Venezuelas "bolivarianischer Prozess"

Mit Gilles Deleuze in Caracas

in (04.04.2006)

Kaum ein anderes Land der Welt ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten von einem derart umfassenden Transformationsprozess erfasst worden wie Venezuela....

In dem Erdölstaat wurde 1999 eine neue Verfassung verabschiedet, die eine soziale, partizipatorische Demokratie verspricht, außenpolitisch widersetzt sich die Chávez-Regierung offen den Dominanzansprüchen der USA, bemüht sich um eine globale Kooperation von Staaten des Südens und verwendet seine Bodenschätze selbstbewusst als Mittel, um alternative ökonomische und politische Bündnisse zu schmieden. Durch eine radikale fiskalpolitische Wende hat eine international für gescheitert erklärte interventionistische Ausgabepolitik eine unerwartete Renaissance erlebt. Die 1999 im wesentlichen auf venezolanische Initiative hin erfolgte Reanimierung der OPEC und die damit zusammenhängende Erholung des Ölpreises, die Umstrukturierung des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA, die der langjährigen Praxis des Unternehmens, Gewinne vor dem Staat zu verbergen (vgl. Mommer 2003), ein Ende setzte, und die konsequente Erhebung und Eintreibung von Steuern haben neue sozialpolitische Spielräume eröffnet. So finanziert der venezolanische Staat heute aufwändige Sozialprogramme für die ärmsten Bevölkerungsschichten, was sich auf oft konfliktive, aber dennoch produktive Weise mit Selbstorganisierungs- und Ermächtigungsprozessen in den Armenvierteln verbindet.

Interessanterweise kreisen Analysen dieses Prozess fast ausschließlich um die Figur Chávez. Ob nun in den internationalen Medien, der politischen Auseinandersetzung oder in sozialwissenschaftlichen Beiträgen - die Annäherungen an das südamerikanische Land scheinen in einer caudillistischen Falle zu stecken. Dabei ist leicht zu erkennen, warum es in Venezuela zu einer derartigen Verflachung der Debatte gekommen ist. Die Mehrheit der Intellektuellen in dem südamerikanischen Land befindet sich, wie fast alle Angehörigen der Mittel- und Oberschicht, in Fundamentalopposition zur Regierung. Dementsprechend ist an der Universidad Central de Venezuela (UCV), an sich eine der interessantesten Hochschulen Lateinamerikas, kaum ein differenziertes Wort über den Transformationsprozess im Land zu hören. Doch warum auch die länderkundlichen Publikationen im Ausland so wenig Tiefgang entwickeln, ist schon weniger ersichtlich. Bei den deutschsprachigen Neuerscheinungen von Sevilla/Boekh (2005) und Diehl/Muno (2005) etwa bleibt eine Analyse der sozialen Prozesse von unten vollständig aus, und die Reformprogramme der Regierung werden auf fast schon skandalöse Weise heruntergespielt oder denunziert.

Ein Grund, warum auch eher linke Autoren so große Schwierigkeiten mit den Veränderungen in Venezuela haben, könnte darin bestehen, dass sich die Entwicklung in dem Karibikstaat gängigen Interpretationsmustern hartnäckig widersetzt. Das, was von venezolanischen Aktivisten in Anlehnung an eine programmatisch postulierte zweite Unabhängigkeitsbewegung als "bolivarianischer Prozess" bezeichnet wird, ist ein von einem ehemaligen Putschisten angeführter gesellschaftlicher Demokratisierungsprozess, der gleichermaßen reformistische wie revolutionäre Züge trägt.
Die Person Chávez beherrscht als quasi-messianische Erscheinung die Bilderwelt dieses Prozesses, gleichzeitig jedoch hat das Fehlen von funktionierenden Parteien den Dynamiken von unten weitreichende Bewegungsspielräume eröffnet. Den wichtigsten Schub erfuhr die Demokratisierung dabei nicht 1998, als Chávez erstmals zum Präsidenten gewählt wurde, sondern im April 2002 - paradoxerweise provoziert durch einen rechten Putschversuch. Und verwirrend ist schließlich auch, dass der Staat in der klientelistisch strukturierten Renten-Republik Venezuela verantwortlich für die Reichtumskonzentration in den Händen der Eliten und damit objektiv der Hauptgegner jeder Veränderung ist (weshalb selbst hochrangige Regierungsvertreter stets prinzipielle Staatskritik äußern müssen), gleichzeitig aber der Zugriff auf öffentliche Gelder auch für autonome Bewegungen (etwa die alternativen Medien oder kleinbäuerliche Genossenschaften) von größter Bedeutung ist.
So gesehen ist das, was heute in Venezuela geschieht, hochgradig irritierend. Die Situation zeichnet sich durch einen ausgeprägten Caudillismus aus, ist aber gleichzeitig basisdemokratischer als etwa die sandinistische Revolution in Nicaragua. Chávez beansprucht, die mannigfaltigen, differenten Hoffnungen - um erste Begriffe von Deleuze/Guattari ins Spiel zu bringen - auf Veränderung zu verkörpern. Unterhalb dieser als kollektive Projektionsfläche fungierenden Gestalt jedoch fehlt bislang jener Repräsentationsapparat, der in parlamentarischen Demokratien, aber auch in sozialistischen Bewegungen bislang zuverlässig Spaltungen in Repräsentanten und Repräsentierte und damit Machtverhältnisse produzierte.

Offensichtlich decken sich also die äußeren Merkmale des Transformationsprozesses nicht mit seinen inneren Bewegungen. Höchst unterschiedliche Momente schalten sich in ihm, oft auf verwirrende Weise, kurz, überlagern sich, bilden überraschende, nicht sofort einsichtige Verbindungen.


Modernisierungsversprechen, Puntofijismo
und die Krise der Repräsentation

Unumstritten dürfte zunächst folgendes sein: Die Ereignisse in Venezuela sind das Resultat eines Modernisierungskollapses. Das Land, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch für lateinamerikanische Verhältnisse als arm galt, erlebte mit dem schnellen Anwachsen der Ölförderung in den 1920er Jahren einen enormen Entwicklungsschub. Der traditionelle Agrarsektor wurde verdrängte, die Verstädterung vollzog sich mit noch größerer Geschwindigkeit als in den meisten anderen Ländern des Subkontinents. Venezuela verwandelte sich in ein nicht nur für Lateinamerikaner attraktives Einwanderungsland: etwa zehn Prozent der Venezolaner, so schätzt man, sind in Kolumbien geboren. Auch vielen Europäern wurde der Erdölstaat zum Wohlstandsversprechen. Bis weit in die 1970er Jahre nahm das Land ökonomisch motivierte Einwanderung aus Europa auf, v.a. von den Kanarischen Inseln, den Azoren und Italien.
Während der Diktatur von Marcos Pérez Jiménez 1948-58 manifestierten sich diese Modernisierungserwartungen in ambitionierten Großprojekten. Der renommierte modernistische Architekt Carlos R. Villanueva realisierte in Caracas zahlreiche Bauten, darunter die Universidad Central und das Sozialbauviertel 23 de Enero unweit des Präsidentenpalasts. Dieses Viertel, ursprünglich geplant, um die Elendsbaracken aus den Bezirken nahe des Regierungsviertels zu verbannen, wurde zum Symbol der Aneignungs- und Umdeutungsprozesse im Zusammenhang der Modernisierung. Noch bevor Pérez Jiménez nämlich die 10.000 Wohneinheiten der Sozialbausiedlung feierlich übergeben konnte, stürzte die Bevölkerung den Diktator. Während sich im Großen schnell neue Ausschluss- und Konzentrationsmechanismen etablierten - die Diktatur wurde 1959 vom so genannten Punto Fijo-Abkommen abgelöst, das ein faktisches Machtoligopol von sozialdemokratischer Acción Democrática (AD), christdemokratischer COPEI und der kleineren URD institutionalisierte -, blieb die Gesellschaft im Molekularen in Bewegung. Im 23 de Enero wurden die meisten Wohnungen einfach besetzt, oft von Aktivisten der Opposition gegen die Diktatur. So verwandelten sich die Bauten, von Pérez Jiménez als Monumente herrschaftlicher Sozialpolitik und Souveränität gedacht1, in politische Symbole und schließlich auch ganz real in Bastionen des Widerstands. Zwischen den 15-stöckigen Sozialbauten entstanden neue Barackensiedlungen und die polizeiliche Unkontrollierbarkeit des Barrios verband sich mit den infrastrukturellen und kommunikativen Möglichkeiten des Sozialbaus. Auch wenn in den Stadtteilbewegungen von Caracas umstritten ist, welche Wohnqualität die großen, über den ganzen Westteil der Stadt verteilten Blocks tatsächlich besitzen, steht fest, dass sie in den 1960er und 70er Jahren zu Hochburgen der außerparlamentarischen Opposition wurden. Jeder Sozialbaublock im 23 de Enero, so ein Scherz unter Stadtteilaktivisten, hatte damals seine eigene marxistisch-leninistische Guerillapartei.

Das 1959 geschlossene Punto Fijo-Abkommen, das aus Sicht der sozial- und christdemokratischen Parteiführungen Putsch- und Bürgerkriegsszenarien mit Hilfe eines fest installierten Machtgleichgewichts verhindern sollte, konnte solche Aneignungen von unten zwar nicht unterbinden, sorgte aber dennoch für die Herausbildung eines stabilen, die Gesellschaft durchdringenden klientelistischen Systems. Nach dem Abschwellen eines v.a. von Kommunisten2 getragenen bewaffneten Aufstands Anfang der 1960er Jahre erschien Venezuela bald als funktionierende soziale Demokratie:
"Venezuela assumed the role of a showcase democracy, an experiment widely considered successful, institutionalized, stable, and legitimate. Historical patterns of growth and increase in oil prices were projected into the distant future ... A political culture of 'national harmony' and its corresponding multiclass political party organizations achieved hegemony. The self-image of an inclusive, egalitarian, and racially democratic society became dominant." (Lander: 6f)3

Mit Hilfe der Öleinnahmen wurden importsubstituierende Entwicklungs- und Investitionsprogramme aufgelegt, Nahrungsmittelsubventionen finanziert und kostenlose Gesundheits- und Bildungseinrichtungen unterhalten - Elemente einer integrativen Strategie, die mit Rey (1991) häufig als "a populist system of conciliation" bezeichnet wird. Ihre Blütezeit erlebte dieses Modell, als die OPEC-Politik den Ölpreis Anfang der 1970er Jahre auf eine Höchstmarke trieb und Venezuela förmlich im Geld schwamm. Die Bonanza Petrolera, der Erdölboom, deckt sich mit der ersten Regierungszeit von Carlos Andrés Pérez (1974-79), einem späteren Vizepräsidenten der Sozialistischen Internationalen, der 1976 auf Druck der Linken auch die Ölvorkommen nationalisierte. Die öffentlichen Ausgaben wuchsen zwischen 1973 und 1978 um 96,9%, nur etwa 10 Prozent der Venezolaner lebten gegen Ende de 1970er Jahre in Armut (Buxton 2003).

