Das bedingungslose Grundeinkommen - ein Weg zu einem zeitgemäßen Sozialismus

Wer Zukunft will, muss die Gegenwart begreifen. Ich lasse hier weg, dass dieses Begreifen auch derjenige nötig hat, der mit der Vergangenheit ins Reine kommen will. Da wir aber leibhaftig nicht ...

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zurück können, sondern nur nach vorwärts, ist es die wichtigere Frage, wie wir im Jetzt das Noch-Nicht ermöglichen können. Auch die Diskussion über das "bedingungslose Grundeinkommen" zielt auf die Beantwortung dieser Frage.

Diese Diskussion wird sicherlich auf einem hohen Niveau geführt und hat das Zeug dazu, neue Wege zu einem zeitgemäßen Sozialismus zu eröffnen. Aber sie wirft auch schwierige Fragen auf, und selbst das gehört noch zu ihrem Verdienst. Wenn ich wenigstens einige dieser Fragen hier zu artikulieren versuche, dann bin ich in der glücklichen Lage, vor allem auf die jüngsten Beiträge von einerseits Ulrich Busch und andererseits Sascha Liebermann zurückgreifen zu können.1 Sie scheinen mir den erreichten Stand der Diskussion sehr gut zu reflektieren. Die Unterschiede zwischen ihren Positionen erlauben zudem den Versuch, das Grundsätzliche herauszustellen, das der Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen innewohnt.

Wie vor allem von Ulrich Busch betont wird, 2 muss angesichts eines "arbeitslosen" Grundeinkommens bedacht werden, dass dieses erst einmal erwirtschaftet, also erarbeitet werden muss, bevor es gezahlt werden kann. Dies zeigt den Primat der Arbeit an; ohne Produktion keine Konsumtion. Ich lasse zunächst beiseite, dass, nicht erst seit Marx, auch das Umgekehrte gilt: ohne Konsumtion keine Produktion. Das heißt nicht, dass zwischen Produktion und Konsumtion einfach ein Gleichheitszeichen gesetzt werden kann. Der Primat und "das Übergreifende" der Produktion zeigt sich in der notwendigen Erwirtschaftung eines Überschusses, sonst ließe die Produktion nicht einmal Zeit zum Konsum. Ohne diesen Überschuss, darin sind sich die Teilnehmer der Diskussion einig, kann ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht gezahlt werden. Aber aus diversen Gründen, wie z. B. Verschleiß der Produktionsmittel, Innovationen etc., darf der Überschuss auch nicht im Grundeinkommen verschwinden. Das führt zu der schwierigen Frage: Wie viel an Überschuss muss vorhanden sein, um angesichts der Belastungen durch das Grundeinkommen nicht pleite zu gehen? Hier scheiden sich die Geister.

Vis-à-vis dieser Frage spitzt Ulrich Busch, der gestandene Wirtschaftsfachmann, den Griffel und berechnet zunächst und ziemlich in Einzelheiten gehend (die hier aus gleich ersichtlichem Grund weg gelassen werden), dass sich ein bedingungsloses Grundeinkommen nicht verantworten lässt. Es ist für ihn der nicht konkretisierbare Traum vom Schlaraffenland, in dem trotz Faulheit Genuss zu haben sein soll. 3 Des weiteren fürchtet er, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen sich einer derartigen Popularität erfreuen würde, dass sich der Konsum verringerte und somit das Wachstum der Wirtschaft noch weiter dämpfte. Das würde für ihn offensichtlich nichts Gutes bedeuten. Aber, so möchte ich fragen, wo liegt denn die von Ulrich Busch als "vernünftig" 4 angesehene Grenze des Wachstums von Konsumtion und damit auch von Produktion? Kann man sie für eine strukturell veränderte Zukunft überhaupt berechnen? Jedenfalls ist es Sascha Liebermann klar, was auch Ulrich Busch weiß, 5 dass die Zahlung eines bedingungslosen Grundeinkommens die gesamte sozio-ökonomische Situation grundlegend verändern würde.

Für Ulrich Busch verstieße eine derartige Zahlung aber auch gegen die traditionellen, von ihm wohl als zeitlos verstandenen Werte von Leistung und Leistungsgerechtigkeit: Die einen haben die Arbeit, die anderen den Spaß. Ob das einfach so eintreten wird, sei aber auch dahingestellt; es kann nicht ohne weiteres in die zu erwartenden, aber noch unbetretenen neuen Verhältnisse hineinprojiziert werden. Schon gar nicht kann man die Wirtschaftsbilanz einer veränderten Zukunft berechnen. Dies wie Ulrich Busch zu versuchen, verdient jedoch erst dann die Liebermannsche Schelte der "Expertokratie", 6 wenn diese Berechnungen, angestellt mit den Instrumentarien des Jetzt, in die anders strukturierte Zukunft verlängert werden. Sie haben jedoch den Wert, dass sie, wenn auch ungewollt, deutlich machen, dass das jetzige Denken nur dann nichts anderes als Gefahren wahrzunehmen vermag, wenn es nicht der Möglichkeit, ja der Notwendigkeit seines eigenen Sich-Änderns eingedenk bleibt. Jedenfalls gilt, und darin sind sich die meisten Diskutanten einig, dass die derzeitige Massenarbeitslosigkeit mit derzeitigen Mitteln und Denkkategorien nicht abzuschaffen ist. 7

