Editorial

Sozialkapital - Kapitalisierung des Sozialen

Manchmal kann sich der Eindruck aufdrängen, in den Sozialwissenschaften sei die modische Halbwertszeit von Begriffen recht kurz. Vielleicht ist es auch so, dass auf der Suche nach immer Neuem die Neigung zunimmt, das, was noch nicht ausgelotet ist, beiseite zu schieben. Man könnte auch vermuten: Begriffe sind einfach in den tagtäglichen wissenschaftlichen Gebrauch übergegangen und bewähren sich dort gut, wie umstritten sie auch in der Fachdiskussion sein mögen. Globalisierung ist ein solcher Begriff - ebenso Sozialkapital, und beide haben in der neueren Gesellschaftswissenschaft eine ähnliche Geschichte von in etwa gleicher Länge hinter sich. Nach Globalisierung (Nr. 59/60) greift die Peripherie zum ersten Mal ausdrücklich das Thema "Sozialkapital" auf. Schon ein kurzer Blick in die Literatur zeigt, dass "Sozialkapital" in vielen schillernden Bedeutungen verwendet wird. Ebenso auffällig sind die gegensätzlichen - oft geradezu unversöhnlich erscheinenden - Meinungen, die das Konzept bei Befürwortern wie Gegnern auslöst. Etwas vereinfachend kann man auf theoretischer Ebene zwei Diskursvarianten erkennen. Die eine nimmt als Ausgangspunkt den Bruch zwischen der Ökonomik und den anderen Gesellschaftswissenschaften (z.B. Bourdieu, Coleman, Granovetter), die andere thematisiert den Zusammenhalt in Gesellschaften mit unterschiedlichem geschichtlichem und kulturellem Hintergrund (z.B. Fukuyama, Putnam). Die erste Variante hat Berührungspunkte mit der Institutionenökonomik, die zweite mit den Debatten um die Zivilgesellschaft und die darin handelnden politischen Akteure. Divergierende ideologische Standpunkte in beiden Lagern sorgen für die angesprochene Vielfalt der Begriffsverwendung. Eine andere Trennlinie zwischen den an der Debatte um Sozialkapital Beteiligten wird durch die Frage nach der empirischen Forschung gezogen. Während die einen den Vorwurf erheben, Sozialkapital lasse sich nicht oder nur schlecht empirisch erforschen, widersprechen andere mit dem Hinweis auf eine Fülle empirischer Arbeiten verschiedenster wissenschaftlicher Art und auf die Forschungen der Weltbank. Allerdings sind es gerade wieder die letztgenannten, welche die Kritik auf sich ziehen, sie seien letztlich allein sozialtechnischer Natur. Diesen Vorwurf erheben auch jene, die den Begriff "Sozialkapital" eben wegen der Möglichkeit des Missbrauchs rundweg zurückweisen. All dies schafft eine einigermaßen komplizierte Lage, in der wissenschaftliche, politische und ideologische Interessen sich in verschiedensten Kombinationen kreuzen und den Durchblick erschweren. Pierre Bourdieus Artikel von 1981, einer der ersten, der sich explizit mit dem Konzept und seiner Anwendung in Sozialforschung befasst, kann hier vielleicht Abhilfe schaffen. Seine prägnanten, die Zeit überdauernden Formulierungen, eignen sich jedenfalls als Wetzstein, um stumpf gewordene gegenwärtige Verwendungen zu schärfen. Sein oft an Marx erinnernder Duktus kann als Aufforderung verstanden werden, die Bedeutung des Begriffs "Kapital" neu zu überdenken. Gleichzeitig können seine vielschichtigen Verweise auf Anthropologie und Psychologie zur Mahnung dienen, über die Kathedralenspitzen der verfestigten akademischen Disziplinen hinauszuschauen und Theoriediskussionen nicht ohne empirische Forschung zu führen. Im Nachwort zu seinem 2000 erschienenen Buch Les structures sociales de l'économie (Le Seuil, Paris) nimmt Bourdieu die Themen von 1981 noch einmal auf und unterstreicht die Brückenfunktion des Begriffs "Sozialkapital" zum einen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen Ökonomik und Soziologie/Anthropologie sowie andererseits zwischen Handlungs- und Strukturtheorie. Basis des theoretisch orientierten Nachwortes ist eine umfangreiche empirische Studie des Häusermarktes in Frankreich, die ganz im Sinne der im hier abgedruckten Artikel formulierten Forschungsziele bestrebt ist, theoretische Reflexion mit empirischer Forschung zu verbinden und selbstverständlich auch die Ergebnisse akademischer Bemühungen politisch umzusetzen. John Harriss, bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zum Thema "Sozialkapital", kommt in seiner kritischen Würdigung vor allem der politologischen Aspekte des Begriffs zu dem Schluss, die gegenwärtigen Debatten drehten sich vor allem um die Ideologie, der analytische Wert des Begriffs werde aber unter Wert gehandelt. Harriss konzentriert sich dabei auf das Verhältnis zwischen Sozialkapital und Zivilgesellschaft, so wie es z.B. in den Publikationen von Putnam oder der Weltbank thematisiert wird. Trotz seiner Kritik an der theoretischen Untermauerung des Begriffs und an dessen praktischer Anwendung spricht er ihm eine Zukunft nicht ab. Die Rede vom Sozialkapital ist aus Wissenschaft und Entwicklungspolitik nicht mehr wegzudenken. Dies zu ignorieren, wäre sinn- und verantwortungslos, kritische Aufarbeitung ist daher nötiger denn je. Für Harriss ist es dabei von entscheidender Bedeutung, dass Putnam und andere den Machtbegriff - und auch das Problem der Klasse - aus ihren Analysen gestrichen haben. Erhard Berner geht in seiner Kritik