Für aktuelle Debatten über eine alternative Wirtschaftspolitik und für eine Einschätzung der Ausgabepolitik der Chávez-Regierung dürfte dabei allerdings von Interesse sein, dass diese Politik, die heute wohl als linkskeynesianisch bezeichnet würde, zur größten Macht- und Reichtumskonzentration in der venezolanischen Geschichte führte. Zwar profitierten auch die Unterschichten von staatlich finanzierten Großprojekten, doch in erster Linie brachte die staatliche Ausgabepolitik ein spezifisches Aneignungs- und Umverteilungsmodell zugunsten der Eliten hervor. Der Sozialwissenschaftler und ehemalige Vize-Planungsminister der Regierung Chávez, Roland Denis, begründet seine These, der venezolanische Staat müsse im Grunde genommen vollständig zertrümmert werden, folgendermaßen:

"In allen anderen lateinamerikanischen Ländern ist der Staat ein Instrument der Besitzenden, um die Kapitalakkumulation sicherzustellen. In Venezuela wurde der Staat selbst zum Ort privatkapitalistischer Akkumulation, denn die einzige echte Einkommensquelle des Landes ist die Erdölrente. Alle Strukturen, die sich im Staat bewegten - Gewerkschaften, politische Parteien der Rechten, die reformistische Linke -, sind daran kaputtgegangen. Sie wurden zu einem Bestandteil des Akkumulationsmechanismus" (zit. in Zelik 2003).

Im Rahmen dieser klientelistischen Struktur erhielten Wähler für eine Stimmabgabe Materialgeschenke, z.B. einige Säcke Zement für den Bau eines Hauses, parteipolitisches Engagement wurde zur Voraussetzung für eine Anstellung beim Staat, dem wichtigsten Arbeitgeber im Land, und auf höchster Ebene schließlich ermöglichte die Kontrolle von Regierungsposten die massive Umverteilung der Erdölrente.
Die öffentlichen Investitionsprojekte, die bis in die 1980er Jahre überall in Venezuela realisiert wurden, waren demnach nicht ausschließlich Ausdruck der Modernisierungsbemühungen. Mindestens ebenso sehr müssen sie als Produkte einer spezifischen Aneignungsstrategie gelten. Weil der direkte Diebstahl von Geldern aus der Staatskasse auch in einem von Korruption gebeutelten Land nur beschränkt möglich ist, wurde der Umweg über den Bausektor gewählt. Politiker vermittelten Aufträge, Projekte wurden zu überhöhten Preisen abgerechnet, und Unternehmer gaben Teile der öffentlichen Zahlungen an die Politiker zurück. Unter Carlos Andrés Pérez soll dieses Modell besonders extreme Formen ausgebildet haben. Von dem ursprünglich mittellosen Präsidenten heißt es, er habe in der ersten Amtszeit 1974-79 mehrere Milliarden US-Dollar beiseite geschafft.

Das politische System Venezuelas verlor aufgrund dieser weit verbreiteten Korruption schon früh an Glaubwürdigkeit. Solange mit den Öleinnahmen allerdings auch Sozialprogramme finanziert wurden, zog das Legitimitätsdefizit keine sichtbare Krise nach sich. In den 1970ern hielten sich in Venezuela zwar Guerillagruppen, und verschiedene Stadtteile im Westen von Caracas galten als unkontrollierbar, doch im Großen und Ganzen war die Lage stabil. Das klassenübergreifende "positive-sum game, with middle- and low-income groups enjoying blanket subsidies, low taxation, and generous welfare" (Buxton 2003: 115) geriet erst ab 1980 in Schwierigkeiten, als der Ölpreis fiel und die Reagan-Administration mit ihrer Hochzinspolitik gleichzeitig weltweit Finanzströme in Richtung USA in Bewegung setzte und damit für die explosionsartige Verteuerung des Schuldendienstes sorgte. Nachdem die Kapitalflucht aus Venezuela 1982 mit 8 Milliarden US-Dollar eine Rekordmarke erreicht hatte, wertete die christdemokratische Regierung von Herrera Campíns 1983 den Bolívar um 60 Prozent ab. Die Kosten der Krise wurden dabei systematisch nach unten abgewälzt. 1983 bis 1989 fielen die Reallöhne um ein Fünftel, der Armutsanteil der Bevölkerung stieg bis 1991 auf 68 Prozent, und Venezuela widerfuhr wie allen lateinamerikanischen Staaten eine grundlegende Modifikation der Rolle des Staates. Unter dem Einfluss der neoliberalen Doktrin des so genannten Washington Consensus, "the states of the peripheral and semiperipheral countries came to operate more like 'a kind of subcontractor or franchise holder' (Sousa Santos) than like democratic representatives of national sovereignty" (Lander 2005: 5).

Dass der Veränderungsprozess der letzten Jahre einen so ausgeprägt nationalistischen Charakter besitzt, hat hiermit und mit der sich daraus ergebenden Stellung der Eliten zu tun. Mommer (2003) beschreibt am Beispiel des staatlichen Erdölunternehmens PDVSA detailliert, mit welchen Strategien sich das Management des Konzerns ab der Nationalisierung 1976 darum bemühte, Gewinnausschüttungen an den Staat zu vermeiden, sich mit Hilfe internationaler Kapitalanlagen der politischen Kontrolle zu entziehen und schließlich sogar die Re-Privatisierung von PDVSA zu forcieren. Diese Haltung des Managements ist durchaus bemerkenswert. Immerhin muss den Managern in Anbetracht der realen Kräfteverhältnisse auf den Weltmärkten durchaus klar gewesen sein, dass ein Verkauf von PDVSA auf eine Übernahme durch US-amerikanisches oder europäisches Kapital hinauslaufen würde. Wenn das PDVSA-Management die Privatisierung trotzdem vorantrieb, dann weil es sich stärker mit den Interessen von Shell oder Exxon identifizierte als mit denen der venezolanischen Bevölkerung. Die Verteidigung "nationaler Souveränität" impliziert vor diesem Hintergrund also eine Haltung gegen die einheimischen Eliten und zumindest tendenziell die Hinwendung zu einer staatlichen Ausgabenpolitik, bei der die Gelder nicht in die Heimatländer der transnationalen Unternehmen transferiert werden, sondern potenziell der Bevölkerung zugute kommen können.4

Wenn man die Heftigkeit verstehen will, mit der die Opposition die Chávez-Regierung in den vergangenen Jahren bekämpft hat, muss man wissen, dass die venezolanische Gesellschaft, anders als die große Erzählung der Bürgerlichen es unterstellt (die an ihrer Geschichte einer bis 1998 harmonischen, multirassischen Gesellschaft festhalten), nicht erst von Chávez polarisiert wurde. Tatsächlich setzten schon vor langer Zeit vielfältige, untergründige Distanzierungsprozesse ein, die sich zum Teil mit der von den Eliten ab 1983 forcierten Politik der Abwälzung der Krise nach unten erklären lassen, aber über das strikt Ökonomische deutlich hinausreichen.

Besucher Venezuelas waren in den 70er und 80er Jahren stets überrascht über die Präsenz von als US-amerikanisch geltenden Zeichen und Einrichtungen. Man muss in diesem Zusammenhang jedoch fragen, ob Hamburger-Schnellrestaurants tatsächlich etwas mit US-amerikanischer Kultur oder aber mit industrieller Warenförmigkeit zu tun haben. Tatsache ist jedoch, dass in Venezuela wie in vielen anderen Staaten der Dritten Welt ein Lebens- und Konsummodell hegemonial war, das sich nicht autochthon herausbildete, sondern im Rahmen kolonialer und postkolonialer Machtverhältnisse transferiert wurde. Strategien politischen und ökonomischen Ausschlusses, die Identifikation der Eliten mit den globalen Zentren der Macht, die von Eliten monopolisierte mediale Repräsentation und der Import kultureller Muster aus den Industriestaaten bildeten damit faktisch eine nicht zu lösende Verbindung. Die überwiegend weißen, häufig von Kolonialeliten abstammenden, über keine tragfähigen Wirtschaftsstrukturen verfügenden und sich damit als franchise holders der ökonomischen Zentren verhaltenden Eliten betrachteten alle nicht mit dem globalen Norden identifizierbaren Kulturformen im besseren Fall als Folklore, im schlechteren als zu überwindende Rückständigkeit.5