 

Wenngleich Klarheit darüber herrscht, dass am Primat der Arbeit und an der Notwendigkeit des Überschusses nicht zu rütteln ist, müssen wir über die Hilflosigkeit gegenüber dem Problem der Massenarbeitslosigkeit hinaus eingestehen, dass wir derzeit nicht "vernünftig" bestimmen können - wie Ulrich Busch hofft -, wo die Grenzen des Wachstums in Produktion und Konsumtion liegen. Indes zeigt die Natur um uns und in jedem von uns überdeutlich an, dass unsere jetzige Produktionsweise der Natur um uns argen Schaden zufügt und dass unsere Konsumtion bei vielen die Natur in uns zugrunde richtet. Wachstum hat so, wie wir es derzeit verstehen, keine Zukunft. Warum aber fällt es der linken, doch wohl materialistischen Tradition nicht ein, hier den Primat der Natur anzuerkennen, um von daher dem Theoretisieren, oder gar dem Berechnen, seinen immer noch wichtigen, aber eben nur nachgeordneten Platz zuzuweisen?

Ulrich Busch macht auf Anhieb plausibel, dass der Traum vom Schlaraffenland als "Ort der Faulheit, des Überflusses und des exzessiven Konsums" auf nichts anderes verweist als auf einen "Ort der verkehrten Welt", in der "die Prinzipien des normalen Lebens" nicht gelten. 8 Die Frage ist jedoch, ob die Advokaten des bedingungslosen Grundeinkommens überhaupt so töricht sind, die verkehrte Welt des Schlaraffenlandes einführen zu wollen. Wird von ihnen nicht explizit davon geredet, 9 dass es der Natur des Menschen entspricht, Arbeit zu leisten und eben nicht der Faulheit zu frönen, ja sogar einen Arbeitsbeitrag für das Gemeinwohl leisten zu wollen? Diese Art von Rede befürwortet in keiner Weise die "verkehrte" Kombination von "Faulheit und exzessivem Genuss". Aber: Trifft diese Rede denn auch die "Natur" des Menschen? Darauf wird gleich zurück zu kommen sein.

Ulrich Busch setzt gegen den Schlaraffenlandstraum, von dem er selbst sagt, dass er der vorkapitalistischen Geschichte entstamme 10 - und kann schon allein deswegen heute keine Gültigkeit mehr haben -, die sicher einst konkrete Utopie der sozialistischen Arbeitsgesellschaft 11. Traditionell hat der Sozialismus gegen die kapitalistischen Ausbeuter, die von der Arbeit anderer leben, die Idee gesetzt, dass jeder arbeiten solle. Es ging darum, dass "gleicher Arbeitszwang für alle" herrsche. 12 Dies war gewiss einmal eine in der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegründete und gangbare Utopie. Wir aber, über 100 Jahre nach Marx und auch Bebel, und jetzt mit dem Globalkapitalismus konfrontiert, können im "gleichen Arbeitszwang für alle" kaum noch die "große Freiheit" sehen; nicht einmal eine kleine! Fortschritt und Befreiung heißen heute etwas anderes. Müssen wir nicht in Rechnung stellen, wie weiter unten versucht werden soll, dass das sich globalisierende Interesse an mehr und mehr Konsum den Arbeitszwang längst überholt hat?

Leistung und Leistungsgerechtigkeit mögen als Werte älter sein als der traditionelle Kapitalismus - dies aber klärt nicht darüber auf, was sie heute bedeuten sollen. Können sie als Sollwerte einfach aus der Vergangenheit in die Zukunft transponiert werden? Sind sie nicht vielmehr aus der kritischen Inspektion der Jetztzeit zu entwickeln? Beim Blick auf die aktuelle Diskussion über das Grundeinkommen taucht in der Tat die Frage auf, ob die in ihr gemachten Annahmen über "Leistung" denn überhaupt etwas damit zu tun haben, wie "Leistung" derzeit gedacht und praktiziert wird. Wenn sie nichts damit zu tun haben, haben diese aber, wie alle veralteten Annahmen, auch nicht das Zeug dazu, die jetzige Praxis "aufzuheben".