noch weiter: Sozialkapital ist für ihn eher ein verschleiernder denn aufklärender, weiterführender Begriff. Er verweist auf die sehr unterschiedlichen, oft sogar konträren Inhalte, die dem Begriff zugeschrieben werden, und auf die divergierenden theoretischen Hintergründe und Absichten der Autoren, die "Sozialkapital" verwenden. Vor diesem Hintergrund bezweifelt er den heuristischen Wert des Begriffs und bemängelt einen fehlenden Staatsbezug insbesondere bei den Wissenschaftlern, die von einem kommunitären Ansatz aus argumentieren. Schließlich bezweifelt er, ob mit "Sozialkapital" die Brücke zwischen Soziologie/Anthropologie und Ökonomik geschlagen werden kann, und sieht die Gefahr, dass eher der Prozess der Ökonomisierung des Sozialen weiter vertieft wird. Nach den schweren theoretisch orientierten Geschützen der ersten drei Artikel folgen zwei von Autoren, die sich auf die Ebene der empirischen Forschung wagen. Luciano Martinez Valle befasst sich mit Begriff aus der Perspektive von Wasserkomitees in Ecuador. Er beruft sich auf die kritische Position von z.B. Alejandro Portes, um die Verwendbarkeit des Begriffs zu überprüfen. Seinen skeptischen Ausgangspunkt findet er durch die empirische Forschung bestätigt. Die Komplexität der Beziehungen zwischen Individuen und Institutionen auf Makro- und Mikroebene erschwert eine eindeutige Zuweisung von Sozialkapital zu Akteuren oder Strukturen. Auch erweist sich die von manchen unterstellte Austauschbarkeit verschiedener Kapitale (ökonomisch, sozial, kulturell und symbolisch) als problematisch. Martinez Valle sieht in einer ausufernden empirischen und praktischen Anwendung des Begriffs "Sozialkapital" jedenfalls wenig praktischen Nutzen für die Armen. Ähnlich wie in den theoretisch orientierten Artikeln plädiert er für eine vertiefte theoretische Reflexion und präzisierte Operationalisierung des Begriffs. Nach dieser Studie aus dem ländlichen Raum lesen wir im Beitrag von Jörg Meyer-Stamer die Ergebnisse einer Forschung in einem industriellen Sektor Südbrasiliens. Kooperation zwischen Unternehmen ist unter marktökonomischen Bedingungen keine Selbstverständlichkeit, von einem radikal neo-klassischen Standpunkt aus gesehen, gar kontraproduktiv. Studien über z.B. industrielle Cluster in Italien haben aber aufgezeigt, dass es zu ökonomisch sinnvoller Kooperation kommen kann. Zusammen mit Forschungen über Sozialkapital drängt sich die Schlussfolgerung auf, dass es einen Zusammenhang zwischen Sozialkapital, Kooperation und wirtschaftlicher Entwicklung geben könnte. Wie für die ländliche so scheint Sozialkapital auch die industrielle Entwicklung zu fördern. Die untersuchten Beispiele, so argumentiert Meyer-Stamer, zeigen aber, dass Sozialkapital unter unterschiedlichen makroökonomischen Rahmenbedingungen von durchaus verschiedener Bedeutung sein kann. Soll Entwicklungsintervention auf diesem Gebiet erfolgreich sein, muss sie für Unternehmer konkret aufzeigen können, wie durch Kooperation und Vertrauen mehr erreicht werden kann als durch Konkurrenz und Misstrauen. Gewinne aus dem Einsatz von Sozialkapital müssen also deutlich dessen Kosten übersteigen. Der Transaktionskostenansatz, der oft hinzugezogen wird, um die Vorteile von Sozialkapital hervorzuheben, ist also in dieser Hinsicht zu erweitern. Die Diskussionsbeiträge gehen auf die Tagung "Local governance - eine Chance für Frauen" zurück, die am 11. Dezember 2004 in Berlin stattfand. Wenn das Thema auch nicht "Sozialkapital" war, so sind die Querverbindungen zwischen local governance, Beteiligung von Frauen und Sozialkapital nicht weit zu suchen. Elke Grawert stellt in ihrem Beitrag, der die Ergebnisse der Tagung zusammenfasst, die Verbindung zum Heftthema her. In Berichten über die Homelands in Südafrika von Andrea Marianne Lang, über Davao City auf den Philippinen von Arline Ascaño-Cubero, über Tanzania von Elisabeth Hartwig, über Guatemala von Juliana Ströbele-Gregor und schließlich über das Berliner Sozialforum von Cornelia Reszat und Corinna Genschel wird deutlich, wie die Beteiligung von Frauen an Politik nicht nur abhängig ist von den spezifischen lokalen Umständen, sondern auch von globalen Einflüssen. Verschiedentlich ist von Kritiker(Inne)n der Vorwurf erhoben worden, die Sozialkapitaldebatte übersehe oder verweigere sich der Genderperspektive. In diesem Sinne stellen die Beiträge und ihre Schlussfolgerungen eine willkommene und notwendige Bereicherung dieses Themenheftes dar, ohne dass "Sozialkapital" ausdrücklich als Konzept Verwendung findet. Nach der Lektüre mag mancher Leser sich an die polemische Frage, die in den ersten, kritischen Artikeln dieses Heftes gestellt wurde, erinnern: Ist es überhaupt notwendig, "Sozialkapital" (immer) zu benutzen? Zugleich wird implizit deutlich, wie trotz der engen Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen sozialer, politischer, ökonomischer und kultureller Sphäre nicht von vornherein klar ist, dass sich das Kapital der einen einfach in das der anderen ummünzen ließe.

Aus PERIPHERIE 99 "Sozialkapital - Kapitalisierung des Sozialen", Münster 2005, S. 259-262

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