Dieses postkoloniale Bewusstsein hat in Venezuela ganz eigene Absetzbewegungen in Gang gesetzt. Unter den Eliten führte der mit der Wirtschaftskrise zusammenhängende Anstieg der Kriminalitätsrate zur Verbreitung eines rassistisch motivierten Diskurses der "gefährlichen Klasse" und zu einer auch räumlichen Abtrennung der Oberschicht von ihrem Land. "Countless streets in middle- and upper-class neighborhoods were closed and privatized; increasingly, bars and electric fences surrounded houses and buildings in these areas" (Lander 2005: 8). In diesem Prozess, der die Bewohner von Armenvierteln zu Repräsentanten des Anderen und die Barrios zu geheimnisvollen, auf Stadtplänen als weiße oder gar grüne Fläche verzeichneten Nicht-Orten machte, konfigurierte sich die Stadt komplett neu. Der real gelebte urbane Raum hat in Venezuela heute mit Nähe nichts mehr zu tun. Es kommt nicht selten vor, dass Angehörige der Ober-, aber auch der Mittelschichten in Paris oder London studiert haben und regelmäßig für ein paar Tage nach Miami fliegen, aber noch nie in ihrem Leben eines der Armenviertel betreten haben.
Umgekehrt haben aber auch die Bewohner der Barrios Absetzungstaktiken entwickelt, deren Ursprünge weit in die Geschichte des Kolonialismus zurückreichen und die die politische und mediale Repräsentation in den vergangenen zwei Jahrzehnten nachhaltig unterlaufen haben. Bei den Feierlichkeiten zu Ehren des Heiligen Juan wird diese Unterwanderung, die sich auch als kulturelle Autonomie lesen lässt, besonders manifest. Die verschleppten Afrikaner, denen von den Kolonialherren Religion und Sprache verboten worden waren, besetzten die aufgezwungenen religiösen Zeichen mit eigenen Bedeutungen. Auf diese Weise übernahmen die europäischen Heiligen, die bei den katholischen Feiern in Prozessionen durch die Armenviertel getragen werden, die Stellung der afrikanischen Götter. Hinter den spanischen Namen und weißen Figuren verstecken sich unterdrückte, "schwarze" Gottheiten, deren bloße Existenz die Machtverhältnisse immer wieder neu in Frage stellt.
So gesehen wird bei diesen Feiern, die oft von Nachbarschaftskomitees, also den Trägern politischer Selbstorganisation, vorbereitet werden, die Trennung von Kulturellem, Religiösem und Politischem faktisch aufgehoben, "die Stadtteilaktivisten haben die Grenzlinien zwischen den Bereichen", wie Jeff Derksen, ein kanadischer Kulturwissenschaftler es in einem Gespräch ausdrückte, "erfolgreich kollabiert". Stadtteil- und Medienaktivisten in Caracas begreifen es denn auch explizit als Ausdruck politischer Widerständigkeit, religiöse Zeichen umzudeuten, unterdrückte kulturelle Formen zu praktizieren und medial Unsichtbares sichtbar zu machen.6

Die sich in den 1980er Jahren herausbildende gesellschaftliche Krise kann deshalb als (bislang auch unter der Regierung Chávez nicht gelöste) Krise der Repräsentation beschrieben werden. Ein wesentlicher Teil der Gesellschaft wurde nicht nur durch die neoliberalen Reformen von 1983 von ökonomischer Teilhabe ausgeschlossen (auf die politischen Entscheidungsprozesse hatte die Mehrheit schon zuvor nur geringen Einfluss ausgeübt), er wurde auch von den kulturellen und medialen Repräsentationsapparaten regelrecht zum Verschwinden gebracht. Das diskursiv produzierte Selbstbild der venezolanischen Gesellschaft stimmte mit der Lebenswirklichkeit der Mehrheiten nicht mehr überein. Dabei fand ein mindestens doppelter Bruch statt: Einerseits führte die Legitimitätskrise des politischen Establishments zu einer Distanzierung der Mittelschichten von den klassischen Vertretungsapparaten, also Parteien und Gewerkschaften. Die Mittelschichten sahen sich als moderne, offene Bürgergesellschaft, von der sich die korrupte Politik immer weiter entfernte. Andererseits schloss dieser auf Modernisierung (sprich Anschluss an die USA und Westeuropa) abzielende Bürger- und Zivilgesellschaftlichkeitsdiskurs wiederum die arme Bevölkerungsmehrheit aus, und es kam, wie es in Venezuela heißt, zu einem Bruch zwischen dem "Venezuela imaginaria" der Bessergestellten und dem "Venezuela profunda" der armen Mehrheiten. Es ist dieser umfassende Kollaps der Repräsentation, der schließlich dem Aufstieg von Chávez in den 1990er Jahren den Weg bereitete.


Caracazo, Aufstandslinien
und Chávez' "Bolivarianische Bewegung"

Die vielfältigen, gesellschaftlichen Risse, bei denen sich ökonomische, kulturelle und politische Aspekte ineinander schoben, manifestierten sich am 27. Februar 1989 - zur Überraschung der gesamten venezolanischen Gesellschaft. Dem Caracazo, jener Revolte, die zum Auslöser neuer Aufstandsdynamiken in den 1990er Jahren werden sollte, vorangegangen war die Rückkehr des Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez ins Präsidentenamt. Von der Bevölkerung in der Erwartung gewählt, Pérez werde an die während seiner ersten Amtszeit 1974-79 praktizierte Politik anknüpfen, unterwarf sich der Präsident unmittelbar nach dem Amtsantritt dem Spardiktat des IWF, das u. a. die Kürzung von Lebensmittel- und Transportsubventionen vorsah. Die als politisch apathisch geltende Bevölkerung reagierte mit erbitterten Protesten und Plünderungen, die selbst die seit langem auf eine vergleichbare Revolte hinarbeitenden radikalen Gruppen völlig unvorbereitet trafen. Möglicherweise war es gerade das Fehlen einer wahrnehmbaren Linken, das die Energie des Caracazos erklärt. Weil die vielfältigen Wünsche der Bevölkerung nicht vermittelt, strukturiert und damit auch gehegt wurden, brachen sich diese mit ungeheurer Wucht ihren Weg.

Die Regierung der sozialdemokratischen Acción Democrática (AD) reagierte mit brutaler Gewalt. Pérez, dessen Korruptionsregime die Wirtschafts- und Finanzkrise wesentlich mit zu verantworten hatte, verkündete den Ausnahmezustand. In den Folgetagen wurden nach offiziellen Angaben 300, nach Zahlen von Menschenrechtsorganisationen mehrere Tausend Personen v.a. in den Slums von Caracas erschossen. Die "gefährliche Klasse" wurde kollektiv bestraft. In den Sozialbausiedlungen des 23 de Enero kann man bis heute die Einschusslöcher sehen, die Nationalgarde und Militärs hinterließen, als sie wahllos auf die Wohnhäuser feuerten.

Die spezifische Verbindung von Raub und Repression, wie sie in der Gestalt des Präsidenten Carlos Andrés Pérez verkörpert zu sein schien, wurde zum symbolischen Auslöser für das Entstehen neuer Aufstandslinien in der Gesellschaft. In den Barrios entfalteten sich in den 90er Jahren Basisinitiativen, die an früheren, meist von der Linken initiierten Projekten anknüpften: alternative Medien, Stadtteilversammlungen, Menschenrechtsgruppen, kulturelle Zirkel. Diese neue Opposition formulierte das Politische in gewisser Hinsicht neu. Dass es in Caracas vor der Wahl von Chávez zahlreiche illegale Piratenradios gab, die zum Teil direkt von Barrio-Bewohnern betrieben wurden und mit "Alternativkultur", wie sie in Europa praktiziert wird, wenig zu tun haben, ist ein Ausdruck dieses untergründigen Aufbegehrens. Aber auch Projekte der nicht integrierten parlamentarischen Linken gewannen eine neue Dynamik. La Causa Radical, eine Partei, die ihre Wurzeln v.a. in der Gewerkschaft der Aluminiumarbeiter von Ciudad Guyana besitzt, gewann den Gouverneursposten des Bundesstaats Bolívar und 1993 mit dem heutigen Erziehungsminister Aristúbolo Istúriz, einem Afrovenezolaner, auch das Bürgermeisteramt von Caracas.7 Parallel dazu kam es an der - wenn man so will - entgegengesetzten Stelle der Gesellschaft, nämlich in den Reihen von Militärs und Polizei, ebenfalls zu konspirativen Bewegungen. Im Februar und November 1992 gab es zwei Putschversuche, die im wesentlichen damit begründet wurden, dass die Pérez-Regierung korrupt und nach dem Massaker während des Caracazo auch illegitim sei, die neoliberale Reformpolitik wegen ihrer sozialen Folgen beendet werden müsse und die Armee nicht länger als Repressionsorgan gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden dürfe.8 Harnecker (2003) erklärt diese Haltung eines Teils des Offizierkorps u.a. mit der Orientierung der venezolanischen Armee an den "bolivarianischen Idealen", dem vergleichsweise hohen Bildungsniveaus der Berufssoldaten, die seit Jahrzehnten zum Universitätsstudium animiert wurden, und der Herkunft vieler Militärs aus der Unterschicht. Diese Argumentation scheint mir jedoch nicht besonders überzeugend, denn vergleichbare Aspekte lassen sich für fast alle lateinamerikanischen Länder formulieren. Vielleicht sollte man stattdessen auch in den Reihen der Militärs eher von einem untergründig wuchernden Prozess ausgehen, der sich nicht in der Bildung von sichtbaren Organisationen, als vielmehr in einer Vielzahl singulärer Distanzierungs- und Absetzbewegungen ausdrückte. Chávez etwa, der den ersten Umsturzversuch im Februar 1992 anführte und über Nacht populär wurde, als er im Fernsehen die Verantwortung für den gescheiterten Putsch übernahm, sympathisierte seit den 1970er Jahren mit der Linken und hatte sich speziell mit der Politik des peruanischen Militärs Juan Velasco (während dessen Präsidentschaft 1968-76 das Bankenwesen und Zeitungen in Belegschaftshände übergeben worden waren) und des Panamesen Omar Torrijos (der die USA zum Rückzug aus der Kanalzone gezwungen hatte) beschäftigt. Ausgehend von diesen linksnationalistischen Einflüssen gründeten Chávez und andere Militärs in den 1970er Jahren winzige Verschwörerzirkel, die von der Notwendigkeit einer revolutionären, zweiten Unabhängigkeitsbewegung überzeugt waren. Diese Zirkel kommunizierten zwar untereinander, doch bildeten sie keine politische Kraft. In gewisser Weise ist dies das zentrale Charakteristikum des venezolanischen Prozesses: Überall in der Gesellschaft bildeten sich solche molekularen Strukturen, ob nun in Form von Avantgardeparteien des Sozialbauviertels 23 de Enero, den Kooperativennetzwerken im Bundesstaat Falcón oder eben den Verschwörerzirkeln in den Reihen der Militärs. Doch keiner dieser Ansätze erfüllte das Kriterium einer Organisation oder Bewegung.

