Schreib Dir eine Weltwirtschaftsverfassung

Mit freundlicher Unterstützung transnationaler Konzerne lädt die WTO nach Hong Kong

Vom 13. bis zum 18. Dezember diesen Jahres findet in Hong Kong die 6. Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) statt. Durchgesetzt werden soll dort ein drastisches ...

... Liberalisierungsprogramm, welches alle sozialen wie politischen Barrieren, die den Interessen transnationaler Konzerne (TNKs) und ihrer corporate agenda entgegenstehen, aus dem Weg räumt. Für ein paar Tage wird nun die Weltöffentlichkeit eine Ahnung davon bekommen können, wie hier der Rahmen einer globalen Enteignungsökonomie geschaffen wird, der mit einem massiven neoliberalen Umbau von Staatlichkeit einhergeht. Dabei steht die Langfristigkeit, mit der dieses Projekt vorangetrieben wird, im krassen Gegensatz zu den kurzen Zyklen sozialer Bewegungen, die bisher punktuell jene Orte und Institutionen angegriffen hat, an denen unter massiver Polizeipräsenz miese Abkommen getroffen werden. Daher: Kein Deal ist besser, als ein schlechter Deal! Trotz der vergangenen, massiven Proteste gegen die WTO - Seattle und das Scheitern der letzten WTO-Ministerkonferenz in Cancún sind hier zu nennen - fährt der Freihandelszug weiter in Richtung "Mehr Marktzugang für transnationale Konzerne". Mit der Doha-"Entwicklungsrunde" wird dabei ein Label ventiliert, dass die vor allem von den Ländern des Südens artikulierten Bedenken einhegen soll. Im Süden wie im Norden stürzen die Auswirkungen der WTO-Abkommen Menschen in Armut und gefährden sie in ihrem alltäglichen Überleben. Vor allem aber im globalen Süden führt dies zu massiven Protesten gegen die Welthandelsorganisation. Anders das Bild in der BRD: Die Proteste gegen Hartz IV wagten kaum den Blick über den eigenen Tellerrand. Zwar wurde kritisiert, dass die Prinzipien des Marktes über der Würde von Menschen stehen und im Namen des Wunderdings Globalisierung Zugeständnisse an die "Wettbewerbsfähigkeit" des Staates verlangen. Die Tatsache, dass diese "Sachzwänge", die den "Standort Deutschland" bedrohen, politisch gewollt sind und u.a. im Rahmen der WTO von den eigenen Regierungen installiert werden, wurde dabei kaum aufgegriffen. Nicht thematisiert wird also, dass die unter maßgeblichem Druck der BRD durchgesetzten Agenden erst die Rahmenbedingungen schaffen, auf Grund derer eine Anpassung an den Weltmarkt und verschärfte internationale Konkurrenz verlangt werden. Zu groß ist der Konsens über die vermeintliche Notwendigkeit, Deutschland als "Exportweltmeister" im Rennen zu halten und den "Standort Deutschland" zu sichern.

Mehr Arbeitslosigkeit, mehr Nahrungsunsicherheit

Seit der Ministerkonferenz 2001 in Doha gibt auch die WTO vor, ihren Teil zur Armutsbekämpfung beizutragen. Doch der Schein trügt: Was als "Entwicklungsrunde" deklariert ausgehandelt werden soll, droht zum Rezept industrialisierter Staaten für einen gezielten K.o.-Schlag gegen den globalen Süden zu werden: De-Industrialisierung, Dumping, Armut und irreparable Schäden für Menschen und Umwelt sind schon jetzt die Folge. Handelshemmend ist, was exportorientierte Produktion bestraft - dieser Logik folgend werden wirtschaftliche Rechte mit einer Vehemenz durchgesetzt, die bürgerliche Menschenrechte und Globale Soziale Rechte nicht erfahren. Dass Bäuerinnen heute für den Weltmarkt produzieren, während für sie selber nicht genug zum Überleben bleibt, ist Ergebnis dieser Freihandelslogik: "Weltweit gibt es auf dem Land immer mehr Arbeitslosigkeit, mehr Hunger, mehr Nahrungsunsicherheit. Jene, die zur Ernährung der Welt beitragen, sind zunehmend unfähig sich selbst zu ernähren", stellt Peter Rossman, Sprecher der International Union of Foodworkers fest. Im Gegensatz zu dem, was der Name "Freihandelstheorie" suggeriert - die Schaffung "freien" Handels "freier" Akteure in einer für Waren und Arbeit (Dienstleistungen) grenzenlosen Welt - schafft die WTO vor allem freie Bahn für grenzüberschreitenden Transfer von Waren und Arbeit innerhalb der transnationalen Netzwerke der großen Unternehmen. Handel ist nicht vor allem ein Geschäft zwischen Staaten, sondern zwischen Konzernen. Schon zu seinen Zeiten als EU-Handelskommissar galt Pascal Lamy als treuer Vertreter von Konzerninteressen. Nun hat er es direkt in die Position des WTO-Generalsekretärs geschafft; dort soll er den Verhandlungen den von europäischen Lobbyverbänden vermissten Schwung verleihen. Lamy ist bestrebt, in Hong Kong ein Ergebnis zu erzielen, dass das Tempo der Liberalisierungen erhöht: "Auf jeden Fall kennt Lamy die Risse im Block der Entwicklungsländer, zum Beispiel zwischen den G-20, G-33 und den LDCs (1), und er wird nicht zögern, diese zu nützen, um ein sich weit reichendes Abkommen durchzudrücken", kommentiert Walden Bello von der Süd-NGO Focus on the Global South. In einem "Kuhhandel" zwischen ungleichen Ländern werden vor allem von Seiten der EU und USA alle verfügbaren Geschütze aufgefahren, um zu den gewünschten Ergebnissen zu gelangen. Doch es handelt sich im Rahmen der WTO längst nicht mehr um einen einfachen Konflikt zwischen Nord und Süd, da zunehmend auch Schwellenländer wie Indien und Brasilien in aggressiver Art und Weise ihre eigenen Exportstrategien verfolgen. Das erhöht die Gefahr, dass Koalitionen der Länder des Südens wie die G33, die sich für Schutzmechanismen für die ärmsten Länder einsetzen, durch die Industrieländer und deren Umarmungstaktik gegenüber Indien und Brasilien gespalten werden. Mit Hilfe von IWF und der Weltbank setzt die WTO Schuldnerländer unter Druck, sich dem Marktöffnungsparadigma zu unterwerfen. Nicht weiter verwunderlich, dass sich WTO-Generalsekretär Lamy engagiert auf der IWF/WB-Jahrestagung vor ein paar Wochen in Washington zeigte.