Gedanken an "Leistung" und "Leistungsgerechtigkeit" im heute propagierten Sinne spielen bei den Befürwortern des bedingungslosen Grundeinkommens kaum eine Rolle. Das mag, wenn es um Geld geht, auf den ersten Blick befremdlich scheinen. Für den Finanzfachmann Ulrich Busch ist der Gedanke an Leistung und Leistungsgerechtigkeit jedoch zentral. Die Frage hinsichtlich ihrer fortbestehenden Gültigkeit stellt sich indes, wenn er z. B. schreibt, dass das in der Tat oft exorbitante "Einkommen von Managern, Fußballstars und Pop-Künstlern" beim Gerechtigkeitsempfinden der Lohnabhängigen auf Ablehnung stößt. 13 Diese Ablehnung mag zwar dem Sentiment der Lohnabhängigen entsprechen (die gern genau so viel hätten), aber entspricht sie auch ihrem tatsächlichen Verhalten ? Zahlen sie etwa nicht an den Kassen von Stadien, Rockpalästen etc. "willig " ihren Obolus? Gewähren ihnen die besuchten "Events" etwa nicht den gesuchten Genuss, und den Stars das große Geld? Mehr noch, wird mit diesem Verhalten nicht für den real existierenden Status quo abgestimmt, und zwar mit dem machtvollen Stimmzettel des Geldscheins? Ferner: Stimmen die Aktienbesitzer etwa nicht mehrheitlich für das Salär "ihres Mannes an der Spitze"? Wenn dieser ihnen nichts zu "leisten" verspräche, meist aufgrund seiner "guten Beziehungen", würden sie ihn dann wählen und so exorbitant bezahlen?

Bei dem Versuch, diese Fragen zu beantworten, kommt mir nicht zuletzt Karl Marx in den Sinn. Hat er nicht gesagt - z. B. in den "Grundrissen" -, dass die Produktion erst in der Konsumtion "ihr finish" erhält? Was nützt also alles "Leisten", wenn kein Käufer für das Produkt da ist? Die Stars finden ihre Käufer, und zwar en masse, und so tut es die Autoindustrie, pars pro toto gesprochen.

Mir ist schon klar, dass ich die Frage bzgl. der Bedeutung des Konsums und des Leistens jetzt in einen anderen historischen Zusammenhang stelle als den von Karl Marx. Aber damit hat weder er Unrecht, noch habe ich es. Haben sich seit den 1850er Jahren nicht viel mehr Dinge geändert als die Zeiten? Marx hat die weiter zunehmende Vereinzelung - und das heißt ja auch Entsolidarisierung - mehr als vorausgeahnt. Auch antizipierte er den parallelen Wandel des Wissens vom Produktionsmittel zur Produktivkraft. 14 Beides zeichnete sich für ihn vor allem in den USA ab. Es ist aber von dort aus und von nirgendwo anders, dass sich der jetzige Kapitalismus auf den Weg zur Globalisierung begeben hat.

Gilt es angesichts des selbstmörderischen Konsumwillens - den sich gewiss immer weniger leisten können - nicht zu fragen, warum immer noch so viele für den Einkauf aller möglichen "Leistungen" "willens" sind zu schuften? Brauchen sie nicht wie der Kapitalist das Wachstum, zwar nicht unmittelbar des Kapitals, aber des Lohnes, um immer mehr und immer Neues konsumieren zu können? Was immer sich hinter dieser Psychose verbergen mag - ohne sie hat der Globalkapitalismus keine Chance zu überleben. Zugegeben, der Lohnanteil an der Produktion schrumpft, aber, wie schon oben gesagt, beim Konsum des Einzelnen schreiben heute weder Hunger noch Sozialismus einen Arbeitszwang vor, sondern die verdrehte Freiwilligkeit des Konsums. Wie sollte der Markt überleben ohne die Konsum- und Arbeitswut z. B. der Teenager? Zeigt da das Festhalten an Sozialformen wie Gewerkschaften, Flächentarifverträgen oder anderen einstmals sicherlich gültigen Einrichtungen immer noch den einst Zukunft versprechenden Klassenkampf an oder nur den Konkurrenzkampf der Vielen mit dem Kapital? Kein Zweifel, ohne Gewerkschaften und sozial engagierte Parteien ginge es noch schlimmer zu im Globalkapitalismus. Aber da wir nicht hinter die im Globalkapitalismus entstandene und Vereinzelung fordernde Flexibilität zurück können, müssen wir diese heutige Form des Kapitalismus mit all den hier nur skizzierten Aspekten zunächst verstehen, ja durchschauen, um sie dann vermenschlichen zu können. Liegt nicht erst hinter diesem letzteren Schritt der zeitgemäße Sozialismus? Jedenfalls verbürgt das Aufhalten der gesellschaftlichen Entwicklung, wie auch Ulrich Busch vor einiger Zeit betont hat, 15 heute genau so wenig den Fortschritt wie zu Zeiten von Karl Marx.