So gesehen lässt sich mit dem Begriff des Politischen im Venezuela der 1970-90er Jahre - und in gewisser Weise auch heute noch - nur schwer argumentieren. Die Gesellschaft war und ist gleichzeitig politisch elektrisiert und doch von einem Vakuum gekennzeichnet, das sich - auch das scheint paradox - immer wieder als hochproduktiv erwiesen hat. Die Figur Chávez hat die Leerstelle der Nicht-Repräsentation in den vergangenen zehn Jahren bis zu einem gewissen Punkt ausgefüllt. Als der ehemalige Putschist 1994 aus der Haft entlassen wurde, formierte er um sich herum eine Sammlungsbewegung, die über die von ihm gegründete Wahlallianz MBR (Movimiento Bolivariano Revolucionario, später MVR, Movimiento Quinta República) weit hinausreichte und die diffuse Linksopposition zu einem konkreten Projekt zusammenführte: dem Sturz des Puntofijismo, also des klientelistischen Zweiparteiensystems. Neben dieser Figur jedoch existierte ein offenes Feld des Diffusen fort, in dem sich massenhaft singuläre Prozesse ereigneten.
Als zentrales, identitätsstiftendes Moment für dieses Feld dient der Rückgriff auf die Unabhängigkeitsführer des 19. Jahrhunderts, besonders auf Simón Bolívar. Anderson (1998) hat an Beispielen verschiedener Nationalbewegungen aufgezeigt welch zentrale Rolle die politische Erzählung, dabei durchaus auch konkret in Form von Literatur, bei der Formierung von Nationen gespielt hat. Chávez' anekdotenhafte Kommunikationsweise, die jeden Sonntag in der Fernseh-Show Alo Presidente zu erleben ist, unterstreicht diesen narrativen Charakter des "Bolivarianismus". Ramírez Voltaire/Müller (2004) weisen jedoch richtig darauf hin, dass es mehr verdeckt als erklärt, dies mit dem Schlagwort "Populismus" zu belegen und zu reduzieren. Die Verwendung des in Medien und Sozialwissenschaften nur unscharf umrissenen Begriffs des Populismus, so Ramírez Voltaire/Müller, verfolge meist denunziatorische Absichten, sei also in gewisser Hinsicht selbst populistisch. Politik in Zeiten der Massenmedien gehe zwangsläufig mit populären Formen der Kommunikation einher. Das Spezifische an Chávez und dem "Bolivarianismus" sei nicht der Rückgriff auf populären Erzählungen und Bildersprachen, sondern der Charakter des politischen Projekts.
Was jedoch kennzeichnet den Bolivarianismus? Wilpert (2005), dessen umfassende und fundierte Analyse der Regierungspolitik von Chávez 2006 endlich im Londoner Verlagshaus Verso erscheinen soll, nennt sechs inhaltliche Charakteristika des Projekts (ebd.: 43-46): erstens die Bedeutung, die - ganz in der Tradition von Aufklärung und der Unabhängigkeitsbewegung des 19. Jahrhunderts - Bildung und Erziehung beigemessen wird; zweitens das Projekt eines zivilmilitärischen Bündnisses, das die Bolivarianer, Wilpert zufolge, v.a. von der Kriegsführung Ezequiel Zamoras9 herleiten; drittens die von Bolívar angestrebte lateinamerikanische Integration; viertens soziale Gerechtigkeit, wie sie sich historisch in Bolívars Einsatz für die Sklavenbefreiung auszudrücken scheint; fünftens die Erringung nationaler Souveränität als eine Art nachholende nation building und sechstens das Postulat, eigene, spezifisch lateinamerikanische Lösungsmodellen zu entwickeln, wie es vom Pädagogen Simón Rodríguez aufgestellt wurde.10

Mit diesem Idearium, das aus europäischer Sicht nicht spezifisch links ist, aber im lateinamerikanischen Kontext tendenziell eine Verbindung mit sozialistischen Projekten eingeht, formulierte Chávez eine Alternative zum traditionellen politischen System. Tatsächlich kollabierten die beiden großen, schon Anfang der 90er angeschlagenen Parteien Acción Democrática und COPEI bei den Wahlen Ende 1998 vollständig. Im Unterschied zu Lula oder anderen linken Staatsmännern begnügte sich Chávez jedoch nicht mit dieser Amtsübernahme, sondern verfolgte die versprochene Transformation der Gesellschaft auch nach 1998 systematisch weiter - als eine Art Reformrevolution, die mit den existierenden politischen Strukturen zwar grundlegend brechen, aber trotzdem den Rahmen der Rechtsstaatlichkeit nicht verlassen sollte. Trotz erheblichen Widerstands auch aus Reihen der eigenen Koalition sorgte Chávez innerhalb kürzester Zeit für die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung und setzte sein Projekt einer relativ fortschrittlichen, nicht-neoliberalen und sowohl die Macht des Präsidenten als auch die Bürgerbeteiligung stärkenden Verfassung durch. Zwölf Monate nach seinem Amtsantritt wurde der so genannte Puntofijismo in einem Referendum faktisch beerdigt und die verbliebenen Machtstrukturen der traditionellen Parteien wurden stark geschwächt.11
Dennoch besaß die im Parlament von einer breiten Mehrheit getragene Regierung bis 2001 kaum ein sozialpolitisches Profil. Man konzentrierte sich stattdessen auf außenpolitische Initiativen. So setzte Venezuela eine neue OPEC-Vereinbarung durch, die die Mitgliedsstaaten zur Einhaltung der Förderdisziplin verpflichtete und schon bald den Ölpreis stabilisierte, widmete sich der lateinamerikanischen Integration, nahm Beitrittsverhandlungen mit dem Mercosur auf und distanzierte sich in gleich drei Fragen deutlich von den USA: Die Chávez-Regierung bezog Stellung gegen die im Rahmen des Plan Colombia geleistete US-Militärhilfe an den kolumbianischen Staat, knüpfte demonstrativ neue Beziehungen zu Kuba und leistete bei den Verhandlungen über die gesamtamerikanische Freihandelszone ALCA offen Widerstand gegen die Vorschläge der US-Delegation. Erst Ende 2001 begann eine zweite Phase der Regierung Chávez, als diese mit einem Bildungsdekret, das Angehörigen der Unterschicht den Zugang zu den Hochschulen erleichtern sollte, sowie mit zwei Landreformen - einer städtischen zur Legalisierung von Slumsiedlungen und einer klassischen Agrarreform - auch Sozialreformen verabschiedete. Die Bemühungen der Regierung, die Einkommensverteilung zu modifizieren und zu diesem Zweck die politische Kontrolle über das staatliche Ölunternehmen PDVSA zurückzuerlangen, führten schließlich dazu, dass sich, angeheizt von den privaten Medien, eine breite bürgerliche Opposition formierte. Im April 2002 waren Hunderttausende auf der Straße, es kam zum berühmten Putschversuch12, auf dessen Scheitern schon wenige Monate später, nämlich im Dezember 2002, ein 60tägiger Management- und Unternehmerstreik13 folgte, der die venezolanische Ökonomie an den Rand des Zusammenbruchs brachte und den Staat faktisch zahlungsunfähig machte. Die Erfahrung der Regierung Chávez, dass sie in beiden Krisensituationen nicht von den Linksparteien, sondern von einer Basismobilisierung in den Armenvierteln gerettet wurde, dürfte mit verantwortlich dafür gewesen sein, dass sich das Reformtempo 2003 spürbar beschleunigte. Nach und nach wurden die mittlerweile auch in Europa bekannt gewordenen Misiones in Gang gesetzt: die Bildungskampagnen Robinson (Alphabetisierung), Ribas (zur Erlangung der Hochschulreife) und Sucre (zur Studienvorbereitung und -durchführung), das mit 14.000 kubanischen Ärzten umgesetzte, allgemein als erfolgreiche anerkannte Programm Barrio Adentro, die zur Gründung von Genossenschaften vorbereitende Berufsausbildungskampagne Vuelvan Caras sowie diverse andere Projekte. Aktivisten in der Sozialarbeit merken dazu allerdings kritisch an, dass der gesellschaftlichen Mobilisierung oft mehr Gewicht beigemessen wird als der organisatorischen Nachhaltigkeit der Programme (vgl. das Interview mit Pater Armando Janssens von Eisenbürger/Küppers 2005).

Das Bemerkenswerte an diesen Misiones ist, dass sie zwar vom Staat finanziert werden, aber die Bevölkerung immer wieder zur Selbstorganisierung animiert haben. Dabei ist das (keineswegs konfliktfreie) Zusammenspiel von Staat und Basisorganisierung nicht das Ergebnis eines strategischen Plans. Es war vielmehr so, dass die Regierung aus Ermangelung einer funktionierenden staatlichen Struktur und wegen des heimlichen Boykotts einer noch aus dem Puntofijismo stammenden Bürokratie häufig auf Basisinitiativen vor Ort zurückgreifen musste, um überhaupt Reformen umzusetzen. Diese Politik der Improvisation, die häufig als auch das "Setzen eines bypass" bezeichnet wird, implizierte den Aufbau einer provisorischen alternativen Staatlichkeit. Die Misiones wurden außerhalb der Ministerien angesiedelt, nicht aus dem Staatshaushalt, sondern von PDVSA finanziert (was eine schnellere Bewilligung der Gelder ermöglichte) und statt von Staatsangestellten, von der Bevölkerung umgesetzt: Beim Bildungsprogramm Ribas etwa organisieren die Stadtteilorganisationen Klassenräume und Übungsleiter, der Staat, der über nicht genug ausgebildete Lehrer verfügt, stellt Bücher, Fernseher und Videos zur Verfügung, und der eigentliche Unterricht wird vom Band abgespielt. Auf diese Weise ist es zu einer neuen, allerdings staatlich kooptierten Selbstorganisierungswelle gekommen (vgl. Zelik 2005).

Eine dritte Phase der Chávez-Regierung lässt sich schließlich seit August 2004 beobachten, als das Abwahlreferendum gegen den Präsidenten von einer 60-Prozent-Mehrheit abgelehnt wurde und die Opposition weitgehend zerfiel. Die aufgrund des hohen Ölpreises angewachsenen Staatseinnahmen ermöglichen es der Regierung seitdem nicht nur, ihre Sozialprogramme auszubauen, im großen Stil den Aufbau von Genossenschaften zu fördern und Modellprojekte zu finanzieren, die beweisen sollen, dass ein alternativer endogener Entwicklungsweg denkbar ist. Die Regierung setzt den Ölreichtum auch außenpolitisch ein. Mit Brasilien, Argentinien, Mexiko und Bolivien plant sie den Aufbau eines lateinamerikanischen Erdölkonzerns, in der Karibik wird 13 Staaten Öl zu Vorzugspreisen garantiert, der argentinischen Regierung hat Caracas unlängst durch den Kauf von Staatsanleihen dabei geholfen, unabhängiger vom IWF zu werden, und nicht zuletzt versucht Venezuela sogar in den USA, mit Öl Politik zu machen. So wurde das in venezolanischem Staatsbesitz befindliche Unternehmen CITGO im Herbst 2005 angewiesen, Sozialprojekten in den USA Heizöl und Benzin zu Solidarpreisen anzubieten.

