Organizing to win

Unterwegs im US-amerikanischen Niedriglohnsektor

Niedrigste Löhne, keine Sozialversicherungen und unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Das ist die Realität in weiten Teilen des US-amerikanischen Dienstleistungssektors. Die Verteilungsfrage ...

... die Unternehmen in den letzten Jahren meist zu ihren Gunsten beantworten können. Für die Beschäftigten geht es deshalb um viel: um bessere materielle Absicherung, aber auch um Würde und Respekt. Einige Gewerkschaften haben sich der Sache angenommen - und können Erfolge vorweisen. Ein Reisebericht aus den USA. In Newark/New Jersey, auf der anderenSeite des Hudson Rivers und keine 30 Minuten von der tosenden Metropole New York City entfernt, versammeln sich am frühen Morgen neun Beschäftigte aus den Küchen der privaten Montclair-University im örtlichen Zentrum der SEIU (1). Eingeladen hat die SWU (Service Workers United), eine neu gegründete Gewerkschaft und ein gemeinsames Projekt von Unite Here (2) und SEIU. Die SWU zählt zur Zeit gerade mal 3.000 Mitglieder. In den nächsten Jahren sollenes 16.000 werden. Angesichts der auch in den USA sinkenden Mitgliederzahlen von Gewerkschaften ein ehrgeiziges Projekt. Einige der KollegInnen kommen aus dem Umkreis von Montclair, andere reisen täglich aus New York zur Arbeit an. Wilma Neal, Verantwortliche der SWU in New Jersey, erklärt ihnen ihren neuen, genauer gesagt: den ersten Tarifvertrag. Ausgehandelt mit dem Arbeitgeber Sodexho, ein weltweit agierendes Catering-Unternehmen, wurde der Vertrag von einem Komitee aus fünf Beschäftigten und einem Gewerkschaftsverantwortlichen. In New Jersey teilt sich Sodexho den Markt an Schulen, Colleges und Universitäten unter anderem mit Compass, einem anderen Global Player in Sachen Catering. Alle Anwesenden, mit Ausnahme des deutschen Gastes, sind African Americans. Auch die hauptamtlichen Organizer. Sam, Mike und Gerome haben zwei Tage lang bei Hausbesuchen versucht, möglichst viele der insgesamt 173 Beschäftigten des Küchenpersonals der Montclair-University zu erreichen, um sie zur Versammlung in das SEIU-Local nach Newark einzuladen. Denn es gilt, die ausgehandelten Inhalte zu überprüfen und den Vertrag zu bestätigen. Offenbar hat das Komitee gute Arbeit geleistet: Erstaunt fragen die Beschäftigten, ob Sodexho den Vertrag auch wirklich kenne - und wirklich auch einhalten wolle. Die meisten Nachfragen gibt es beim Lohn. Was Wunder: Die meisten der Anwesenden haben einen Stundenlohn von etwa sieben Dollar. Lohnsteigerungen von jährlich 25 bis 45 Cent in den nächsten Jahren sind deshalb ein Verhandlungsergebnis, das die KollegInnen teils zufrieden, teils erstaunt zur Kenntnis nehmen. Dazu kommen benefits, Sozialleistungen, die es den Beschäftigten zukünftig ermöglichen, eine Krankenversicherung abzuschließen. Von den Versammelten hat gerade mal eine Kollegin eine Basis-Krankenversicherung. Ist die Krankenversicherung für eine Person schon so gut wie nicht finanzierbar, so ist sie dies noch viel weniger für eine Familie. Krankheit darf es also nicht geben - oder sie führt zu einer noch höheren Verschuldung. Ein Teufelskreis. Der neue Tarifvertrag macht zumindest eine Basisversorgung möglich. Um das für uns in Deutschland noch selbstverständliche Niveau bei Krankenversicherungen zu erreichen, werden in den USA jedoch noch viele Kämpfe und viele neue Verträge nötig sein.

