Die Ost-West-Passage der Stamokap-Debatte

Zum Tod des Kapitalismustheoretikers Robert Katzenstein (19.2.1928-30.7.2006)

Robert Katzenstein ist am 30.7.2006 verstorben. Fritz Fiehler würdigt seinen Beitrag zur Ausarbeitung der Kapitalismustheorie.

Für seine politische Entwicklung hatte Robert Katzenstein eine Anekdote parat: In den Wirren des Kriegsendes habe ihn auf dem Weg nach Berlin ein Rotarmist aufgehalten, der alle Reisenden zur Reparatur einer beschädigten Brücke herangezogen und sie erst habe gehen lassen, als die Brücke wiederhergestellt war. In Berlin eingetroffen, entschied sich der aus bürgerlichem Hause stammende Katzenstein für die sozialistische Seite. Gleichwohl blieb er im Westen wohnen.

Allerdings hatte der 17-jährige Katzenstein es nicht nur mit kaputten Brücken und beschwerlichen Reisen zu tun. Er hatte für sein Überleben zu kämpfen. An einer Schwächung seiner Knochen in jungen Jahren erkrankt, war seinerzeit an eine medizinische Behandlung nicht zu denken, denn der Verfolgte schlug sich zwischen 1942 und 1945 illegal durch. Seinen Vater verlor er in Auschwitz, seine Mutter überlebte in Berlin. Die Rote Armee holte ihn in Schlesien aus einem Lager polnischer Kriegsgefangener heraus, bei denen er zuvor Unterschlupf gefunden hatte. Erst nach jahrelanger Behandlung war er Anfang der 1950er Jahre in der Lage, sich auf Krücken fortzubewegen. In der DDR konnte der 24-jährige Katzenstein dann seine Ausbildung nachholen, die ihn schließlich in die Wirtschaftsforschung des Instituts für Wirtschaftswissenschaften der Deutschen Akademie der Wissenschaften führte.

Auch für die Wirtschaftsforschung galt, Passagen einzurichten. So für das Verständnis der westdeutschen Entwicklung, in der sich die wiedererstandenen Strukturen einer ungewöhnlichen Akkumulation und Staatstätigkeit verdankten. Ließ sich diese Entwicklung als staatsmonopolistischer Kapitalismus begreifen? Als er seine Studien aufgenommen habe, schrieb Katzensteins Kollege Kurt Zieschang, "war die offizielle und Lehrmeinung unserer Republik, dass das Wesen des staatsmonopolistischen Kapitalismus in nichts anderem als in der Unterordnung des Staates unter die Herrschaft der Monopole bestehe." (Zieschang 1961: 124) Welche Kräfte waren hier am Werk, und wer setzte sie in Politik und Recht um? Mit unterschiedlichen Bezugspunkten entwickelten sich in der Kapitalismusforschung zwei Tendenzen. "Während sich das Institut für Wirtschaftswissenschaften in seinen Publikationen vor allem darum bemüht, die grundlegenden theoretischen ökonomischen Probleme des staatsmonopolistischen Kapitalismus zu klären, befasste sich das Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK mehr mit der historischen und politischen Seite der Entwicklung." (Wirth 1972: 9) Dabei entspann sich eine Debatte über Kapitalismustheorie: In den 1960er Jahren zwischen der Gruppe um Zieschang und der um Otto Reinhold in der DDR und in den 1970er Jahren in der BRD und Westberlin. An dieser Debatte war Robert Katzenstein beteiligt - und zwar dies- und jenseits der Staatsgrenze.

Stamokap-Debatte - erster Akt: Es ging der Kapitalismusforschung an der Akademie um eine Objektivierung des Staatsinterventionismus, die von der Gruppe um Zieschang in zwei Richtungen verfolgt wurde: Zieschang nahm sich der Haushalts- und Einkommenspolitik an, um mit ihrer Wirtschaftsförderung und Umverteilung den Staat in seinem Doppelcharakter zu begreifen. Katzenstein fiel der Part der Kapitalbewegung zu. In seinen Investitionsstudien, in denen er die Kategorie des fixen Kapitals für die Forschung fruchtbar machte, stellte er heraus: Investitionszyklen prägen Produktivität, industrielle Strukturen und konjunkturelle Verläufe. Vor allem aber ziehen Investitionen immer mehr Folgeaufwendungen für Verkehr, Energie und Versorgung nach sich. Katzenstein resümierte: "Im Prozess der Ökonomisierung von gesellschaftlicher Arbeit, in dem früher wohl vornehmlich die Einsparung von lebendiger Arbeit eine erstrangige Rolle spielte, erhält heutzutage die Ökonomie des fixen Kapitals zunehmendes Gewicht." (1974: 8)