Die Regierung Chávez hat dabei, trotz ihres bisweilen bizarr anmutenden Stils ein bemerkenswertes Gespür dafür entwickelt, wie die unipolare Machtstellung der USA irritiert werden kann. Ein Lieferabkommen mit China hat in Washington ebenso Reaktionen provoziert wie Venezuelas neue Kontakte nach Russland oder der Kauf von Rüstungsgütern in Höhe von 2 Milliarden Euro in Spanien. Die guten Beziehungen zu Ländern wie China und dem Iran oder der Rüstungskauf in Spanien machen dabei allerdings auch deutlich, wie problematisch die internationale Politik der Chávez-Regierung ist: Von moralischer Integrität kann kaum die Rede sein. Und letztlich muss man auch bei Venezuelas Integrationspolitik in Lateinamerika fragen, wem diese zugute kommt. Die bisher geschlossenen Handelsabkommen nutzen den ökonomischen Eliten der Nachbarstaaten deutlich mehr als deren Bevölkerungen.

Gesellschaftliche Prozesse und Deleuzes/Guattaris "Rhizomatik"

Doch was treibt die Veränderungen in Venezuela eigentlich an? Dass der Prozess mit der Wahl Chávez' zum Präsidenten und der Reformpolitik seiner Regierung nicht hinreichend erklärt ist, dürfte auf der Hand liegen. Doch auch ein Ansatz, der sich ‚klassisch-links' bemüht, die vergangenen 20 Jahre als evolutionären Ablauf von Klassenauseinandersetzungen, Organisierungsprozessen und der Übernahme des Staates durch eine Linksregierung zu interpretieren, bleibt unbefriedigend.
Wie bereits erwähnt ist der venezolanische Prozess in vieler Hinsicht untypisch verlaufen. Die Übernahme und der Umbau der Staatsmacht sind rechtsstaatlich erfolgt und haben die Dichotomie "Reform versus Revolution" an entscheidenden Punkten hinter sich gelassen. Die gesellschaftlichen Bewegungen zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen kulturelle, religiöse und politische Artikulationen in eins fallen. Und schließlich - was noch wichtiger ist - scheint der Transformationsprozess weder ein benennbares Subjekt noch eine wirkliche Entfaltung zu kennen. In Venezuela gab es keine Partei, keine Bewegung mit artikuliertem Programm, die die gesellschaftlichen Brüche seit Mitte der 1980er Jahre wirkungsvoll "politisiert" hätten. Das, was normalerweise als politische Landschaft beschrieben wird, ist in Venezuela auffällig verwaist. Eine Linke existiert zwar und kontrolliert die Parlamente, aber aufgrund der nach wie vor verbreiteten klientelistischen Praktiken ist ihre Legitimität und damit auch ihre Ausstrahlung auf gesellschaftliche Prozesse gering. Das Politische ist diffus, verlässliche organisatorische Strukturen sind schwer zu finden. Gleichzeitig jedoch gibt es auch keine "Klasse für sich", die sich durch einen Bewusstwerdungsprozess nach dem Caracazo 1989 aus der "Klasse an sich" herausgeschält hätte. In gewisser Hinsicht sind die politischen Subjekte, mit denen die Linke gewöhnlich gesellschaftliche Prozesse (und zwar diskursiv-analytisch wie praktisch-intervenierend) zu strukturieren versucht - nämlich Partei, Bewegung, Klasse - nicht vorhanden.

Selbstverständlich gibt es in Venezuela Klassen. Offensichtlicher als in dem südamerikanischen Land können ökonomische Gegensätze kaum ausfallen. Doch die politisch-historische Kategorie des Klassensubjekts unterstellt einen Grad an Geschlossenheit und Kollektivierung des Willens, wie er in Venezuela nicht zu entdecken ist (und möglicherweise in der Geschichte überhaupt nur selten anzutreffen ist). Die Barrios sind zwar Orte, an denen sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder politisches Denken-Handeln organisiert hat und somit sind ihre sozialen Strukturen konstituierend für die politischen Transformationen in Venezuela. Aber die Barrio-Bewohner als historisches Subjekt oder als eine im Territorium formierte Klasse zu beschreiben, sorgt denn doch für mehr Fragen als Antworten.

Glaubt man den Berichten von Stadtteilaktivisten in Caracas, bildeten sich in entscheidenden Momenten der gesellschaftlichen Auseinandersetzung - während des Caracazos 1989, beim rechten Putschversuch im April 2002 und im Verlauf des Unternehmerstreiks Dezember 2002 bis Februar 2003 - Formen des Handelns heraus, die mit politischer Subjektivität nur bedingt zu tun haben. Die Armutsrevolte des Caracazo ließ das Scheitern der klientelistisch strukturierten Modernisierung manifest werden und fügte dem neoliberalen Projekt frühzeitig eine nachhaltige Niederlage zu. Doch die Protagonisten der Revolte hatten dieses Ziel nie verfolgt. Sie bewegten sich außerhalb dessen, was gemeinhin als politisch beschrieben wird, und hatten in dieser Hinsicht mehr mit den Jugendlichen gemeinsam, die im Herbst 2005 die Banlieues in Frankreich brennen ließen, als mit klassischen lateinamerikanischen Bauern- und Arbeiterbewegungen.

Nun könnte man Ereignisse wie den Caracazo aus einer evolutionistischen Perspektive als Durchlaufstadium begreifen (und damit still stellen). Nach dem Motto: Eine Klasse muss zu sich selbst finden, eine ‚vorpolitische' Eruption geht der Kristallisation eines ‚bewussteren' Prozesses vorher. Doch auch in den Jahren danach trugen die Ereignisse in Venezuela immer wieder ähnliche Züge. Als rechte Militärs, Manager von PDVSA und die großen Medienkonzerne am 11. April 2002 erst für Massenproteste der Mittelschicht, dann für die mediale Inszenierung tödlicher Auseinandersetzungen am Rande der Oppositionsdemonstration und schließlich für "die legitime Befehlsverweigerung" der Militärs gegen die Chávez-Regierung sorgten (zur Chronologie dieses "Medienputsches" vgl. Wilpert 2003, Lemoine 2003a, b und c, Melcher 2005, Castillo 2003), erwiesen sich die Regierungsparteien MVR, PPT und MAS als hilflos, dem Putsch etwas entgegenzusetzen. Trotz der massiven Unterstützung für den Präsidenten in den Armenvierteln - nicht umsonst hat Chávez seit 1998 alle demokratischen Abstimmungen im Land gewonnen - war die Linke nicht in der Lage, Gegenwehr zu organisieren. Die Parteilinke löste sich förmlich in Luft auf, die meisten Mandatsträger tauchten unter. Es waren Netzwerke in den Stadtteilen, über die sich im Verlauf des 12. April zunächst unterdrückte Informationen zu verbreiten begannen und schließlich am 13. April 2002 große Kundgebungen vor Regierungseinrichtungen und Kasernen zustande kamen, die dann den Meinungsumschwung in den Reihen der Militärs herbeiführten.

Auch hier lässt sich so etwas wie ein strategisches Handeln ohne Subjekt erkennen: Die Protestierenden, die in Hunderttausenden aus den Armenvierteln ins Zentrum strömten, ließen zwar keinen Zweifel an ihrer Entschlossenheit, eine offene Konfrontation mit den Sicherheitskräften wurde jedoch nicht gesucht. Dieses Verhalten und das Fehlen eines planenden Zentrums machte es den Putschisten so schwer, die Proteste einfach zu unterdrücken. Anders als in Chile 1973 schwenkte ein wesentlicher Teil der Armee um; was natürlich auch damit zu tun hatte, dass Chávez als langjähriger Berufssoldat eine größere Rückendeckung in den Reihen der Militärs besaß als seinerzeit Allende. An entscheidenden Punkten der Stadt wurde hingegen wohldosiert gekämpft. Die Stadtteilorganisationen des in unmittelbarer Nähe des Präsidentenpalastes gelegenen Sozialbauviertels 23 de Enero etwa berichten, sie hätten von anrückenden Demonstrationen aus dem Westen der Stadt gewusst und sich deshalb darum bemüht, die zentralen Straßenkreuzungen unter Kontrolle zu bekommen. Eine Kommandozentrale hätte das Vorgehen nicht besser planen können: In einer gezielten Aktion vertrieben Bewaffnete der lokalen Stadtteilorganisationen die Polizei und sorgten so dafür, dass die Demonstranten aus den Barrios bis vor den Regierungspalast gelangten, von den Kameras der internationalen Fernsehsender erfasst wurden und damit nicht länger ignoriert werden konnten.

Bei dem Unternehmer- und Managementstreik schließlich, der zum Jahreswechsel 2002-2003 die Erdölproduktion Venezuelas für 60 Tage lahm legte und die Versorgung mit Grundprodukten zeitweise zusammenbrechen ließ, spielte die Regierung zwar eine etwas aktivere Rolle - sie kaufte Lebensmittel und Treibstoff in Brasilien ein, um die Versorgungsengpässe zu überwinden. Doch die Verteilung der Güter entwickelte sich erneut als, wie es bei Deleuze/Guattari heißt, rhizomatischer Prozess. Es waren die vielfältigen Initiativen von Barrio- und Dorfbewohnern, die sicherstellten, dass die Güter auch tatsächlich verteilt wurden.