Keine Arbeit, kein Lohn, kein Telefon

Am Ende der Versammlung werden die KollegInnen nach ihrem Gesamteindruck gefragt. Alle sind begeistert, unterzeichnen ihre Zustimmungskarte und eine weitere Karte, in der sie ihr Einverständnis erklären einen geringen monatlichen Beitrag für die politische Arbeit der SWU zu bezahlen: ein Dollar im Monat - man darf auch mehr für den Solifonds geben, aber mehr ist bei den meisten hier nicht drin. Im Gegensatz zum Solibeitrag wird der sofort fällige Gewerkschaftsbeitrag vom Arbeitgeber direkt vom Lohn abgezogen und der Gewerkschaft überwiesen. Der reguläre Mitgliedsbeitrag liegt bei zwei Prozent und ist damit doppelt so hoch wie in Deutschland. Die Beitragshöhe ist aber nicht umstritten, sondern wird als selbstverständlich akzeptiert. Ab Inkraftsetzung des Vertrags sind automatisch alle Beschäftigten Mitglied der organisierenden Gewerkschaft. Für die Organizer der SWU beginnt nach der Versammlung eine weitere Etappe in der Arbeit. Es geht darum, den Kontakt mit allen Beschäftigten herzustellen. Da zur Zeit Ferien sind, sind die Beschäftigten aber nicht im Betrieb, in der Küche oder Kantine zu erreichen. Vier hauptamtliche Organizer werden in den nächsten Tagen und Wochen versuchen, möglichst alle Beschäftigten zu Hause zu erreichen, ihnen den Tarifvertrag erklären und ihre Zustimmung zum Vertrag und eventuell auch einen Zuschuss zum Solifonds einholen. Natürlich könnte man jetzt auch die Hände in den Schoß zu legen, weil der Vertrag ja abgeschlossen ist, aber spätestens in drei Jahren muss ein neuer Vertrag ausgehandelt werden - und ohne die Beschäftigten wird dies nicht zu erreichen sein. Der Philosophie der SWU zufolge geht es, wie Wilma Neal erklärt, eben auch grundsätzlich darum, die Beschäftigten zu mobilisieren. Das Alltagsgeschäft für die hauptamtlichen Organizer ist hart. Die Wahrscheinlichkeit, dass man eine/n Beschäftigten zu Hause antrifft, ist ziemlich gering. Die Kontaktaufnahme wird noch dadurch erschwert, dass viele der Beschäftigten telefonisch nicht erreichbar sind. In der schulfreien Zeit gibt es keine Arbeit und keinen Lohn, dass die Telefongesellschaften das Telefon abstellen, weil die Rechnungen nicht mehr bezahlt werden können, ist Normalzustand. Zwar gibt es in der "arbeitsfreien" Zeit ein "Arbeitslosengeld", aber das reicht hinten und vorne nicht. Also nix mit Telefon.

Kampagnendrohung führt zu Tarifvertrag

Zur Lagebesprechung, zur Auswertung der Erfahrungen und zur Planung der weiteren Vorgehensweise setzen sich die Organizer jeden Abend für eine Stunde zusammen. Am nächsten Morgen ab zehn Uhr machen sie sich wieder auf den Weg, versuchen jedeN einzelneN BeschäftigteN zu Hause zu erreichen. Eine mühsame, aber für die SWU wichtige und notwendige Strategie, denn durch die direkten Gespräche werden potenzielle AktivistInnen für die gewerkschaftliche Arbeit im Betrieb gefunden, die dann besonders qualifiziert werden. Geschult werden sie insbesondere über Vertragsinhalte, über Rechte der Beschäftigten und über die richtige Handhabung von Beschwerdeverfahren. Bei der SWU-Schulung geht es aber auch darum, den KollegInnen zuzuhören, notwendige Informationen zu erhalten und sie für andere politische Themen zu sensibilisieren. Dafür trifft man sich in der Regel alle zwei Wochen in einer öffentlichen Bibliothek und bespricht für zwei bis drei Stunden einzelne Aspekte des Vertrages. Die KollegInnen sind wissbegierig, denn es ist ihr erster Tarifvertrag und es ist vor allem seit langem mal wieder eine Form von Bildung. Dass es für die Küchenbeschäftigten ohne größere Auseinandersetzungen und relativ schnell zu Tarifverträgen kam, ist dem Umstand zu verdanken, dass es zwischen den Gewerkschaften und Sodexho eine Vereinbarung gab. Bei Zustimmung zu einem Tarifvertrag wird auf eine Kampagne verzichtet, so das gewerkschaftliche Angebot. Sodexho hat angenommen. Ein solches agreement kann nur getroffen werden, wenn von Gewerkschaftsseite deutlich gemacht wird, dass man ebenso durchsetzungs- wie kampagnenfähig ist und folglich die Kosten für das Unternehmen am Ende einer Kampagne höher liegen werden als ohne. Diese Vorgehensweise ist nicht ohne Risiko. Denn vielleicht hätte man mit einer Kampagne im Rücken stärkere Lohnerhöhungen und bessere Sozialleistungen erreicht. Ebenso kann sich bei den Beschäftigten der Gedanke breit machen, dass solche Verträge prinzipiell konfliktfrei zu erreichen sind. Stressfrei, also ohne Gewerkschafts-Busting (3) seitens der Unternehmensleitung organisieren zu können bietet andererseits auch eine Menge Vorteile. So lässt sich der Zeitraum, in dem die Übereinkunft gilt nutzen, um ein gut funktionierendes innerbetriebliches gewerkschaftliches Netzwerk zu bauen, AktivistInnen zu qualifizieren und zu schulen und damit bessere Voraussetzungen für zukünftige Auseinandersetzungen zu schaffen. Dass diese kommen werden, ist aus Sicht der SWU-Verantwortlichen und AktivistInnen so sicher wie das Amen in der Kirche.