In den späten 1960er Jahren wendete sich das Blatt. In der DDR vermochte man einer Ökonomie der vergegenständlichten Arbeit kaum praktische Relevanz abzugewinnen. Wurde hier nicht eine aufwendige Debatte finanziert? So entschied man sich, die politische Ökonomie des Kapitalismus an das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft (IPW) zu verweisen. Mit der auf Politikberatung degradierten Kapitalismusanalyse wurde auch der Richtungsstreit entschieden: Es blieb bei der politischen Funktionalisierung im Sinne des Großkapitals. Eine Entscheidung, die sich durch die in der Bundesrepublik einsetzende Kapitalismusdebatte bestätigt sehen konnte. Die SMK-Theorie strahle aus bis weit in SPD-Kreise hinein, nicht ohne das Wirken des Instituts für marxistische Studien und Forschungen (IMSF). Dagegen nicht in marxistischen Zirkeln, die sich an den instrumentellen Zügen und der unzulänglichen werttheoretischen Begründung ("die Monopole") der SMK-Theorie störten (vgl. Projekt Klassenanalyse 1975). Damit war für Katzenstein eine schwierige Situation eingetreten: In der DDR hatte er seine Arbeit als Kapitalismusforscher verloren. Und die Bundesrepublik war zunehmend darauf bedacht, "Stamokapler" in Quarantäne zu setzen. In dieser Situation kam ihm Elmar Altvater (Otto-Suhr-Institut, Westberlin) entgegen, als er ihn zu Debatten einlud und Lehraufträge vermittelte.

Stamokap-Debatte - zweiter Akt: Jedenfalls war Katzenstein entschlossen, den analytischen Charakter der SMK-Theorie herauszustellen. Gegen die These von der Unterordnung des Staates durch die Monopole blieb Katzenstein standhaft. "Es ist eine unzulässige Vereinfachung, wenn man den Begriff des staatsmonopolistischen Kapitalismus lediglich dahingehend definiert, dass der bürgerliche Staat von den Monopolen benützt würde, um ihnen Höchstprofite zuzuschanzen." (1973: 11) Vielmehr habe der Staat allgemeinen Erfordernissen der Produktivkraftentwicklung Rechnung zu tragen, z.B. durch das Betreiben von Straßen, Kanälen oder Hafenanlagen. In diese allgemeinen Produktionsbedingungen müsse viel Geld gesteckt werden, ohne Aussicht auf absehbare Amortisation und Rentabilität (vgl. 1975a: 436).

Dabei spielten zwei Überlegungen eine wichtige Rolle: Die eine bezog sich auf die Infrastruktur, mit deren Entwicklung sich die Grenzen des Kapitalverhältnisses abzeichnen würden. Die andere hatte mit den Konzernen zu tun, die immer mehr zu übergreifenden Systemen tendieren müssten. "Im Aktienkapital ist eben schon die eigentumsmäßige Verflechtung mehrerer Unternehmen angelegt, hier ist schon die Verzahnung der Unternehmen zu Konzernen, die Beherrschung von Schlüsselpositionen in der Wirtschaft durch bestimmte Kapitalisten bzw. Kapitalistengruppen angelegt und damit schon neue Formen der Konkurrenz." (1975b: 101) Beide Überlegungen standen für die Suche nach einem Regulierungsmechanismus. Wie konnte dieser Mechanismus gesetzmäßig genug sein, um ihn allzu geläufigen Vorstellungen von politischer Manipulation entgegenzuhalten? Und wie konnte dieser Mechanismus geschichtlich genug sein, um einer bestimmten Entwicklungsperiode gerecht zu werden?

Fixes Kapital in Farbe: Im Verlaufe der 1970er Jahre entging Katzenstein in seinen entwickelten Regulierungsüberlegungen nicht, dass die Kapitalismusdebatte an einen toten Punkt gekommen war. Brücken bauen ist das eine; etwas anderes, sich den Blick für die Verkehrsströme zu erhalten. Und diese begannen sich zu ändern. In dieser Hinsicht wendete sich das SEW-Mitglied Katzenstein den gesellschaftspolitischen Debatten in Italien, Frankreich und Spanien zu. "Ich meine, es gibt verschiedene Wege zum Sozialismus. Was die KPF und die KPI oder die KP Spaniens theoretisch erörtern, ist zum Teil vorher schon in sozialistischen Ländern praktisch, experimentell erprobt worden... Und wenn man bei Lenin nachliest..., auch hier sind die Probleme schon theoretisch verarbeitet worden... Die Diskussion in der kommunistischen Bewegung ist ja auf dem Tablett... Allein, wenn ich die Theorie des Stamokap nehme, gibt es dort die unterschiedlichsten Auffassungen, auch theoretischen Auffassungen." (Herkommer/Jaeggi/Katzenstein 1976: 27) Diese Kontroversen machte Katzenstein in der Zeitschrift "Sozialistische Politik" fruchtbar. In der Kapitalismustheorie kam erst mit der französischen Regulationstheorie (Aglietta u.a.) und Burkart Lutz sowie Joachim Hirsch wieder Bewegung. Und in der Bildungsarbeit bot Katzenstein "Kapitalschulungen" an, wie auch Altvater und Wolfgang Fritz Haug.