Was ist damit gemeint, wenn soziale Prozesse als Rhizome beschrieben werden? Mit dem aus der Botanik stammenden Begriff (der dort Wurzelstöcke wie z.B. den Ingwer bezeichnet), versuchen Deleuze/Guattari (1977a) sich von der Logik der Baummetapher abzusetzen, die ihrer Ansicht nach tendenziell binär strukturiert ist: Es gibt klare Herleitungen und an Verzweigungen ergeben sich in der Regel duale Alternativen. Das Rhizom dagegen wächst unübersichtlich, es kann Querverbindungen und Verdichtungen bilden und impliziert damit keine hierarchische Struktur. Oder wie auf Wikipedia vorgeschlagen wird (http://de.wikipedia.org/wiki/Rhizom_%28Philosophie%29): "Ein Rhizom ist also ein System, das ‚vielwurzelig' verflochten ist und nicht in einfachen Dichotomien aufgeht. ‚Ein Rhizom kann an jeder beliebigen Stelle gebrochen und zerstört werden, es wuchert entlang seiner eigenen oder anderen Linien weiter'" (Deleuze/Guattari 1977a: 16). Seine einzelnen Punkte können und sollen untereinander verbunden werden (Konnexion). Unterschiedlichste Sachverhalte können miteinander in Verbindung treten (Heterogenität). Das heißt allerdings nicht, dass es innerhalb eines rhizomatischen Wissens keine festen Strukturen geben kann. "Jedes Rhizom enthält Segmentierungslinien, nach denen es geschichtet ist, territorialisiert, organisiert, bezeichnet, zugeordnet etc.; aber auch Deterritorialisierungslinien, an denen es unaufhaltsam flieht" (ebd.). Statt Einheiten werden bevorzugt Vielheiten beobachtet, die zugleich Plateaus sind. "Jede Vielheit, die mit anderen durch an der Oberfläche verlaufende unterirdische Stengel verbunden werden kann, so dass sich ein Rhizom bildet und ausbreitet, nennen wir Plateau" (ebd.: 35).

Der Vorteil des Deleuzeschen Begriffs ist, dass in ihm die Vielfältigkeit gesellschaftlicher Bruch- und Emanzipationsprozesse bereits angelegt ist. Im venezolanischen Fall haben sich, wie Deleuze/Guattari postulieren, die mannigfaltigen Praktiken von unten an entscheidenden Stellen der dichotomischen Zuordnung verweigert - so etwa hinsichtlich des in linken Debatten oft so zentralen Verhältnisses von Organisation und Spontaneität. Die Handlungen der Bevölkerung während des Caracazos, des Putschversuchs im April 2002 oder während des Unternehmerstreiks 2003 folgten, wie erwähnt, keiner politischen Linie. Sie wurden nicht orientiert, waren nicht in eine breitere gesellschaftliche Organisierung eingebettet, keine strukturierte soziale Bewegung steckte dahinter. Gleichzeitig wäre es aber auch falsch, sie als spontan zu bezeichnen, denn ohne die Netzwerke in den Barrios (die ihrerseits das Ergebnis vielfältiger, rhizomatischer Prozesse sind: Sie entwickeln sich bei der Besetzung von Land, dem Bau von Wegen und Wasserleitungen, in Konflikten mit der Stadtverwaltung, einfach durch nachbarschaftliches Zusammenleben oder auch in der Auseinandersetzung mit der Kriminalität, die das Leben in den Barrios oft so unerträglich macht) und ohne kontinuierliche politische Arbeit von Aktivisten würden sie nicht stattgefunden haben. Auf eigentümliche Weise haben sich somit Interventionen verknüpft: Der Zerfallsprozess der selbsterklärten guevaristischen und maoistischen Avantgardeparteien in den 70er und 80er Jahren führte in vielen Fällen nicht zum Rückzug der Aktivisten aus der Politik, sondern zu einer Umorientierung. So wurden die Asambleas, die Stadtteilversammlungen, und die alternativen Medien in den Barrios oft von langjährigen Politaktivisten mitgegründet oder zumindest inspiriert. Diese alternativen Projekte haben die Handlungen während der Revolten und Proteste nicht festgelegt, und es wäre wohl auch falsch, von einem durch sie geschaffenen Rahmen zu sprechen. Doch sie haben sie mitproduziert.14

Man kann sich dem Reichtum gesellschaftlicher Prozesse auf verschiedene Weise nähern. Doch Deleuze/Guattari (1992) haben besonders konsequent mit der evolutionistischen Logik gebrochen, wonach sich das Politische erst aus dem Sozialen herausschälen muss. Folgt man den beiden französischen Philosophen, dann stellt sich die aufständische Dynamik von Gesellschaften als das Ergebnis von Ereignissen dar, die sich mannigfaltig und singulär miteinander verbinden und verketten, von Wucherungen und Wachstumsprozessen, die Verdichtungen bilden und neue Stränge auslösen. Nutzt man den Deleuzeschen Impuls zur Betrachtung der venezolanischen Realität, so kommt man zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass sich die grundlegenden Veränderungen im Land weder als Organisations- noch als spontaner Prozess beschreiben lassen.

Die politische Bedeutung der Differenz
Eine solche Annäherung ist mehr als nur eine theoretische Übung. In dem Aufsatz Theatrum Philosophicum, der sich mit Gilles Deleuzes Schriften Differenz und Wiederholung (1992) und Logik des Sinns (1993) auseinandersetzt, bekräftigt Michel Foucault (Deleuze/Foucault 1977) die von Deleuze postulierte Abkehr vom dualistischen, dichotomischen und letztlich auch dialektischen Denken. Beide Philosophen haben sich zu diesem Zeitpunkt ausführlich mit Machtpraktiken beschäftigt, die außerhalb des Schemas ‚Repression und Ideologie' stehen. Foucault hat beschrieben, wie staatliche Macht sich in Prozessen der Normalisierung/Abweichung konstituiert und welche Rolle die Schaffung von Kategorien, Benennungen und Zuordnungen dabei spielen. In Theatrum Philosophicum spricht er nun davon, dass der gemeine Menschenverstand (in einer Abwendung vom Wahnsinnigwerden und der anarchischen Differenz) überall das Identische zu erkennen sucht. Dieses Identifizieren, das aus der chaotischen Vielzahl der Differenz den strukturierenden Widerspruch macht, besitzt dabei nicht nur eine sprachlich-kognitive Bedeutung. Es ist auch politisch relevant: Denn was als identisch erkannt wird, kann repräsentiert werden und in dieser Repräsentation wiederum konstituieren sich Machtverhältnisse. Stattdessen fordert Foucault: "Um die Differenz zu befreien, braucht es ein Denken ohne Widerspruch, ohne Dialektik, ohne Verneinung: ein Denken, das zur Divergenz ja sagt; (...) ein Denken des Vielfältigen, der gestreuten und nomadischen Vielfältigkeit, die von keinem der Zwänge des Selben begrenzt und zusammengefasst wird" (ebd.: 43).

Bei der Beschreibung eines gesellschaftlichen Prozesses (oder, wie man anexakter15 formulieren könnte, einer gesellschaftlichen Prozessualität) wie in Venezuela impliziert das Rhizom mehr als eine andere Schwerpunktsetzung. Wer vom Rhizom spricht, beschränkt sich nicht nur darauf, Veränderungen diffuser, disparater und weniger strukturierend zu beschreiben, als jemand, der von zentralen (binär oder evolutionistisch argumentierenden) Kategorien wie Klassenwiderspruch, Staatsmacht und Politisierung ausgeht. Die Entscheidung für "die Rhizomatik", wie Deleuze/Guattari ihre Herangehensweise nicht ohne Selbstironie bezeichnen, ist durchaus auch strategisch motiviert. Ein Prozess, der sich rhizomatisch in Stadtteilkomitees, Piratenradios, städtischen Gemüsegärten, bolivarianischen Aktionsgrüppchen etc. herstellt, kann nicht politisch repräsentiert werden. Im venezolanischen Fall sind die singulären Momente zwar paradoxerweise durch eine extreme Form der Repräsentation, nämlich durch die Figur Chávez, katalysiert und vermasst worden, aber die Singularitäten decken sich nicht mit dem Repräsentanten, sie gehen nicht in ihm auf.

Das ist der entscheidende, politisch relevante Unterschied, den es heute zwischen den verschiedenen Interpretationen Venezuelas gibt. Die meisten Autoren lesen die Entwicklungen in dem südamerikanischen Land, indem sie Konzepte wie politische Repräsentation, Zentralität oder Führung voraussetzen. D.h. sie erklären die Veränderungen mit der Politik Chávez', staatlichen Vorgaben oder zumindest mit Konzepten und Projekten der bolivarianischen Bewegung (die in der unterstellten Form allerdings überhaupt nicht existiert). Auf dieser Grundlage hat man als Betrachter nur noch die Wahl, entweder die gewaltigen Emanzipationsmomente in der venezolanischen Gesellschaft zu unterschlagen oder aber, wie es eine wachsende Solidaritätsbewegung im Ausland und viele Linke in Venezuela selbst tun, sich auf eine Weise "zu Chávez zu bekennen", die den Aufbruch sofort wieder unterbricht. Denn die befreiende Dimension der Ereignisse äußert sich ja gerade darin, dass vielfältige gesellschaftliche Praxen existieren, die zwar auf die Figur Chávez Bezug nehmen, aber nicht zentral dirigiert werden. Würde die venezolanische Gesellschaft so zu funktionieren beginnen, wie es die Erzählung der chavistischen Linken (und der meisten Solidaritätsgruppen im Ausland) unterstellt, wäre das das Ende der "bolivarianischen Revolution".

Gesellschaftlicher Prozess als produktive Maschine
Dass sich Deleuze/Guattari auf die Ereignisse in Venezuela beziehen lassen, ist im übrigen weniger verwunderlich, als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Es war nicht zuletzt die Erfahrung des ebenfalls von einer enormen sozialen Energie geprägten Mai 1968, die Deleuze/Guattari zu den Arbeiten an Tausend Plateaus (1992) veranlasste. Noch stärker als Rhizom (1977a) oder Anti-Ödipus (1977b) zeichnet sich dieses (eine Vielzahl philosophischer Felder durchquerende) Buch durch hohe assoziative Geschwindigkeit und große literarische Unruhe aus. Deleuzes/Guattaris Art, beschleunigt und herumstreifend zu schreiben, ist dabei mehr als Ornament. Balke, einer der besten deutschsprachigen Deleuze-Kenner, schreibt (1998: 12): "Außerhalb des Stils gibt es strenggenommen für Deleuze keine Philosophie, der Stil aber manifestiert sich nicht in einer besonderen rhetorischen Umschrift des Denkens, sondern in dem Einbruch eines Außen, eines Nicht-Philosophischen in die Selbstbezüglichkeit der Reflexion" (Balke 1998: 12). Wenn man so will, ist die Begeisterung der Autoren für nomadisierende Bewegungen den Texten in jeder Hinsicht eingeschrieben. Das allerdings macht ihre Rezeption oft zu einem schwierigen Unterfangen und hat wohl mit dazu beigetragen, dass Tausend Plateaus in den 90er Jahren im Kunstbereich zu einer regelrechten Modeerscheinung werden konnte. Das Diffuse, Anexakte der Mannigfaltigkeit, das im Buch zentrale Bedeutung besitzt, legt eine diffuse, anexakte Rezeption der Texte nahe. Verschärft ausgedrückt: Man kann aus den Texten herauslesen, was man sich wünscht.
Außer Frage steht jedoch, dass Deleuze / Guattari eine Philosophie der Bewegungen geschaffen haben, die sich längst nicht auf den politischen Rahmen beschränkt. Sie arbeiten in diesem Zusammenhang viel mit kartographischen Begriffen. Unterschiedlichste Prozesse der Veränderung (darunter auch biologische Entwicklungen) werden von ihnen als "Deterritorialisierungen" bezeichnet. Das programmatische Motiv des Nomadischen ist hier erneut unschwer zu erkennen. Gesellschaftliche Bewegungen - also solche, wie sie auch in diesem Artikel diskutiert werden - haben Deleuze/Guattari zufolge keinen eindeutigen Grund. Sie erklären sich vielmehr daraus, dass sich Zustände nicht vollständig mit sich selbst decken können. Es gibt immer einen Überschuss, eine Differenz, eine Mannigfaltigkeit von Wünschen, die über das Existierende hinausweist. Diese Unruhe des Lebendigen ist damit so etwas wie der Motor gesellschaftlicher Deterritorialisierungen.