Cintas - Kämpfen um das Recht, gehört zu werden

Dass es von Unternehmensseite auch anders geht zeigt das Beispiel Cintas. Cintas ist ein riesiges Wäschereiunternehmen mit über 350 Standorten in Nordamerika, das überwiegend Arbeitskleidung und Hotelwäsche reinigt. An jedem einzelnen Standort sind meist zwischen 30 und 50 Menschen beschäftigt. Fast alle Beschäftigten sind spanischsprachig. Nachdem sich einige Beschäftigte an die Gewerkschaft gewandt hatten, begann Unite Here im Jahr 2003 die KollegInnen zu organisieren. Cintas will aber das Unternehmen gewerkschaftsfrei halten und vor allem will Cintas keinen Tarifvertrag mit Unite Here abschließen. An einigen Standorten gibt es innerbetriebliche Komitees. So auch auf Long Island, wohin ich mit Mayra und Omar fahre. Beide sind angestellte Organizer von Unite Here; Mayra kommt aus Honduras und macht den Job seit 12 Jahren, Omar kommt aus Puerto Rico und hat sein Englisch in den letzten fünf Jahren auf den Straßen von New York City gelernt. Organizing heißt auch bei Cintas, die Komitee-Mitglieder zu Hause zu besuchen und mit ihnen über neue Entwicklungen in der Firma zu reden und Informationen zu sammeln. Im Moment steht das Thema Arbeitssicherheit im Vordergrund. Aber auch eine Solidaritätsaktion für einen kürzlich gefeuerten Cintas-Kollegen wird besprochen. Letzteres ruft bei den AktivistInnen Verwunderung hervor. Denn "San Joseta" war ein ausgewiesener Anti-Unionist. Trotzdem hat Unite Here eine Petition eingereicht mit der Forderung, den entlassenen Kollegen wieder einzustellen. Die Erklärung ist einfach und überzeugt: Das Vorgehen von Cintas war eine Sauerei, der Einsatz für "San Joseta", der der alleinige Verdiener in einer großen Familie ist, ist ein Beispiel für Solidarität und ein deutliches Zeichen an die Beschäftigten, dass sich die Gewerkschaft für alle einsetzt. Nach einigen Hausbesuchen bei Komiteemitgliedern geht es auf zum Gebäude von Cintas nach Central Islip. Bald ist Schichtwechsel und die beiden gewerkschaftlichen Organizer postieren sich an der Parkplatzauffahrt. Manche der Ankommenden winken freundlich, andere schauen auffällig deutlich in die andere Richtung. Einer gibt den antigewerkschaftlichen Schreihals: "Wir brauchen keine Gewerkschaft" brüllt er vom Parkplatz rüber. Mayra kennt ihn schon und weiß auch, dass sich der Kollege trotz Leberkrebs immer noch zur Arbeit schleppt. Einige der Abfahrenden winken freundlich; drei Kolleginnen halten kurz an. Eine möchte, dass wir gleich bei ihr zu Hause vorbei kommen, weil sie neue Informationen hat: Ihr wurden, wie sie erzählt, Überstunden zur Aufbesserung des Monatsgehaltes abgelehnt, da sie Gewerkschaftsmitglied sei. Demnächst soll die Arbeitsschutzbehörde (OSHA) die Firma besuchen. Ana, sie kommt aus El Salvador, will den OSHA-Kontrolleuren die Stellen zeigen, an denen die Beschäftigten Gesundheitsrisiken ausgesetzt werden. Mayra bereitet die Kollegin im Gespräch auf mögliche Vorgehensweisen von Cintas vor und schützt sie damit vor Überrumpelungen. "Impfung" wird das hier genannt. Ein akzeptabler Mindestlohn, eine Krankenversicherung für die Beschäftigten und ihre Familien, Sicherheit am Arbeitsplatz, Respekt und Würde, Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht gehört zu werden - auf diese sechs Forderungen haben sich die AktivistInnen bei Cintas verständigt.

