Die Entdeckung der Peripherie

Die Lektüre des 1974 von D.Senghaas herausgegebenen Bandes "Peripherer Kapitalismus - Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung" ist eines der wichtigen geistigen Aha-Erlebnisse in meinem Leb

Die Lektüre des 1974 von Dieter Senghaas herausgegebenen und bei edition suhrkamp erschienenen Bandes "Peripherer Kapitalismus - Analysen über Abhängigkeit und Unterentwicklung" ist eines der wichtigen geistigen Aha-Erlebnisse in meinem Leben. Es war für mich damals die logische Folge der Debatte über den Verfall der terms of trade, auf die ich durch Pierre Moussas "Les Nations Prolétaires" - ein anderes wichtiges Aha-Erlebnis - bereits 1959 aufmerksam geworden war. Eigentlich war diese Erkenntnis schon damals nicht neu. Bereits 1949 hatte eine UN-Studie, die der Entwicklung der relativen Preise von Exporten und Importen unterentwickelter Länder zwischen 1876 und 1938 gewidmet war, festgestellt, dass sich das Preisverhältnis in diesem Zeitraum um ein Drittel zu Lasten der Rohstoffexporte entwickelt hatte. Und schon 1974 konnte Dieter Senghaas in seiner Einführung zu dem erwähnten Band feststellen, dass "die Rede von der wachsenden Kluft zwischen Nord und Süd zum Gemeinplatz geworden" (7) sei. Er machte auch darauf aufmerksam, dass es sich nicht um ein relatives Wohlstandsgefälle, sondern um wachsende absolute Armut handle, und warnte davor, dass dies in einem Ausmaß geschehe, "das den innergesellschaftlichen Status quo der Dritten Welt sukzessive zu untergraben droht" (ebd.). Daran wurde ich bei der gerade beendeten Lektüre des genau dreißig Jahre später bei rororo veröffentlichten Sachbuchs von Gabriele Gillen mit dem Titel "Hartz IV - eine Abrechnung" erinnert, vor allem als ich die Ausführungen über die Folgen des Auseinanderdriftens der Einkommen nicht nur in Deutschland, sondern in allen Industrieländern (und natürlich auch in den armen Ländern) las: "die Grundlagen des Sozialstaats zerfallen, Altersarmut ist vorprogrammiert. Die Schere zwischen Armen und Reichen öffnet sich weiter" (Gillen 2004: 10). Bereits 30 % aller kinderreichen Familien sind arm. Die Peripherie hat sich offensichtlich von außen nach innen gestülpt, und dabei hat sie sich auch noch kleinteilig zerlegt. In meinem "Veedel" in Köln-Mülheim bin ich gewissermaßen von meiner eigenen lokalen Peripherie umgeben, die alle typischen Merkmale aufweist: überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit, überdurchschnittlich hohe MigrantInnenbevölkerung, die sich aus einer Vielzahl von Nationalitäten zusammensetzt. Auch gibt es eine überdurchschnittliche Anzahl Fettleibiger, sowohl Kinder als auch Erwachsene, und die Anzahl von absolut Armen, die täglich die Mülltonnen nach Pfandflaschen durchsuchen, wächst ebenfalls, genau wie die Anzahl der BettlerInnen vor den Supermärkten. Zwei Überlegungen beschäftigen und irritieren mich. Einmal frage ich mich, warum ich für die Dritte-Welt-Peripherie so viel mehr Interesse - und sogar Empathie - aufzubringen vermag, als für diejenige in meiner Nachbarschaft. Warum möchte ich sie nicht näher kennen lernen? Zwar unterschreibe ich eine Petition gegen die vorgesehenen Kürzungen bei den Jugendzentren in Köln, aber ich interessiere mich nicht für die Probleme der wachsenden Anzahl von MigrantInnen aus Afrika in Köln, vor allem in meinem Viertel. Wieso mache ich - eher lasch - beim hiesigen Umsonstladen mit, habe es aber bisher nicht geschafft, mich nach Mülheimer Selbsthilfeinitiativen zu erkundigen, wo Selbsthilfe doch einer der Interessenschwerpunkte meiner Arbeit in Afrika war? Die zweite Überlegung geht über den Köln-Mülheimer Tellerrand hinaus: warum habe ich nicht früher begriffen, dass die Peripherie kein Problem der Dritten Welt ist, sondern dass Peripherisierung ganz logisch aus den weltweit und lokal herrschenden wirtschaftlichen und politischen Macht- und Produktionsverhältnissen entsteht? Und welche Elemente der Theorie des peripheren Kapitalismus können uns dabei helfen, die Situation, in der nicht nur die Einkommen, sondern auch die Lebenswelten der Besitzenden und der Habenichtse weltweit immer schneller auseinander driften, nicht nur zu verstehen, sondern zu verändern? In seiner Einführung zu dem erwähnten Band weist Senghaas im Hinblick auf das Verständnis der - damaligen - Lage in der Dritten Welt auf die ursächlichen Zusammenhänge zwischen den Entwicklungen im Süden und im Norden hin: "Die Unterentwicklung der Dritten Welt kennzeichnet nicht ... ein Durchgangsstadium auf dem Wege zu autozentrierter Entwicklung ... (sie) ist vielmehr ein sich historisch entfaltendes integrales Moment des von kapitalistischen Metropolen dominierten internationalen Wirtschaftssystems und damit der internationalen Gesellschaft" (Senghaas 1974: 18; Hervorhebung im Original). Dem Begriff Unterentwicklung im Süden entspricht logischerweise derjenige der Entwicklung