Es ist vielfach kritisiert worden, dass Deleuze/Guattari mit dieser Herangehensweise das Nomadische idealisieren. Völlig offensichtlich wird das bei ihren Streifzügen durch die Ethnologie, in denen sich die kulturalistische, exotisierende Sehnsucht nach dem "Anderen" manifestiert. Doch entscheidender vielleicht als solche Momente des Kitsches oder Deleuzes/Guattaris bisweilen bemüht wirkenden Versuche, Linguistik, Semiologie, Psychologie und Marxismus zu verbinden, ist wahrscheinlich der von ihrer Arbeit ausgehende Impuls. Im Mittelpunkt stehen bei ihnen nicht die klaren Abfolgen, sondern die Bewegungen und überraschenden Verbindungen.

Für eine Interpretation Venezuelas hat das einigen Wert. Auf diese Weise können Nachbarschaftsbeziehungen, die Arbeit von politischen Kadern, alternative Medien, die Rolle der Militärs, kleinkriminelle Strukturen, eine ökonomische Krise und die ländlich-urbane Beschaffenheit des Raums im Barrio in Beziehung zueinander gesetzt werden, ohne dass sich daraus Herleitungen eines Gesamtprozesses ergeben würden. Die Begriffe Deterritorialisierung, Fluchtlinie (entlang derer Deterritorialisierungen verlaufen) und produktive Verkettung sind dabei nicht nur Metaphern, sie postulieren alternative Formen der Politik. Es ergibt sich eine Beschreibung, mit der Differenzen ohne die ordnende oder hierarchisierende Hand des Widerspruchs gedacht werden können.

So setzen marxistisch-leninistische Kader über den Aufbau von Nachbarschaftskomitees im Caracas der 1980er Jahren eine Bewegung horizontaler Stadtteilversammlungen in Gang. Obwohl viele von ihnen nach wie vor auf das Entstehen einer leninistischen Partei hinarbeiten, zermahlt die Praxis der Asambleas das Konzept der Avantgarde und ersetzt diese. Auch die irritierende Verbindung von Militärs und revolutionärer Linke erscheint nun in einem anderen Licht: Offiziere, die mit Linken überwiegend auf zweierlei Weise in Berührung gekommen sind - über persönliche Kontakte oder über eine Dienstzeit in einer Counterguerilla-Einheit16 -, verweigern sich ihrer Rolle als Repressionsorgane. Sie desertieren aus ihrer Funktion, und es ergeben sich neue Verkettungen: Die Militärs knüpfen konspirative Kontakte ausgerechnet zu jenen Leuten, auf die sie bislang geschossen haben.
Oder auch das Moment der Negritudes, der afrovenezolanischen Gruppen: Die Feiern der schwarzen Barrio-Bewohner sind, wie oben erwähnt, Ausdruck sozialer und kultureller Differenz. Durch die narrative Verknüpfung der religiösen Feierlichkeiten mit der Erinnerung an die Widerstandstaktiken der Sklaven - viele Nachbarschaftsinitiativen bieten aus politischen und sozialarbeiterischen Motiven Trommelkurse an, in denen für die Prozessionen geübt und den Jugendlichen von der afrikanischen Mythologie und vom Widerstand der Schwarzen erzählt wird -, werden Repräsentationssysteme ausgehöhlt. Machtbeziehungen kollabieren, es entwickelt sich eine Eigenartikulation, die ausgerechnet die katholische Prozession zu einem Akt der Widerständigkeit und zum Ansatzpunkt lokaler politischer Organisierung macht. Der befreiungstheologisch inspirierte jesuitische Pfarrer schließlich nutzt die Gelegenheit der Messe, um die Barrio-Bevölkerung zur Formulierung eines autonomen Standpunkts von unten nicht nur gegen die Opposition, sondern auch gegen die Apparate der Regierungsparteien zu ermuntern.

Die jüngere venezolanische Geschichte ist voll von solchen überraschenden Knoten, bei denen sich Differenz auf spezifische, also singuläre Weise miteinander verbunden hat. Singulär meint dabei nicht individuell. Organisationsansätze (darunter wie erwähnt auch leninistische Avantgardeparteien) und kollektive Praktiken haben eine große Rolle bei dem Prozess in Venezuela gespielt. Man kann sie nur nicht aus ihnen ableiten. Es gab durchaus eine Kommunikation zwischen den singulären Absetzbewegungen: Offizierszirkel haben konspirative Kontakte zu linken Stadtteilorganisationen gepflegt, Kulturverbände mit dem linken Pfarrer und der wiederum mit einer Gewerkschaftspartei diskutiert.17 Doch diese Verbindungen haben keine artikulierte politische Bewegung hervorgebracht. Ereignisse und Akteure bildeten, um einen weiteren Begriff von Deleuze/Guattari ins Spiel zu bringen, so etwas wie eine abstrakte Maschine.
Mit diesem Begriff ist kein schematisches, lebloses Funktionieren gemeint, sondern die Existenz sehr vitaler Verschaltungen. In beständiger Produktion greifen Dinge ineinander: Das Wissen um Organisationsprozesse, das der politische Kader nach dem Zerfall seiner Partei in die Nachbarschaftsversammlung trägt (oder ist es umgekehrt und die Partei zerfällt, weil der Kader die Differenz zwischen dem Abstrakt-Politischen und dem Wunsch nicht mehr erträgt und deshalb aus seiner Partei desertiert, sich absetzt?), löst neue Dynamiken aus. Es entwickelt sich so etwas wie eine nomadisierende Revolte, denn Praxen, Erfahrungen und auch Aktivisten wandern von einem Projekt ins nächste, von einem Piratensender zu einer Kooperative und von da vielleicht auch wieder zu einer Partei.

Auf diese Weise fügen sich Wissen, Diskurse, Handlungen und natürlich auch die ökonomischen Bedingungen zu einer gesellschaftsproduzierenden Maschine zusammen. Der Vorschlag Deleuze/Guattaris, diese völlig unterschiedlichen Elemente: nämliche Akteure und Wissensarten, Taktiken und Werkzeuge, kulturelle Erinnerungen und staatliche Strukturen, Ökonomien und Sprechakte nicht auseinander zu dividieren, sondern kartographisch als auf Ebenen angeordnete Momente und gleichzeitig maschinistisch (nicht mechanistisch) als miteinander verzahnte Komplexe zu beschreiben, macht es möglich, Komplexität in einer nicht-schematischen, nicht-esoterischen Weise zu denken.


Re-Territorialisierungen: Chávez, der Staat und die Repräsentation

Wie wird es in Venezuela weitergehen? Auch darauf findet man mit Deleuze/ Guattari ein paar Hinweise. Mit dem Begriff der Reterritorialisierung haben Deleuze/Guattari versucht, die Unterbrechung von Strömen und Fließbewegungen zu fassen. Reterritorialisierungen sind für sie so etwas wie Neueingrenzungen, Hegungen, Festsetzungen. Im venezolanischen Transformationsprozess sind solche Reterritorialisierungen augenscheinlich. Die Fluchtlinien der gesellschaftlichen Emanzipation sind durch konstituierende Bestandteile eben dieses Prozesses verstellt. Der Aufbruch produziert Momente, die ihn blockieren. Dabei fordert das deleuzianische Vokabular allerdings dazu auf, diesen Effekt jenseits der Dichotomie "gute Basisbewegungen versus schlechte Regierung" zu denken. Es ist nicht so simpel, dass hier eine Regierung in autoritärer Absicht einfach die Bestrebungen von unten unterbinden wollte - in mancher Hinsicht kann man sogar das genaue Gegenteil beobachten.

Wohl kein anderer Punkt des venezolanischen Transformationsprozesses ist derart schwierig zu fassen und verwirrend wie die Rolle des Staates. Zum einen ist John Holloway (2002) mit seinem programmatischen Postulat "Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen" in dem südamerikanischen Land gründlich widerlegt worden. Während die von Holloway positiv angeführte Autonomie in Chiapas oder Argentinien in erster Linie zu einer Selbstorganisation der Marginalität geführt hat, ist in Venezuela Bewegungen von unten der Zugang zu gesamtgesellschaftlichen Ressourcen eröffnet worden. Gerade durch die Staatsmacht haben sich enorme Perspektiven eröffnet - und zwar nicht nur in Form von Sozialprogrammen, sondern auch hinsichtlich einer breiten Selbstorganisierung der Bevölkerung. Es ist das vielleicht Sympathischste an der Politik der Chávez-Regierung, dass sie in den vergangenen Jahren enorme Organisierungsdynamiken von unten ermöglicht oder sogar selbst initiiert hat. Die Regierung, Produkt eines Repräsentationskollapses, öffnete ein enormes politisches Feld, als sie, anders als ihre Vorgängerregierungen, die Selbstorganisierung der Armen, der "gefährlichen Klasse", nicht mehr tendenziell kriminalisierte. Die rechten Putschversuche katalysierten diesen Effekt: Sie veranlassten viele Menschen, sich gegen die Opposition zu engagieren. Viele Stadtteilaktivisten sprechen deshalb auch vom 13. April 2002 - dem Tag als sich Hunderttausende der Medieninszenierung eines demokratischen Machtwechsels verweigerten - als dem "eigentlichen Beginn der bolivarianischen Revolution".