Community-Arbeit: Die Unorganisierbaren organisieren

Wieder auf die andere Seite des Hudson Rivers, wieder nach Newark. Hier hat die Zentrale der Communication Workers of America (CWA), das Local 1037 (4) seinen Sitz. Hetty Rosenstein, Präsidentin des Locals, gehört zu der Sorte GewerkschafterInnen, die den direkten Konflikt mit staatlichen Institutionen und Unternehmen nicht scheut. Alle Beschäftigten der Gewerkschaft in Newark strahlen diese Haltung aus und das Organizingteam insbesondere. In diesem Sommer arbeitet CWA in Newark und den umliegenden Städten mit ACORN (Association of Community Organizations for Reform Now), einer landesweiten NGO, die sich vorrangig um die Organisierung von Menschen in armen Stadtteilen kümmert. Es geht dabei vor allem um die Verbesserung von Gesundheitsversorgung, Bildungseinrichtungen, öffentlichen Versorgungsleistungen, aber auch um bezahlbare Mieten, Mindestlöhne und Grundeinkommen. Man spricht nicht immer die gleiche Sprache und es prallen schon mal unterschiedliche Kulturen aufeinander. Nicht alles läuft rund. Aber in Bezug auf das Ziel, die Arbeits- und Einkommensbedingungen von Home Child Care Workers zu verbessern, ist man sich einig. Meistens sind es Frauen, die lizensiert in ihrem eigenen Wohnraum bis zu sechs Kinder den ganzen Tag über betreuen. Die Betreuungszeit kann zwischen 6 Uhr früh und 18 Uhr abends liegen. Pro Kind und Woche erhält eine Home Child Care Worker 37 Dollar. Manchmal muss sie von diesem Geld auch noch die Verpflegung der Kinder bezahlen. Dass jede Woche sechs Kinder kommen, ist zudem keineswegs sicher. Staatliche Stellen weisen die Kinder zu. Das Gehalt kommt mitunter verspätet oder auch schon mal gar nicht. Die Eltern bezahlen das Geld für die Betreuungsleistung an die staatliche Vermittlungsstelle, diese gibt es dann an die Betreuerin weiter. Kommen die Eltern ihrer Zahlungsverpflichtung nicht nach, gibt es für die Betreuerin auch kein Geld vom Staat. Die Folge, wen wundert's: Die Fluktuation in diesem Job ist hoch. Oftmals trifft man die Frauen zu Hause nicht mehr an; sie haben einen anderen Job oder haben Wohnung oder Stadt gewechselt. Diejenigen aber, die wir antreffen, sind hoch erfreut über die Initiative. Sie geben gerne ihre Unterstützungsunterschrift, die es der Gewerkschaft ermöglicht, sie gegenüber staatlichen Stellen zu repräsentieren. Hat man genug Kontakte aufgebaut, wird zu einer Versammlung geladen - um sich über Erfahrungen auszutauschen und gemeinsame Aktivitäten zu entwickeln. Die Arbeit ist wenig spektakulär und es werden keine großen Menschenmassen organisiert. Es läuft vielleicht auf das Überreichen einer Petition oder auf einen gemeinsamen Besuch einer Stadtverordnetenversammlung oder eine Demonstration hinaus. Kaum etwas davon wird Eingang in den Medien finden. Für die betroffenen Frauen in diesem Sektor ist all dies aber schon viel. Ihre Isolation wird aufgehoben, ihre Arbeit gewürdigt. Jede noch so kleine Lohnerhöhung bedeutet eine Verbesserung ihrer miesen Situation. Die Basisarbeit von ACORN und dem CWA Local 1037 in Newark hat das Ziel, die "Sprachlosen" zusammen zu bringen, gemeinsame Forderungen zu entwickeln, gemeinsam für die Umsetzung dieser Forderungen einzutreten. Und das heißt auch: Voraussetzungen für erfolgreiche soziale Kämpfe zu schaffen. Georg Wissmeier war im Sommer 2005 für drei Monate mit Gewerkschaften beim Organizing im Niedriglohnbereich in den USA unterwegs. Normalerweise lebt er in Hamburg, macht viele Erfahrungen mit gewerkschaftlichen Druckkampagnen und ist Redakteur bei Fantômas. Anmerkungen: 1) Gewerkschaft der Beschäftigten im öffentlichen und privaten Dienstleistungssektor. Service Employees International Union. 2) Gewerkschaft der Textil-, Hotel- und Gaststättenbeschäftigten, hervorgegangen aus der Fusion der Union of Needletrades, Industrial and Textile Employees und derHotel Employees and Restaurant Employees International Union. 3) In den USA gibt es eine eigene "Industrie", die darauf spezialisiert ist, Strategien gegen gewerkschaftliches Organizing zu entwickeln und umzusetzen. Sie hat einen Jahresumsatz von rund 4 Mrd. US-Dollar. 4) Das Local 1037 der Communication Workers of America in Newark repräsentiert vorrangig Beschäftigte des öffentlichen und privaten Sektors aus dem Gesundheits- und Sozialbereich. aus: Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis/Nr. 8/Winter 05/06