Bildungselemente wofür? Sicherlich sind uns in den vergangenen Jahrzehnten beispielsweise Stromkonzerne als Vergesellschaftung von technisch zwingender Notwendigkeit erschienen. Eine Aufgliederung von Stromerzeugung, Netz und Verteilung war nicht vorstellbar gewesen. Und dann auch noch das Angebot eines "gelben Stroms"! Greifen wir aber auf die Investitionsstudien Katzensteins zurück, dann hatte die Betriebsweise des fixen Kapitals durchaus zur entscheidenden Größe der Ökonomisierung werden müssen. So verwandelt das Kapital eben "jede Grenze in eine zu überwindende Schranke" (Marx) - und zwar farbig.

Literatur
Herkommer, Sebastian/Jaeggi, Urs/Katzenstein, Robert (1976): Politische Krise und demokratische Bewegung in der BRD - Nach der Wahl 1976, in: Sozialistische Politik 37/38.
Katzenstein, Robert (1973): Zur Theorie des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Prokla 8/9.
Ders. (1974): Technischer Fortschritt. Kapitalbewegung - Kapitalfixierung, Berlin.
Ders. (1975a): Zum Problem einer marxistischen "Staatsableitung", in: Blätter für deutsche und internationale Politik 4.
Ders. (1975b): Zur Frage des Monopols, des Monopolprofits und der Durchsetzung des Wertgesetzes im Monopolkapitalismus, in: Das Argument AS 6.
Projekt Klassenanalyse (1975): Stamokap in der Krise, Berlin.
Wirth, Margret (1972): Kapitalismustheorie in der DDR, Frankfurt/Main.
Zieschang, Kurt (1961): Zu Problemen des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: Probleme der politische Ökonomie, Berlin.

Fritz Fiehler lebt in Schobüll.

Aus: Sozialismus 9-2006, S. 56-57.

Weitere Beitrage in diesem Heft:
Redaktion Sozialismus: Lebenslügen und Politikwechsel; Joachim Bischoff / Björn Radke: Parteibildungsprozess in Schwierigkeiten; Joachim Bischoff / Bernhard Müller: Pulverfass Nahost - Das Ende des asymmetrischen Krieges im Libanon und seine Fortsetzung in Gaza; Guido Speckmann: Aus der Geschichte lernen? Grass-Debatte und Götz Alys Bestandsaufnahme des Historikerstreits; Gregor Kritidis: Selbstaufklärung im sozialistischen Sinne - Zum Erscheinen des ersten Bands von Abendroths "Gesammelten Schriften"; Elmar Altvater: Gegenstandpunktkonkurrenz - Eine Kritik der Rezension von Freerk Huisken "Sozialromantik statt Kapitalismusanalyse"; Meinhard Creydt: Grenzen der Globalisierung - Kritik der affirmativen und pseudokritischen Verwandlung des Weltmarkts in einen Popanz; Michael Wendl: Verteilungskämpfe im Krankenhaus; Günter Busch / Sybille Stamm: Renaissance der Standesorganisationen?; Martin Allespach: Nutzen stiftend - bewusstseinsbildend - politisch gestaltend: Die Bildungsarbeit der IG Metall; Werner Dreibus: Wer sich im Kreis bewegt, kommt nicht wirklich voran - Die IG Metall Bildungsdebatte nähert sich ihrem Ende; Ewald Wehner: Eine Geschichte des Arbeitskampfes (Rezension zu Kittner); Klaus Dräger: Der große Bluff - Wie Europas Eliten versuchen, die EU-Dienstleistungsrichtlinie geräuschlos durchzusetzen; Karl Georg Zinn: Ein "linker" Entwurf der europäischen Verfassung; Detlef Nakath: W. Steinitz - Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik; Julia Müller / Hasko Hüning: "Geheime Staatsaffairen" (Filmkritik).
Supplement: Brigitte Kurzer / Horst Mathes / Manfred Scherbaum (Hrsg.)
Bildung ist der Rede wert
Perspektiven gewerkschaftlicher Bildungsarbeit