Nach diesem Ereignis bemühte sich die Regierung darum, den Erwartungen der Unterklassen gerecht zu werden. Die Misiones waren der Tribut, den die Chávez-Regierung (ob aus aufrechter Überzeugung oder aus Taktik ist zweitrangig) zahlte. Damit wurde nicht nur der Lebensstandard der Unterschicht gehoben, sondern eine neue Selbstorganisierungswelle ausgelöst. Jeder mit kubanischen Ärzten besetzte Gesundheitsposten der Mission Barrio Adentro etwa muss von einem Komitee aus der Nachbarschaft betreut werden, das dessen tägliches Funktionieren sicherstellt. Weil es in Venezuela bislang keine Transmissions-Organisationen (wie es in Kuba die CDR - Comités de Defensa de la Revolución sind) gibt, funktionieren diese Komitees faktisch selbstorganisiert. Zehntausende von Venezolanern haben sich auf diese Weise in Sozialprogrammen eingebracht. Auch hier zeigt sich eine eigentümliche Entwicklung, denn in den Barrios lässt sich erleben, dass diese neue Selbstorganisierung von den alten Selbstorganisationsformen, den linken Nachbarschaftskomitees, nicht mehr repräsentiert, oft nicht einmal mehr verstanden wird. Die neuen Organisierungsformen sind dynamisch, doch sie haben ein grundlegendes Problem: Sie sind nicht wirklich selbständig. Ihre Existenz hängt von staatlichen Programmen ab, ihre Dynamik ist a priori "gehegt" oder, wenn man so will, "reterritorialisiert".
Der Staat und die Führungsperson Chávez üben damit in Venezuela eine seltsame Funktion aus - an dieser Stelle würde ich gegen Foucault und Deleuze/ Guattari denn doch gern auf den Begriff des Widerspruchs zurückgreifen. Denn der Staat und v.a. die oberste Repräsentation des Prozesses, nämlich die Figur Chávez, sind gleichermaßen Voraussetzung und Haupthindernis der Emanzipation: eine Deterritorialisierungsbewegung, der ein Reterritorialisierungsimpuls eingeschrieben ist. Dem dynamischen Ausbruch aus der Unmündigkeit der klientelistischen Repräsentation, der ohne das Gravitationszentrum Chávez nicht möglich gewesen wäre, folgt die Einschreibung in ein neues Gefüge von Repräsentation, in der der Präsident gleichermaßen Projektionsfläche und Stichwortgeber gesellschaftlicher Wunschproduktion ist.
Vor diesem Hintergrund sind die Grenzen der Revolution deutlich zu erkennen. Sprengen werden die Menschen in Venezuela sie nur können, wenn die Akteure, ähnlich wie Deleuze/Guattari, ein geradezu spielerisches Vergnügen an den Mannigfaltigkeiten entwickeln, an den unerwarteten Verbindungen und Wendungen. Die Regierenden müssten dabei die Bereitschaft aufbringen, in dem von ihnen ausgelösten Prozess erneut zu diffundieren und das, was sie mühsam an alternativer Verwaltung und Zentralisation geschaffen haben, sofort wieder zur Disposition zu stellen. Mit Anarchismus hätte das nichts zu tun. Eher schon mit rhizomatisch wachsenden Sprossachsensystemen.

Literatur
Anderson, Benedict (1998): Die Erfindung der Nation, Berlin.
Balke, Friedrich (1998): Deleuze, Frankfurt/Main.
Buxton, Julia (2003): Economic Policy and the Rise of Hugo Chavez, in: Ellner/Hellinger (2005).
Castillo, Antonio (2003): Breaking Democracy. Venezuela's Media Coup, in: Media International Australia incorporating Culture and Policy, No. 108, Sydney, Australia.
Deleuze, Gilles; Foucault, Michel (1977): Der Faden ist gerissen, Berlin.
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix (1977a): Rhizom, Berlin.
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix (1977b): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin.
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix (1992): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II, Berlin.
Deleuze, Gilles; Parnet, Claire (1980): Dialoge, Frankfurt/Main.
Diehl, Oliver; Muno, Wolfgang (Hg.) (2005): Venezuela unter Chávez - Aufbruch oder Niedergang?, Frankfurt/Main.
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1 Carlos Raúl Villanueva, der als Architekt konzeptionell und letztlich auch politisch arbeitete, ging es sicher um etwas Anderes, nämlich um Wohn- und Lebensorte, die das Soziale stärken und inhaltliche Anregungen geben. Die Anlage der Universidad Central in Caracas, die offenen Raum und Struktur, Funktionalität und Kunst miteinander verzahnt, zeigt das deutlich. Es ist eines dieser bereits angesprochenen Spezifika der jüngeren venezolanischen Geschichte, dass die progressivste, politischste Architektur in Zeiten der Diktatur entstand.
2 Der kommunistische Widerstand hatte eine zentrale Rolle beim Sturz der Diktatur von Pérez Jiménez gespielt. Mit dem Punto Fijo-Abkommen jedoch wurde die kommunistische Linke gezielt marginalisiert.
3 Auf dieser Wahrnehmung beruht die v.a. die englischsprachigen Debatten beherrschende These des "Exzeptionalismus", die Venezuela als lateinamerikanischen Sonderfall beschreibt (kritisch hierzu Ellner/Salas 2005).
4 Es ist diese nach wie vor nationale Strukturiertheit des kapitalistischen Weltsystems, die es zu einem grundlegenden Unterschied macht, ob in Ländern des Zentrums oder der Peripherie nationalstaatlich argumentiert wird. In ersteren wird damit für ein strukturelles Ausbeutungsverhältnis gesprochen, in letzteren zumindest tendenziell gegen die herrschenden internationalen Tauschverhältnisse argumentiert.
5 Das erklärt auch die eigentümliche Situation, warum die einheimische schwarze Bevölkerung, darunter auch der farbige Präsident, während des innenpolitischen Konflikts von vielen Angehörigen der weißen Mittel- und Oberschicht immer wieder als monos (Affen) und turba (Horden) bezeichnet, gleichzeitig aber die afroamerikanischen Ikonen der internationalen Musikindustrie weiter gefeiert wurden.
6 Als Beispiel hierfür kann die mehrere Stunden dauernde Live-Übertragung afrovenezolanischer Feiern in einem alternativen Radio von Caracas 2003 gelten (vgl. Zelik 2005: 86-92). Die Hörbarmachung des Nicht-Repräsentierten wurde von den Teilnehmern der Feier als "Manifestation" bezeichnet.
7 La Causa Radical hat sich später gespalten. Der Flügel, der den Namen LCR weiterführt, gehört heute zur Opposition, die Abspaltung PPT (Patria para Todos) ist Teil der Regierungskoalition. Ähnlich auch der linkssozialdemokratische Movimiento al Socialismo (MAS), der in den 70ern von demobilisierten Guerilleros gegründet wurde: Der offizielle MAS befindet sich heute in der Opposition, die Neugründung Podemos besetzt wichtige Regierungsposten.
8 Beide Umsturzversuche waren in gewisser Hinsicht mehr als nur Putsche. Im Vorfeld der Armeerebellionen hatte es Gespräche mit linken Organisationen über die Unterstützung des Aufstands gegeben, doch in beiden Fällen fiel die Beteiligung der nicht-militärischen Linken spärlich aus - ein Ausdruck des gegenseitigen Misstrauens zwischen den Militärs und der politischen Linken.
9 Zamora, der in den 1840er und 1850er Jahren von den Llanos Orientales her der Regierung den Krieg erklärte, deklarierte als erster eine Landreform. Die Geschichtsschreibung der Bürgerlichen beschreibt ihn überwiegend als Banditen, die linke Geschichtserzählung sieht in ihm den Sozialrebellen.
10 Die bolivarianische Bewegung Venezuelas bezieht sich damit auf drei Symbolfiguren: Simón Bolívar, Ezequiel Zamora (als Verteidiger der Landreform) und den Pädagogen Simón Rodríguez, der als Lehrer Bolívars bezeichnet wird.
11 Es ist diese Durchsetzung eines neuen Kräfteverhältnisses, die gemeinhin als Beleg für den Autoritarismus Chávez' herhalten muss. Eine solche Argumentation verkennt jedoch, dass die Strukturen bürgerlicher Demokratien ebenfalls ausgesprochen autoritäre Züge tragen: Sie sollen grundlegende Politikwechsel strukturell erschweren oder ganz unmöglich machen - selbst wenn es dafür demokratische Mehrheiten gibt. Reformen waren in Venezuela deshalb erst nach einer Neuordnung des politischen Systems und einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses möglich.
12 Sehr sehenswert: Kim Bartleys und Donnacha O'Briains Dokumentarfilm The Revolution will not be televised von 2003.
13 Nur in der Ölindustrie, in dem die Opposition strategisch auf den Ausstand hingearbeitet hatte, handelte es sich tatsächlich um einen Streik der Belegschaften.
14 Deswegen wäre es auch falsch, "anarchistisch" oder "spontaneistisch" gegen Kaderorganisationen zu argumentieren und ihre Überflüssigkeit zu betonen. Viele der Erfahrungen, die die politischen Aktivisten in Projekte eingebracht haben, sind das spezifische Ergebnis von Kaderpraxis.
15 "Ein Problem der Schrift: man braucht dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und zwar keineswegs, weil man da hindurch müsste, weil man nur durch Annäherungen weiterkäme: die Anexaktheit ist eben keine Annäherung, sondern im Gegenteil genau die Durchgangsstelle dessen, was im Werden ist." (Deleuze / Guattari 1992: 35)
16 Auf Chávez trifft beides zu: Sein Bruder Adán war in einer revolutionären Organisation, als junger Offizier leistet Chávez Dienst in einer Einheit zur Guerillabekämpfung auf dem Land.
17 Nicht zu unterschätzen ist dabei die "politische Entschlossenheit" der Aktivisten in den 80er und 90er Jahre, denn die Repression gegen Oppositionelle war in Venezuela alles andere als harmlos. Damit ergab sich die eigentümliche Situation, dass Aktivisten zwar oft nur lokal handelten, gleichzeitig aber aus dieser Lokalität heraus Verantwortung für einen Gesamtprozess tragen wollten und dafür oft auch bereit waren, ihr Leben zu riskieren.

PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft
Heft 142, 36. Jg., 2006, Nr. 1