Begründung der Idee muss revolutionär-innovativen Ranges sein
Mir scheint, dass von hier aus gesehen das bedingungslose Grundeinkommen sehr wohl diskutabel ist. Zwar wird auch in dieser Diskussion die Frage nach dem Wachstum zu stellen sein, aber sie wird genau so wenig mit den Denkkategorien des jetzigen Wirtschaftens beantwortet werden können wie Ulrich Buschs Frage nach der Finanzierbarkeit des Grundeinkommens. Wie unten noch ausgeführt werden soll, wird sich auch das Verstehen von "Wachstum" beim Heraufkommen neuer gesellschaftlicher Bedingungen ändern. Zwar kann das Noch-Nicht auch noch nicht studiert werden, aber die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens bedarf deswegen umso mehr der begleitenden klaren Beobachtung und Analyse seiner sozio-ökonomischen Konsequenzen.

Sascha Liebermann glaubt zu beobachten, dass Abhängigkeit von Sozialhilfe den Empfänger stigmatisiere und dass dies Rückschlüsse auf ein zukünftiges Verstehen des Grundeinkommens zuließe. 16 Es trifft sicher zu, dass Sozialhilfeempfänger sich ihres Status schämen. Aber ist dies so generell der Fall und tritt dies deswegen auf, weil sie, wie Liebermann annimmt, keinen Beitrag zum Gemeinwohl leisten? 17 Dies ist zwar hypothetisch möglich, aber kann diese Scham nicht auch daher rühren, weil man im Konsumwettbewerb nicht mithalten kann? Außerdem muss man fragen, ob die Menschen derzeit vor allem aus dem Grunde zur Arbeit gehen, weil sie einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten wollen. Liebermann unterstellt dies, 18 und zwar, wie noch zu zeigen sein wird, weil er von einer vorgefassten theoretischen Position her auf die empirische Realität schließt.

Man muss auch fragen, ob Liebermanns Annahme so ohne weiteres zutrifft, dass eine Gesellschaft, die vornehmlich eine "do ut des"- Praxis übt, zum Untergang verurteilt ist. 19Haben es die USA etwa nicht zur Weltmacht Nr. 1 gebracht? Trotz oder wegen eines nirgendwo sonst gekannten Instrumentalismus? Damit soll nicht verneint werden, dass der Instrumentalismus zerstörerisch ist. Aber es muss auch darauf hingewiesen werden, dass seine "do ut des"-Praxis mit einer Freisetzung des Individuums und seines Eigeninteresses einher gegangen ist, die der traditionelle Kapitalismus nicht gekannt hat. Ohne diese Entwicklung wäre das ungeheure Volumen der heutigen Produktion und Konsumtion nicht möglich geworden; allerdings auch nicht die Bedrohung der Natur um uns und in uns! Von der real existierenden egofokalen Vereinzelung in der heutigen "do ut des"-Praxis muss also ausgegangen werden, wenn der jetzigen Gesellschaft eine Zukunft eröffnet werden soll. Deswegen sollte klar sein, dass meine bislang bzgl. der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens aufgeworfenen Fragen nicht auf dessen Ablehnung abzielen, sondern dass sie gestellt werden, um zu dem Versuch beizutragen, diese Idee auf eine bessere Grundlage zu stellen.

Da es bei den Versuchen, die Probleme der Jetztzeit zu überwinden, nicht um das einfache Abschaffen der Vereinzelung und des Einzelinteresses gehen kann, sondern um deren "Aufhebung" in einem neuen Gesellschaftsvertrag, haben Versuche dieser Art keinen geringeren Rang als den des revolutionären. So ist auch das bedingungslose Grundeinkommen "kein ›sozialpolitisches Projekt‹, um Defekte der kapitalistischen Marktwirtschaft (...) zu reparieren", wie etlichen Befürwortern des Grundeinkommens sehr wohl bewusst ist und wie dies auch von Ulrich Busch anerkannt wird, wenngleich nicht zustimmend. 20 Aber ich frage mich, ob allen an der Diskussion Beteiligten auch bewusst ist, dass auch die Begründung der Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens von einem entsprechend revolutionärinnovativen Rang sein muss. Dazu kann sie nicht auf althergebrachtes Gedankengut aus Religion, Philosophie oder aus sonstigen einst verehrungswürdigen Geistesgebilden zurückgreifen. "Begründung" kann nach dem kapitalistischen Leerfegen des "Himmels" nicht mehr primär geistig-theoretisch verstanden werden, sondern nur noch von einer materiell-konkreten Grundlage her. Das ist nicht zuletzt Konsequenz der Entwicklung des Wissens zu einer Produktionskraft, die es dahin gebracht hat, dass alles beliebig zur Begründung von allem Möglichen benutzt werden kann. Dass dem so ist, braucht man wohl angesichts der täglich erfahrbaren Praxis in Politik, Wirtschaft, Recht, Erziehungswesen etc. nicht erst zu beweisen. Das heißt aber auch, dass wir uns in unserem Denken und Fühlen an nichts mehr halten können als an die Natur, die wir selbst sind, in der wir leben und von der wir leben. Da diese aber in jeder dieser Hinsichten bedrängt ist, wird das Leid, das daraus entsteht, heute zur soliden Grundlage und daraus zur Begründung für den Vorschlag, unser Leben zu ändern.

