Von Saddam zu George

Die kurdische Frage ist in der Türkei nach wie vor ungelöst

Es begann mit einem Fußballspiel zwischen Mannschaften aus dem arabischen Deir ez-Zor am Euphrat und dem vorwiegend von Kurden bewohnten Qamischli an der türkischen Grenze...

Mitte Oktober entschieden die Iraker über eine Verfassung, in der Kurdisch als zweite Landessprache anerkannt wird. Die Türkei wird wohl kaum nachziehen. Um nicht noch mehr Staub aufzuwirbeln, wird das Thema von türkischen Politikern möglichst gemieden. Doch es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, dass man in Ankara mit Sorge auf den Irak blickt.
Tatsächlich hat die dortige Entwicklung das Selbstbewusstsein der Kurden überall in der Region gestärkt. Im Frühjahr 2004 erschütterten Unruhen die syrische Djezire (ein Gebiet zwischen Euphrat und Tigris). Es begann mit einem Fußballspiel zwischen Mannschaften aus dem arabischen Deir ez-Zor am Euphrat und dem vorwiegend von Kurden bewohnten Qamischli an der türkischen Grenze. Die Kurden feuerten ihre Mannschaft mit "George Bush!" an, die Araber mit "Lang lebe Saddam Hussein!" Die Fans gerieten aneinander, öffentliche Gebäude wurden angesteckt und Militär musste in die großteils von Kurden bewohnte Djezire verlegt werden. Es starben etwa 30 Menschen. Im Sommer 2005 folgten Unruhen im iranischen Teil Kurdistans. In Syrien hatte es noch nie größere Kurdenunruhen gegeben, im Iran seit fast zwei Jahrzehnten nicht mehr. Die iranischen und syrischen Kurden sehen nicht nur, was die irakischen Kurden bereits erreicht haben, sie wissen auch, dass ihre Regime Washington ebenso ein Dorn im Auge sind, wie es Saddam war.
In der Türkei liegen die Dinge etwas anders. Angesichts wachsender Unruhe von Seiten der PKK flog der türkische Premier Tayyip Erdogan im August 2005 hastig in die kurdische Hochburg Diyarbakir und versprach in einer groß angekündigten Rede, das "kurdische Problem" im Rahmen der Verfassung mit demokratischen Methoden zu lösen. Für diese Wortwahl wurde er von türkischen Nationalisten kräftig gescholten. Der Ministerpräsident gebrauche die gleichen Worte wie der gefangene PKK-Chef Abdullah Öcalan. Doch während Erdogan den Mut hatte, von einem kurdischen Problem zu reden, hatte er keine Vorstellung davon, wie er es denn lösen wolle. Jüngste Umfragen zeigen, dass Erdogan in Diyarbakir deshalb nur wenige überzeugt hat.
Indessen haben rechte und linke Nationalisten die Instrumentalisierung des Kurdenproblems längst als einen Weg erkannt, um Erdogans Europapolitik zu torpedieren. Als Jugendliche am Rande einer Newroz-Feierlichkeit im März in Adana versuchten, eine türkische Fahne anzuzünden, rief der Generalstab zu Protesten dagegen auf. Das Land ertrank in einem Meer türkischer Fahnen. In dem Kleinstädtchen Delen, das in den letzten Jahren viel kurdischen Zuzug aus dem Osten gesehen hat, wurden Cafés und Häuser von Kurden mit Steinen beworfen und Arbeitgeber bedroht, keine Kurden mehr einzustellen. Die Zeitschrift "Die türkische Linke" veröffentlichte einen Aufruf, in dem es unter anderem hieß: "Jeder Türke soll nur bei einem Türken einkaufen. Das Geld, welches an einen Kurden geht, bedeutet eine Unterstützung für die PKK..."
