einer anderen Schicht und hatten andere Chancen als die Problemgruppen, mit denen sie sich befassen. Eben wegen des globalen Systemzusammenhangs, der nicht unbedingt identisch ist mit Systemdurchdringung, sind "unberührte" Bereiche heute kaum mehr gegeben und ist die Metapher vom Süden im Norden zunehmend realitätsangemessen. Solidarische Intervention ist hier wie dort vonnöten. Zu fragen bleibt aber, mit welcher Haltung, welchem Gestus, welcher Kompetenz, auch welchem Gefühl wird interveniert? Sind Respekt und in Handeln umgesetzte Subsidiarität am Werk oder doch eher die geheimen Überlegenheitsgefühle der Systembegünstigten, oft begleitet von mehr oder weniger bewusstem Rassismus? Wer kennt sie nicht, die ExpertInnen, deren Ausbildung ihnen in OECD-Ländern nie den sozialen Status und den Lebensstandard sichern würde, den sie im Süden genießen? Oder die anmaßenden, mentalen Ärmel-hoch-KremplerInnen, die mit verständnislosem Kopfschütteln über die Zustände, Denk- und Fühlweisen, die sie vorfinden, die 'richtige' Ordnung der Dinge zu installieren suchen. Diese Entwicklungs-Neureichen sind tatsächlich eher unappetitlich. Auch die Verführungen der Armutsbekämpfung im Fünf-Sterne-Hotel sind sattsam bekannt. Aber es ist ja nicht zwingend, ihnen zu erliegen.

Literatur

Bruchhaus, Eva-Maria (2005): "Die Entdeckung der Peripherie". In: Peripherie, Nr. 100 (25. Jg.). Münster, S. 454-457. Korff, Rüdiger (2005): "Entwicklung ein Missverständnis?" In: Peripherie, Nr. 100 (25. Jg.). Münster, S. 500-507. Menzel, Ulrich (1992): Das Ende der Dritten Welt und das Scheitern der großen Theorien. Frankfurt a.M. Rauch, Theo (2005): "Viel gelernt, doch geholfen hat's wenig!" In: Peripherie, Nr. 100 (25. Jg.). Münster, S. 494-499. Sachs, Wolfgang (Hg.) (1993): Wie im Westen so auf Erden. Ein polemisches Handbuch zur Entwicklungspolitik. Hamburg. Senghaas, Dieter (1999): "Wider den entwicklungstheoretischen Gedächtnisschwund. Die Auswege aus der Armut sind bekannt". In: Thiel, Reinhold E. (Hg.): Neue Ansätze zur Entwicklungstheorie. Bonn: Deutsche Stiftung für internationale Entwicklung, S. 350-354. Anschrift der Autorin: Claudia von Braunmühl cvb@zedat.fu-berlin.de

Aus: PERIPHERIE Nr. 103: "Erfolg! Erfolg! Erfolg!", 26. Jg. 2006, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster, S. 364-372

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