Europäische Wanderarbeit

Neue gewerkschaftliche Wege

"Wanderarbeiter" sind in aller Munde. Was genau verbirgt sich aber hinter diesem Begriff und vor welchen Herausforderungen steht eine gewerkschaftliche Interessenpolitik...

...für diesen Teil der Arbeiterklasse. Matthias Kirchner arbeitet im Europäischen Verband der Wanderarbeiter e.V. Dessen Zielsetzung ist die gewerkschaftliche Organisierung und Mobilisierung von Entsende- und Saisonbeschäftigten primär aus dem Baugewerbe und der Land- und Forstwirtschaft, also Branchen, die traditionell geprägt sind von kleinbetrieblichen (Handwerks- )Strukturen, in denen betriebliche Mitbestimmungsgremien eher die Ausnahme als die Regel sind.

"Wanderarbeiter" sind nach der Definition des Europäischen Verbands der Wanderarbeiter e.V. (EVW) nicht die nach den traditionellen handwerklichen Zunftordnungen "fremdreisenden rechtschaffenen Gesellen" und nicht die Migranten, die meist mitsamt Familie auf Dauer ihr Heimatland verlassen, sondern solche Arbeitnehmer, die ihre familiäre Anbindung im Heimatland behalten und mehr oder weniger oft von den ausländischen Arbeitsstellen nach Hause zurückkehren.

Im Unterschied zu den industriellen Produktionsbereichen, z.B. in der Metallindustrie, werden im Baubereich und in der Land- und Forstwirtschaft die Arbeitsplätze nicht von einem Land ins andere ("Billiglohnland") verlagert. Das liegt in der Natur der Sache. Dafür hat in unseren Branchen Wanderarbeit Tradition; viele historische Bauwerke zeugen heute noch von dieser Tradition. Insbesondere aus den Mittelmeerländern haben Baumeister ihre Arbeitskräfte auf weit entfernte Baustellen mitgebracht, um dort ihre ausgeprägten Qualifikationen, ihr handwerkliches Können, einzusetzen (Zimmerleute, Steinmetze, Stuckateure, Mosaikleger, Vergolder usw.).

Auch in vergangenen Zeiten mussten sich Handwerker und Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft auf die "Wanderschaft" begeben, um ökonomischen Zwängen (Arbeitslosigkeit) zu folgen. Heute sind Wanderarbeiter insbesondere Menschen, die als billige Arbeitskräfte gefragt sind. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen den ökonomischen Zwängen, die auf die Menschen wirken, und der Ausbeutung als "Billiglöhner" - der Begriff "Billiglöhner" wird hier nicht in diskriminierender Absicht gebraucht, sondern, um auf den alltäglichen Sprachgebrauch hinzuweisen.

"Wanderarbeiter" erleiden vor allem seit Ende der 80er Jahre eine andere Wertung: der Begriff steht nicht mehr für fachliche Qualifikation von Menschen und herausragende Qualität der Produkte, sondern für Dumping, Illegalisierung, sogar Illegalität. Das führt auch dazu, dass Wanderarbeiter ein mieses Image haben.

Wanderarbeit zeitigt vielfache Auswirkungen:

- Die familiären Bindungen werden extremen Belastungen ausgesetzt. Der Familienvater kommt wochenlang, gar monatelang nicht nach Hause, entsprechend reißen auch soziale Kontakte zu Freunden und Kameraden in den Vereinen ab.

- Die Arbeit wird entwertet, erworbene Qualifikationen werden nicht mehr gebraucht. Das führt zu einer Erniedrigung der Menschen, sie werden ihres Könnens enteignet.

- Tarifliche und sozialgesetzliche Normen werden verramscht. Das ist nicht nur die Folge der Beschäftigung ausländischer "Billiglöhner", sondern auch ein innerdeutsches Problem: die Tariflöhne West werden durch die Tariflöhne Ost unterschritten, die Tariflöhne Ost durch den für allgemeinverbindlich erklärten tariflichen Mindestlohn, der für die Entsendearbeiter vereinbart wurde, um sie im Tarifgefüge des deutschen Baugewerbes unterzubringen. Zunehmend entwickelt sich der Mindestlohn zum "Marktwert" für alle, aber die Spirale setzt sich durch das Unterlaufen des Mindestlohns noch weiter nach unten fort.