Im Sommer 2005 kam es zu einer ganzen Reihe von Lynchversuchen an wirklichen oder vermeintlichen PKK-Sympathisanten. Diese Aktionen hätten sich leicht zu bürgerkriegsartigen Unruhen ausweiten können. Das wäre allerdings das größte Geschenk gewesen, das die türkischen Nationalisten der PKK hätten machen können. Schließlich wurde es dem Generalstabschef Hilmi Özkök unheimlich und er sprach sich gegen die von örtlichen Sicherheitsbehörden oft mit Sympathie begleiteten Ausschreitungen aus.
Dabei hätte die Türkei gute Chancen, den Blick der türkischen Kurden von ihren irakischen Nachbarn wegzulenken. Gerade die Kurden werden von der EU-Perspektive der Türkei angezogen. Die hauptsächlich von ihnen bewohnten Regionen im Osten und Südosten sind das Armenhaus des Landes. Entsprechend hoffen sie am meisten auf die ökonomischen Vorteile der EU-Mitgliedschaft. Außerdem sehen sie ihre Rechte in Brüssel besser aufgehoben als in Ankara.
Während unter den türkischen Kurden ein durch die Ereignisse im Irak gewachsenes Selbstvertrauen und die Hoffnung auf die EU zu spüren ist, folgt die PKK vor allem inneren Gesetzmäßigkeiten. Nach der Verurteilung ihres Führers Abdullah Öcalan legte die Partei angeblich für immer die Waffen nieder. Doch fünf Jahre Waffenstillstand haben die Organisation weder auf dem Weg zur legalen Partei weiter gebracht, noch besteht Aussicht auf eine Begnadigung von Öcalan. Deshalb gab es immer mehr Absplitterungen von der PKK. Sogar Abdullah Öcalans Bruder Osman verließ die Hauptgruppe.
In dieser Situation eröffnete die zwischenzeitlich umbenannte Partei, die erst seit kurzem ihren alten Namen wieder gebraucht, im Sommer 2004 erneut den bewaffneten Kampf. Sie setzt verstärkt Minen und ferngezündete Bomben ein. Auch wenn diese Operationen letztlich nur Nadelstiche sind, konnte die PKK damit eine gewisse Schlagkraft demonstrieren. Weniger erfolgreich waren die Versuche, durch Bombenanschläge den Tourismus zu treffen. Einige Bomben explodierten vorzeitig. Außerdem zögerte die Führung, diese Angriffe zu sehr auszuweiten, denn die PKK strebt noch immer das Ziel an, eine legale Kraft unter Führung von Öcalan zu werden.
Die PKK kämpft derzeit nicht nur in der Türkei, sondern auch im Iran. Damit wird eine andere Dimension der PKK-Politik deutlich: eine subversive Partei im Nahen Osten braucht, um effektiv zu sein, immer die Unterstützung irgendeines Staates. Die PKK begann ihren Kampf 1984 im Schatten des iranisch-irakischen Krieges an der Seite Irans, Syriens und des irakischen Kurdenführers Barzani, während die Türkei Saddam unterstützte. Später unterstützte Syrien wegen seiner Grenzstreitigkeiten mit der Türkei die PKK am meisten, während sich Barzani der Türkei zuwandte. Die PKK fand ein Gegengewicht bei Barzanis Konkurrenten Talabani. Solche Zweckbündnisse gab es auch mit Saddam. Nach der Gefangennahme Öcalans bot sich die PKK sogar der Türkei als verlängerter Arm an, wenn auch vergeblich. In letzter Zeit versucht man es offenbar mit den USA.
Doch abgesehen davon, dass die PKK wegen ihres Vorgehens in der Türkei ein problematischer Partner ist, ist fraglich, ob die USA die kurdische Karte gegen Iran und Syrien gebrauchen wollen. Vorerst könnten Unruhen in den kurdischen Landesteilen die Regime in Damaskus und Teheran innenpolitisch eher stärken. Die Kurden mögen von der Aussicht, dass diese Staaten unter westlichem Druck zerfallen, begeistert sein. Für die jeweiligen Mehrheiten ist dies aber ein guter Grund, sich um ihre Regierungen zu scharen, gleichgültig welches Regime an der Macht ist.

Jan Keetman ist Journalist in Istanbul.