Das schließt auf keinen Fall aus, dass in dieser Revolution nicht auch unsere Vergangenheit mit ihren großen Werten und Ideen wieder auflebt, aber verwandelt durch unsere neu erlebte Erkenntnis unserer Kommunität mit aller Natur, selbstverständlich auch der in unserem Mitmenschen. Dieser Durchbruch in ein Noch-Nicht kann nicht einmal mit theoretisierenden Überlegungen eingeleitet werden. Wenn Sascha Liebermann schreibt, dass der Mensch nicht durch Arbeit zum Menschen wird, sondern durch seine Anerkennung als Zweck an sich, 21 dann ist das theoretisch zwar akzeptabel, heute aber müssen wir fragen: Ist es materiell-konkret gegründet? Dass das Leben des Menschen über jedem Zweck steht, gilt nur noch, wo dies erlebt wird in einer vom "Geist" der Jetztzeit befreiten Praxis. Diese aber könnte nicht zuletzt heraufgeführt werden durch die Zahlung eines in der Tat bedingungslosen Grundeinkommens.

In einer immer chimärenhafter werdenden Welt voll konkreten Leidens könnte dann das einzelne Individuum sich seiner selbst - und das heißt: seiner inneren Natur - auf neue Weise vergewissern. Alle Einzelnen können herausfinden, was sie wirklich wollen und sich von da aus mit dem Anderen und den Sachen befassen, dann nicht mehr verleitet durch "Advertisements", propagierte "life-styles" oder entwertete Glaubenssätze. So würden wir es dann wahr machen, dass es die innere Natur, also der Wille in jedem Einzelnen ist, der uns mit der Welt um uns verbindet. 22 Tun vollzieht sich aus dem primär sinnlichen Bezug zu Mensch und Dingen und kann sich auf dieser Grundlage kultivieren. Wie Marx voraussah, können dann Natur und Geschichte in einem neuen Wissen eins werden. 23 Diese Versöhnung zwischen Natur und Mensch verlangt, was aus der Jetztzeit heraus nicht denkbar, aber in ihr durch tätige Verneinung schon erlebbar ist: das Vertrauen in die Natur in uns, um uns und in den Mitmenschen.

Dieses Vertrauen ist weder "blauäugig" noch blind, sondern beruht bei nicht wenigen von uns auf Erfahrungen, die sie bei Versuchen alternativen Lebens gemacht haben. Deren nicht seltenes Scheitern entwertet diese Erfahrungen angesichts der Übermacht der globalkapitalistischen Kräfte keineswegs. So ist denn erlebt worden, worüber Sascha Liebermann schreibt 24 - allerdings ohne den hier zugefügten Bezug auf die Allheit der Natur, dass Freiheit des eigenen Willens, ja der Leidenschaft, dass das Aufeinanderbezogensein der Individuen in ihrer Einzigartigkeit jeden Einzelnen Bindung an das Ganze erleben lässt und dass all dies nur verschiedene Manifestationen von ein und demselben sind: der Natur in ihrer kultivierten Erscheinung. In ihr geht es nicht mehr um Individuum oder Gesellschaft, sondern um Individuum und Gesellschaft. 25

Was dies für die Lösung jetzt dringlicher Probleme wie "Umwelt"- Schutz, die "Hilfen" gegen Verarmung und Verhungern von Menschen weltweit, die Verschwendung erarbeiteten Überschusses durch direkte und indirekte Militärausgaben bedeutet, kann hier nicht einmal im Ansatz diskutiert werden. Jedenfalls wird in all diesen Bereichen ohne greifbare Resultate unübersehbar viel - ohne Berechnung seiÂ’s garantiert - an erarbeitetem Überschuss verschwendet. Dies erlaubt uns, das Zahlen eines bedingungslosen Grundeinkommens zumindest zu wagen. Obwohl ich hier nicht mehr als Fürsprache für einen solchen Schritt nach vorne leisten kann, möchte ich doch daran erinnern, dass auch für Karl Marx Verlauf und Resultat der Revolution nicht berechenbar waren, sondern voll und ganz eine Sache des Vertrauens und des Mutes. Die Frage ist nur, ob wir diesen Mut und dieses Vertrauen haben oder nicht.