Welche Auswirkungen diese Spirale zeitigt, verdeutlicht ein Beispiel aus der Fleischindustrie: Kürzlich berichteten die Medien, dass die dänischen Gewerkschaften über das "Billiglohnland Deutschland" klagen. Es ging um das Lohndumping in Schlachthöfen im Oldenburger Land. Dabei ist es aber nicht etwa so, dass friesische Ausbeiner unterhalb der Tariflöhne arbeiten.

Vielmehr haben diese etwa 6000 ehemals Beschäftigten ihren Arbeitsplatz verloren, weil sie zunächst durch Rumänen ersetzt wurden - die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten spricht hier von Stundenlöhnen von 2,50 Euro. Die Rumänen wiederum mussten weichen, weil die Kontingente aufgrund zahlenmäßiger Überziehung fristlos aufgekündigt wurden.

Nun werden die Arbeiten von Polen ausgeführt. Die friesischen Ausbeiner sind nach wie vor arbeitslos, die Rumänen sind abgeschoben, nun werden Polen ausgebeutet und die dänischen Ausbeiner in naher Entfernung sind dem Druck durch "Billiglöhner" ausgesetzt. Die friesischen Ausbeiner stehen in ihrer Wut dazwischen.

Noch vor kurzer Zeit beschäftigten uns vor allem Wanderungsbewegungen aus Polen nach Deutschland, insbesondere nach Berlin und nach Westdeutschland. Inzwischen haben die Wanderungsbewegungen von Ost nach West weit größere räumliche Dimensionen angenommen. Ukrainer, Weißrussen und Letten wandern in Polen ein und ersetzen dort die besser qualifizierten Polen, die jetzt in Deutschland arbeiten. Vor allem Ostdeutsche arbeiten in der Schweiz und in den Niederlanden und "verursachen" dort vergleichbare Probleme, indem sie die einschlägigen Tarifverträge unterlaufen (müssen). Selten aber wird hierzulande dieses Phänomen so wahrgenommen.

Hier wird immer noch allzu schnell den osteuropäischen Wanderarbeitern die Sündenbockrolle zugewiesen. Sie seien es, die zu uns kämen und alles kaputt machen würden, die hier für Arbeitslosigkeit verantwortlich wären. Längst aber üben Deutsche auf Deutsche ökonomischen Druck aus.

Gewerkschaften wird gemeinhin der Vorwurf gemacht, sie hätten die Globalisierung "verschlafen", hätten zu dem Problem nicht die richtigen Antworten. Vielmehr wird den Gewerkschaften der Vorwurf gemacht, sie hätten nichts Anderes zu bieten als Kritik, Abwehr und das Beharren in gewohnte Denkmuster.

Die IG Bauen-Agrar-Umwelt nimmt nun als Gründerorganisation des Europäischen Verbandes der Wanderarbeiter e.V. für sich in Anspruch, auf die Globalisierungsanforderungen eine innovative Antwort zu geben und damit für die Zukunftsfähigkeit der Gewerkschaft unter den geänderten Voraussetzungen zu sorgen.

- Der Europäische Verband der Wanderarbeiter e.V. wird bewusst europäisch ausgerichtet, ist also die erste Mitglieder-Gewerkschaft, die ihr Organisationsgebiet nicht selbst durch Begrenzung auf Nationalstaaten beschränkt.

- Der Verband organisiert transnational Menschen und steht damit nicht in Konkurrenz zu den nach wie vor bestehenden nationalen Gewerkschaften und zu den europäischen und internationalen Dachverbänden, die im Unterschied zum EVW Organisationen vereinen.

- Der EVW organisiert Menschen, die von nationalen Gewerkschaften nicht erreicht werden (können) und die diesen nationalen Gewerkschaften historisch bedingt bisweilen misstrauen.

- Der EVW spricht die Wanderarbeiter in deren eigener Muttersprache an. Nur so können sich ein echter Dialog und eine Vertrauensbeziehung entwickeln, die zu solidarischem Handeln und gemeinsamer Mobilisierung von Arbeitnehmern zur Verfolgung und Durchsetzung eigener Interessen führen kann.

- Der EVW sammelt im Netzwerk mit anderen Organisationen/NGOs/Kirchen Informationen über die "global players", aus denen er Kompetenzen und Handlungsfähigkeit gewinnt.

- Durch diese Vernetzung erhöht der EVW seine Attraktivität für (potenzielle) Mitglieder, weil er fachliche und soziale Kompetenzen sammelt und umsetzt.