Freier Fahrt für noch mehr Markt?

Zentrale Funktion der WTO ist die internationale, rechtliche Absicherung globaler Ausbeutungs- und Enteignungsprozesse im Interesse der TNKs. Marktzugangsmöglichkeiten und Investitionen sollen bis auf unabsehbare Zeit durch ein multilaterales Regelwerk, das quasi als globale Wirtschaftsverfassung fungiert, festgeschrieben werden. Denn: hinter einmal eingegangene Verpflichtungen gibt es kein zurück. Selbst wenn z.B. in Brasilien die Deutsche Bank und HSBC bereits jetzt ihre Niederlassungen haben, können sie so sicher gehen, dass auch in der Zukunft ihr Kapital unter ihrer unbeschränkten Verfügung bleibt und keine staatlichen Maßnahmen ihren Spielraum einschränken. Der Politikwissenschaftler Stephen Gill nennt diesen Prozess des Einschließens ("locking in") neoliberaler Prinzipien in quasi unabänderliche rechtliche Regelwerke "Neo-Konstitutionalismus". Ähnlich der bürgerlichen Verfassungsbewegungen im 19. Jh. versucht heute eine neu entstehende, transnationale kapitalistische Klasse, ihre Interessen festzuschreiben. Für diese bietet sich nun die Chance, einen rechtlichen Rahmen zu etablieren, der bis in die ferne Zukunft allein auf weitere Profitmöglichkeiten hin orientiert ist und gesellschaftliche Ansprüche - ökologische, soziale, demokratische - außen vor hält. Um dieses Ziel zu erreichen, sind die Unternehmen auch bereit, kostspielige jahrelange Lobbyaktivitäten zu organisieren. Es ist also irreführend, die WTO allein auf Fragen des Handels zu verkürzen. Denn weit darüber hinaus betrifft die WTO eine unüberschaubare Zahl von staatlichen Regelungen und trägt somit zum neoliberalen Umbau von Staatlichkeit auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene entscheidend bei. Marktzugangsmöglichkeiten und Investitionssicherheit von transnationalen Konzernen sind Kernprinzipien einer Dynamik des globalisierten Kapitalismus, die öffentliche Güter und kleine (z.B. bäuerliche) ProduzentInnen in den Strudel einer Ökonomie der Enteignung zieht. Dies geschieht über die Globalisierung von Eigentumsrechten und die Ausweitung von Märkten. Paradebeispiel ist das TRIPS-Abkommen zum Schutz geistiger Eigentumsrechte, das die Patentierung von natürlichen Ressourcen und Wissen forciert. Im Klartext heißt das: Aneignung von öffentlichen Ressourcen durch Patenthalter - und das sind schätzungsweise zu neunzig Prozent transnationale Konzerne. Ein weiteres Beispiel ist das Dienstleistungsabkommen GATS, das die Öffnung sämtlicher Dienstleistungssektoren für ausländische AnbieterInnen im Visier hat. Der Privatisierungsdruck auf öffentliche Dienste und soziale Sicherungssysteme wird dadurch verschärft und der öffentlichen Hand droht weitere Enteignung. Dass die Stoßrichtung der WTO auf diese Enteignungsdynamik zielt, ist kein Zufall: drei der vier grundlegenden Abkommen der Welthandelsorganisation wurden von TNKs und ihren Verbänden im Laufe der 1980er Jahre konzipiert. Beim GATS spielten Citi Corp. und American Express eine zentrale Rolle, das Agrarabkommen (AoA) ist nicht ohne die tätige Beihilfe von Cargill, einer der weltweit größten Agrar-Unternehmen, zu verstehen und bei der Entstehung des TRIPS hatten der Pharma-Konzern Pfizer und IMB die Federführung. Und auch bei den derzeit laufenden Verhandlungen haben die Konzerne und ihre Lobbyisten exzellenten Zugang zu den Ministerien und zur EU-Kommission.