Statt "Wachstum" das Wachsen freiheitlicher Individualität
Das heißt indes auch nicht, dass wir jedem ca. 1 000 Euro, wie als Grundeinkommen in der laufenden Diskussion erwogen, in die Hand drücken sollen und es dabei belassen können. Und zwar deswegen nicht, weil wir es dabei nicht belassen wollen. Politik, die fortschrittlich und revolutionär sein will, wenn auch auf eine neue, hier höchstens skizzierte Weise, muss zusätzlich Förderung und Unterstützung solchen Gruppierungen gewähren, in denen die Empfänger des bedingungslosen Grundeinkommens Initiativen entfalten, also ihren "Beitrag leisten" können. Diese Gruppierungen müssen keineswegs unmittelbar auf politische Aktivitäten abzielen, aber es wird ihnen um Rückgewinn erfüllten Lebens und um die Erfahrung des Zusammengehörens von Leidenschaft, Freiheit, Einsatz und Bindung-in-Gemeinschaft gehen. Die Linke muss sichtbar werden nicht nur als Advokat des Grundeinkommens, sondern auch als tätiger Förderer von z. B. Migrationshilfen, von Produktion und Vermarktung menschengerechter Nahrung, von Schüler- und Studenteninitiativen, in denen erlebend gelernt wird, in Zusammenschlüssen alter und/oder kranker Menschen, oder was es da sonst noch an Gruppierungen und Initiativen entsprechender Art geben mag. Frei durch gesellschaftlich gewährtes Grundeinkommen könnten Menschen sich dann auch zusammenschließen, um Forschung und Entwicklung zu betreiben. Sie könnten eigenständig Ideen und Gegenstände entwerfen, die Ergebnisse ihres individuellen Bemühens als Beiträge zum Leben aller vorstellen und dafür Anerkennung erhalten, auch finanzielle. Ob und wie ein derartiger Gewinn mit dem Grundeinkommen verrechnet wird, wäre Sache zukünftiger Überlegungen. Auf jeden Fall wären Menschen nicht mehr gezwungen, auf dem fremdbestimmten Markt des Kapitalismus den andern nur als Konkurrenten zu erleben. Wettkampf verschwände im Wetteifern. Nicht jeder wird den großen Erfolg haben, aber jeder wäre als "einer von uns allen" gesichert. Eben durch das Grundeinkommen, das bedingungslos ist, aber nicht arbeitslos macht. Das dann sichtbare Aufblühen von Menschen, freigesetzt zu einem Tun echter sinnlich-konkreter Befriedigung, wird Attraktivität gewinnen vor allem bei denen, die jetzt schon, ob freiwillig oder gezwungen, am Rande oder gar außerhalb der herrschenden Gesellschaft leben.

Es ist schwer zu glauben, dass die Förderer solcher neuen Lebensansätze nicht von denen akzeptiert - und das heißt auch: politisch gewählt - werden, die entweder schon marginalisiert sind oder empfinden, kurz davor zu stehen. Mit dieser Erwartung befinde ich mich im Gegensatz zu Ulrich Busch, 26 glaube aber, sie hegen zu dürfen im Kontext zweier ineinander greifender Umstände. Einerseits haben in Deutschland bei der letzten Bundestagswahl fast 70 Prozent der Teilnehmer den von CDU und SPD vertretenen Neoliberalismus gewählt. Dieses Ergebnis zeigt m. E. an, wie viele Menschen sich in unserem Land der objektiv falschen Hoffnung auf weiterhin ungebrochenes Wirtschaftswachstum hingeben und dies aus subjektiver Verwirrung über dessen Konsequenz: Belastung der Natur. Andererseits: Sind die erschrecklich Zahlreichen (über 40 Prozent), die bei den jüngsten Kommunal- und Landtagswahlen zu Hause geblieben sind, etwa nicht diejenigen, die am dominierenden System kein Interesse mehr haben? Angesichts dieser Situation gebe ich Jörn Schütrumpf recht, dass es bei der sich abzeichnenden Krise des Globalkapitalismus und seiner zunehmenden Brutalisierung darum geht, die von ihm Verstoßenen davor zu bewahren, zu einem Lumpenproletariat zu werden. 27 Nicht zuletzt deswegen ist es wichtig, dass das bedingungslose Grundeinkommen von lebensvollen Aktivitäten der oben genannten Art flankiert wird. Oder wollen wir diese Menschen einer Abart von "Arbeitsdienst" anheim fallen lassen, wie das bei der mehr als denkbaren Bündnissuche der Globalkapitalisten mit dem entstehenden Lumpenproletariat sehr wohl der Fall sein kann? Dann dumpf werdend in einer Urteilsunfähigkeit, wie sie sich in der Verwirrtheit der Mehrheit der heutigen Wähler bereits ankündigt? Kein Zweifel kann sein, dass ein Weg in eine gangbare Zukunft nur dadurch zu öffnen ist, dass an die Stelle der mit Falschheit implantierten Erwartung wirtschaftlichen Wachstums die Stärkung von nüchternem Sinn und frei gemachtem Verstand im einzelnen Mitmenschen zu treten hat. Statt dieses "Wachstums" das Wachsen freiheitlicher Individualität! Ohne mutige Schritte in diese Richtung landet nicht nur die Demokratie auf dem Abfallhaufen der Geschichte, sondern das gloriose Potenzial unserer ganzen Spezies.