in den Industrieländern im Norden: "Die Entwicklung dieser Metropolen, der Zentren, und die Geschichte der Unterentwicklung der Dritten Welt sind miteinander über das internationale System vermittelte, komplementäre Vorgänge" (ebd.; Hervorhebung im Original). Diese Erklärung könnte ohne Weiteres für die heutige Entwicklung weltweit gelten, wenn wir die "Metropolen" oder "Zentren" durch transnationale Konzerne und herrschende Klassen ersetzen und die Dritte Welt überall dort erkennen, wo systematische Ausbeutung und Benachteiligung herrschen. Damit verschieben sich die Perspektiven: aus "Nord" und "Süd" wird "oben" und "unten". Der von Senghaas aufgezeigte "Systemcharakter der historisch gewachsenen, asymmetrisch strukturierten Beziehungen zwischen Metropolen und Peripherien, also die Struktur internationaler Herrschaft und Ökonomie" (ebd.) ist tatsächlich und seit Anbeginn ein totalitärer, der einen alle gesellschaftlichen Formationen mit unterschiedlicher Wirkung durchdringenden Prozess kennzeichnet. Aus der Geographie entliehene - eher statische - Begriffe, wie Peripherie oder Zentrum, taugen nur bedingt zur Beschreibung von Prozessen. Ein weiteres Dilemma besteht meines Erachtens im Hinblick auf Theorie und Praxis. Die Peripherie- und Dependencia-Theorien wurde von ihren Autoren zwar nicht als Handlungsanweisung, wohl aber als theoretische Grundlage für gesellschaftliches Handeln verstanden und teilweise - zum Beispiel in Lateinamerika - auch so genutzt. Die Forderung "global denken - lokal handeln", die in den 1980er Jahren vor allem von Umweltinitiativen und kirchlichen Entwicklungsorganisationen erhoben wurde, sollte dem Anspruch auf Verbindung von Theorie und Praxis entsprechen. Aber hier ging es - neben den Bemühungen um verstärkte und basisbezogene "Entwicklungshilfe" - nicht um Systemveränderung sondern eher darum, die Menschen im Norden dazu zu bringen, im Interesse derjenigen im Süden bzw. der Menschheit insgesamt zu handeln: durch faire Preise, Energieeinsparung, Handelsboykott von politisch nicht korrekt produzierten Waren. Daneben gab es einen bescheidenen Ansatz zur Vermittlung von systemkritischen Erklärungsmustern zum Beispiel die im südlichen Afrika von kirchlichen Hilfswerken initiierten Kurse mit dem Titel "economic literacy". Die meist kritischere Soli-Bewegung setzte hingegen auf themenbezogene Aktionen, die teilweise beachtliche punktuelle Erfolge zeitigten, wie die Clean-Clothes-Kampagne. Aber von der Erkenntnis, dass sich Dritte-Welt-Verhältnisse auch im Norden herausbilden könnten, waren die Aktivisten anscheinend allgemein weit entfernt. Jetzt, da uns "Pauperisierung" und "Prekarisierung" in unserem persönlichen Umfeld begegnen, erscheint der Augenblick günstig zu versuchen, nicht nur die Lücke im Verständnis der Probleme in Erster, Zweiter und Dritter Welt zu schließen, sondern gleichzeitig die Kluft zwischen Theorie und Praxis zu verringern. Es könnte die Chance der Entwicklungssoziologie und anverwandten Disziplinen sein. Aber es ist offensichtlich ein schwer zu überwindender Widerspruch. Wie es der Held eines Ende der siebziger Jahre erschienenen Romans des französischen Publizisten und Politikers Regis Debray treffend formulierte: "Diejenigen, die denken, handeln nicht. Und die Handelnden haben keinen Durchblick." Die Kluft zwischen denen, die unter "Pauperisierung" und "Prekarisierung" zu leiden haben, und jenen, die klug darüber schreiben und reden, scheint eher größer zu werden. Auf den weiterhin trotz Mittelkürzungen zahlreichen Symposien, Workshops und Podiumsdiskussionen wird meist säuberlich zwischen den "Problematiken" in den "Entwicklungsländern" (sie heißen tatsächlich immer noch so!) und in der so genannten entwickelten Welt getrennt. Hier sprechen meist ExpertInnen zu ExpertInnen, WissenschaftlerInnen zu MitarbeiterInnen mit den jeweiligen Themen befasster Institutionen. Andere würden auch gar nicht verstehen, wovon bei diesen inzüchtigen Debatten die Rede ist. Denn auch die Sprache scheint immer mehr auseinander zu fallen und sich in verschiedene Richtungen zu entwickeln. Der von den Theoretikern sorgsam gepflegte Gebrauch von Entwicklungschinesisch und wissenschaftlichen Fachausdrücken wird teilweise nicht einmal mehr von fach- und sachkundigen Laien verstanden, geschweige denn von den Menschen, die vielleicht handeln würden statt mehr oder weniger stillschweigend zu erdulden, wenn sie verstünden, warum sich ihr Leben so grundlegend geändert hat.

Literatur

Gillen, Gabriele (2004): Hartz IV - eine Abrechnung. Hamburg Moussa, Pierre (1959): Les Nations Proletaires. Paris Senghaas, Dieter (1974): Peripherer Kapitalismus. Frankfurt. Anschrift der Autorin Eva-Maria Bruchhaus bruchhaus@netcologne.de

Aus PERIPHERIE 100 "100 PERIPHERIEN - Die Welt von den Rändern her denken", Münster 2005, S. 454-457

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