Widerstand ist machbar - z.B. beim EU-Mercosur-Gipfel

Trotz ihrer Bedeutung für die Absicherung und Ausdehnung der globalen Kapitalverwertung darf die WTO dennoch auch nicht überschätzt werden. Denn komplementär zu diesem für 148 Mitgliedsstaaten geltenden und damit fast universellen Freihandelsrechtsrahmen, existieren zahlreiche bi- und plurilaterale Handelsabkommen. Die Verträge der Welthandelsorganisation sind damit nur ein Teil des juridischen Geflechts, welches globale Wertschöpfungsketten und Produktvermarktung für Konzerne kalkulierbar macht. In fast allen der z.Z. verhandelten bi- und plurilateralen Abkommen geht es den Regierungen der Industriestaaten darum, eine "WTO-plus"-Agenda durchzusetzen. D.h. der Verpflichtungsgrad in diesen Verträgen ist für Länder des Südens wesentlich höher und die Themenpalette deutlich breiter (z.B. bzgl. Investitionsschutz) als es in der jetzt laufenden WTO-Runde umsetzbar wäre. Auf vielen Feldern fungiert die bilaterale Ebene als Schrittmacher für das, was an Liberalisierung und Deregulierung möglich ist. In den aktuellen Verhandlungen der EU mit einigen westafrikanischen Staaten über ein so genanntes Economic Partnership Agreement (EPA) fordert die Kommission z.B. massive Zollsenkung für Güter der verarbeitenden Industrie. Selbst die Tatsache, dass eine Kommissions-interne Studie zu dem Schluss kommt, dass daraufhin der gesamte nach den De-Industrialisierungsschüben der 1980er und 1990er Jahre übrig gebliebene westafrikanische Sektor verarbeitender Industrie zusammenbrechen würde, ficht die Kommission und die Mitgliedstaaten bei ihrem aggressiven Kurs nicht an. Mehr Beachtung als für die EPA-Verhandlungen, die die EU übrigens mit fast allen AKP-Staaten (2) führt, gibt es für die EU-Mercosurverhandlungen. Auch hier verfolgt die EU im Interesse ihrer Konzerne eine "WTO-plus"-Strategie. Anlässlich des EU-Mercosur-Gipfels im Mai 2006 in Wien bestünde die Möglichkeit, dieses bilaterale Liberalisierungsprojekt ins Visier zu nehmen und gerade auch der Bevölkerung ein solidarisches Zeichen zu senden, dass der europäische Freihandelskonsens nicht ohne Risse ist. Jenseits notwendiger und berechtigter Grundsatzkritik an Kapital und Staat ist konkrete Kampagnenarbeit dringend notwendig. Denn den Weltmarkt kann man nicht abschaffen, sondern muss ihn an konkreten Punkten bekämpfen. Angesichts des G8-Gipfels Mitte des Jahres 2007 in Heiligendamm scheint sich in linken Kreisen eine zunehmende Klarheit darüber abzuzeichnen, wie wichtig konkrete inhaltliche Kampagnen über eine erfolgreiche Mobilisierung hinaus sind. Auf dem Weg nach Heiligendamm bieten die derzeitigen aggressiven Freihandelsprojekte wie z.B. der EU-Mercosur-Gipfel in Wien sinnvolle Anknüpfungspunkte. Gelingt es den Freihandelsfalken in Hong Kong zu einer Abschlusserklärung zu kommen - vermutlich einem Fahrplan für die weiteren Verhandlungen - könnte bereits im Frühjahr ein "Hong Kong II" anstehen, d.h. ein substantielles Treffen des Allgemeinen Rates der WTO in Genf. Trotz der massiven Repression nach dem G8-Gipfel 2003 in Evian gibt es dort linke mobilisierungsfähige Strukturen, die auch für AktivistInnen aus der BRD hilfreich sein können. Zusätzlich könnte eine außerplanmäßige WTO-Ministerkonferenz Ende kommenden Jahres bzw. Anfang 2007 ins Haus stehen. Letztendlich sind Gipfel-Stürme nur dann fern vom Event-Hopping und relevant, wenn es Kampagnen gelingt, strategische Interventionspunkte zu identifizieren und damit demokratische lokale Organisierung und globale Vernetzung zu befördern. Alexis Passadakis und Magali Mander (attac WTO und Welthandel) Anmerkungen: 1) LDC: Least Developed Countries 2) AKP: Afrika, Karibik und Pazifik. Der Begriff AKP-Staaten bezeichnet zurzeit 77 Länder in dieser Region - zumeist frühere Kolonien von Frankreich und Großbritannien. aus: ak - analyse & kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis/Nr. 501/16.12.2005