Überlegungen zum bedingungslosen Grundeinkommen kann man nicht durch Vorausdenken zu einem organischen Abschluss bringen. Das liegt in der Natur jeder grundlegend neuen Sache. Erahnen lässt sich da vieles, auch manches für das vorherrschende Denken Erschreckende. So zum Beispiel: Wie wird sich eine Neubestimmung menschlichen Wachstums auf Deutschlands wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt auswirken? Wird es sich nicht einem mörderischen Bombardement seitens globaler Medien und/oder Wirtschaftsgrößen aussetzen? Wird es diesen Mächten hilflos ausgesetzt sein, oder gelingt ihm, ein wahrhaft revolutionäres Ziel zu erreichen, nämlich die Immunisierung seiner Menschen gegen Macht? 28 Ich weiß es nicht, aber ich glaube, dass wir den Weg des bedingungslosen Grundeinkommens einschlagen sollten. Vielleicht kann Deutschland damit ein global einladendes Zeichen setzen.

Friedrich W. Sixel - Jg. 1934; Dr. phil., Professor für Soziologie an der QueenÂ’s University in Kingston, Kanada; neben zahlreichen Essays hat er u. a. folgende Bücher veröffentlicht: Crisis and Critique - on the "Logic" of Late Capitalism (1988), Understanding Marx (1995), Nature in Our Culture - a Study in the Anthropology and Sociology of Knowing (2001) (Dies auch in Deutsch: Die Natur in unserer Kultur, Würzburg 2003; zuletzt in UTOPIE kreativ: Die PDS und die Krise der heutigen Gesellschaft, Heft 165/166 (Juli/August 2004).

1 Siehe Ulrich Busch: Schlaraffenland - eine linke Utopie?, in: UTOPIE kreativ, Heft 181 (November 2005) und Sascha Liebermann: Freiheit ist eine Herausforderung, kein Schlaraffenland, in: UTOPIE kreativ, Heft 184 (Februar 2006). Wenn in den Anmerkungen auf diese Aufsätze Bezug genommen wird, geschieht das durch Nennung des Autorennamens und der Seitenzahl.

2 Busch, vor allem S. 988 ff.

3 Busch, insbesondere S. 984 ff.

4 Busch spricht explizit nur von der "Begrenzung des Konsums auf ein vernünftiges Maß", siehe S. 980.

5 Busch, S. 983; Liebermann, S. 118.

6 Liebermann, S. 117.

7 Busch, S. 991.

8 Busch, S. 978.

9 Siehe Liebermann, insbesondere S. 110, 112-116 und die dortigen Literaturverweise.

10 Busch, S. 978 f.

11 Busch, z. B. S. 979, 981.

12 Busch, S. 979.

13 Busch, S. 987.

14 Siehe Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frankfurt a. M./Wien o. J., z. B. S. 587, 594 (auch: Marx-Engels-Werke, MEW, Bd. 42).

15 Siehe Ulrich Busch: Eigentumskritik und alternative Gestaltungsoptionen, in: UTOPIE kreativ, Heft 155 (September 2003).

16 Liebermann, S. 116.

17 Ebenda.

18 Als grundlegende Annahme durchzieht dieser Gedanke seinen ganzen Aufsatz, siehe Liebermann, z. B. S. 110, 116.

19 Liebermann, S. 117.

20 Busch, S. 983.

21 Liebermann, S. 113.

22 Kein anderer hat diesen Gedanken mit gleichem Nachdruck ausgesprochen wie Goethe. Selbst für die wissenschaftliche Arbeit war ihm der Wille die grundlegende Kraft. Die Anerkennung dieses Umstandes trennte Goethe fundamental von so vorherrschenden Geistesgrößen wie Newton und selbst Kant, der zwar von Spontaneität spricht, sie aber nicht weiter untersucht. Zu Goethe siehe z. B. seine Schrift "Newtons Persönlichkeit", in: Goethe: Farbenlehre, hrsgg. von Gerhard Ott/Heinrich O. Proskauer, Bd. III, Stuttgart 1988, S. 229-237. Siehe in diesem Zusammenhang auch Friedrich W. Sixel: Die Natur in unserer Kultur, Würzburg 2003, vor allem S. 212-32.

23 Siehe seine "Ökonomisch- philosophischen Manuskripte", in: Karl-Marx- Ausgabe, hrsgg. von Hans-Joachim Lieber, Bd. I, Darmstadt 1962, S. 603 f. (auch: MEW, Ergänzungsband, I. Teil, S. 465-588)

24 Liebermann, S. 113, 116 f.

25 Ich will auch den Hinweis von Sascha Liebermann (siehe Liebermann, S. 113) keineswegs abweisen, dass diese Zusammenhänge von der heutigen Neurologie und Sozialisationsforschung bestätigt werden, aber diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden erst wahr in ihrem Gelebtwerden. Ähnliches gilt, mutatis mutandis, für die Philosophie eines J. J Rousseau, der sehr wohl vom Primat der Natur ausgeht und von daher so viel zum Bezug zwischen Individual- und Gesamtwillen zu sagen hat.

26 Busch, S. 986 f.

27 Siehe Jörn Schütrumpf: Deutschland verändert sich zur Kenntlichkeit. Vier Thesen, in: UTOPIE kreativ, Heft 185 (März 2006), passim und vor allem S. 208.

28 Zu einer ausführlichen Behandlung der Bedeutung einer solchen Immunisierung siehe Sixel, a. a. O., Kapitel 5.

 

in: UTOPIE kreativ, H. 189/190 (Juli/August 2006), S. 640-647

 

aus dem Inhalt des Heftes 189/190 (Juli/August 2006)

Essay SUSANNA BÖHME-KUBY: Die Nachgeborenen und Tucholsky; Marx-Engels-Gesamtausgabe THOMAS MARXHAUSEN: "MEGA - MEGA" und kein Ende; Gesellschaft - Analyse & Alternativen RAINER RILLING: Eine vergessene Linke? LUIGI WOLF: Neuformierung der Linken - auch in Frankreich? Bericht vom 33. Parteitag der Französischen Kommunistischen Partei vom 23. bis 26. März 2006; Debatte Grundsicherung FRIEDRICH W. SIXEL: Das bedingungslose Grundeinkommen - ein Weg zu einem zeitgemäßen Sozialismus MEINHARD CREYDT: Die Befreiung der Arbeit; Dokumentierte Geschichte HEINZ SCHÄFER: Darmstadt 1950. Ein Stück Vorgeschichte zum KPD-Verbot 1956; JOSEF MALLMANN: Und immer noch Opfer des Kalten Krieges! GÜNTER WIRTH: Der andere Transformationsprozeß. Besichtigung von Autobiographien: Ausstellung HEIDRUN HEGEWALD: Frauenbilder; Jugendkultur DORIS KATHEDER: Vom Girlie zum Görl? Mädchenbilder nichtkommerzieller Jugendmagazine zwischen Anspruch und Wirklichkeit; CHRISTOPH SCHAUB: Die Banlieue und das Feuer. Urbaner Raum und ästhetische Selbstbehauptung in den Rap-Lyrics von La Rumeur; Rosa-Luxemburg-Konferenz 2006 MICHAEL BRIE: Was hätte Rosa gesagt? GEORG FÜLBERTH: Fragen zum Kapitalismus; MICHAEL KRÄTKE: Neun vorläufige Antworten auf neun schwierige Fragen; MANFRED SOHN: Marx, Luxemburg und die Unentbehrlichkeit des Feminismus. Eine kurze Replik zu Evelin Wittich; Festplatte WOLFGANG SABATH: Die Wochen im Rückstau; Bücher & Zeitschriften Ulrich Maurer, Hans Modrow (Hrsg.): Überholt wird links. Was kann, was will, was soll die Linkspartei (WOLFRAM ADOLPHI); Andreas Heyer: Die Utopie steht links! Ein Essay (MARTIN DÂ’IDLER); Annemarie Türk (Hg.): Grenzverkehr, Literarische Streifzüge zwischen Ost und West Helga Rabenstein et al. (Hg.): Kulturräume. Universitäten Klagenfurt, Koper, Ljubljana, Maribor, Trieste, Udine. Drava Werner Wintersteiner: Poetik der Verschiedenheit. Literatur, Bildung, Globalisierung (JENS LANGER); Paul Windolf (Hrsg.): Finanzmarkt-Kapitalismus, (ULRICH BUSCH); Summaries