Diskursiver Dammbruch

Zwei Monate sind seit dem Mord an Theo van Gogh vergangen; zwei Monate, in denen die Stimmung im Land sich radikal verschlechtert hat - weit stärker als durch die Anschläge von New York oder Madrid.

Zwei Monate sind seit dem Mord an Theo van Gogh vergangen; zwei Monate, in denen die Stimmung im Land sich radikal verschlechtert hat - weit stärker als durch die Anschläge von New York oder Madrid. Nicht von den Niederlanden ist die Rede, sondern von Deutschland. In diesen acht Wochen wurde mit den angeblichen "Lebenslügen" der scheinbar viel zu liberalen Republik tabula rasa gemacht. Die multikulturelle Gesellschaft? Eine verderbliche Chimäre naiver Gutmenschen. Deutschland ein Einwanderungsland? Ja, zugegebenermaßen, aber die Konsequenz daraus lautet: Lasst es uns am besten so schnell wie möglich rückgängig machen.

Wie aber erklärt sich die hysterische Reaktion auf den Anschlag im kleinen Nachbarland? Offensichtlich fand in der Ermordung van Goghs eine bereits angestaute Stimmung ein Ventil, brachte der Anschlag ein Fass bloß zum Überlaufen. In irrer Beschleunigung kulminieren seither sämtliche seit dem 11. September 2001 geführten Debatten: Terrorismus und Fundamentalismus, EU-Verfassung und Türkei-Aufnahme, multikulturelle Gesellschaft oder deutsche Leitkultur. Die Nation erlebt sich als mediale Erregungsgemeinschaft. Im journalistischen Überbietungswettstreit werden täglich neue Kampfbegriffe auf den Markt der unbegrenzten Möglichkeiten geworfen - mit immer geringeren Halbwertszeiten. Hatten sich die Meinungsmacher eben noch an der Entdeckung ominöser türkischer "Parallelgesellschaften" berauscht, war schon in den nächsten Tagen aus der offensichtlich noch viel zu harmlosen Soziologenvokabel eine, wahrscheinlich wesentlich "investigativere", jedenfalls aber erheblich reißerische "Gegengesellschaft" geworden, um schließlich wie folgt auf dem Titelblatt des "Focus" zu enden: "Unheimliche Gäste. Die Gegenwelt der Muslime in Deutschland".1
Islam = Islamismus

Wie in einem Brennglas verdichten sich in diesem Titel die Gefahren der gegenwärtigen Hysterie. Zunächst wird mit der Pauschalisierung "der Muslime" die unabdingbare Unterscheidung zwischen Islam und Islamismus aufgehoben. Hier manifestiert sich die gefährliche Tendenz, Islam mit Islamismus generell gleichzusetzen und (damit wohl konsequenterweise alle Muslime) als mit der westlichen Gesellschaft "inkompatibel" (Henryk M. Broder) zu bezeichnen.

Anschließend werden "die Muslime", ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, wieder in den Urzustand des Gast(arbeiters) zurückversetzt und damit kurzerhand rhetorisch exiliert - nur um schließlich drittens auf diese Weise zur "unheimlichen" "Gegenwelt" erklärt zu werden. Die stigmatisierende Suggestion ist eindeutig: In der muslimischen Gegenwelt lauert das Fremde, das Unbekannte, kurz: das Böse.

Was aber folgt daraus? Das propagierte "Ende von Multikulti" bereitet nur den Boden für die endgültige Übernahme einer anderen, weitaus gefährlicheren Debatte, nämlich für Samuel Huntingtons These vom "Clash of civilisations" - oder in Peter Scholl-Latours Vulgärübersetzung: Nicht die Türkei wird europäisch, Europa wird islamistisch. Die "Schlacht um Europa"2 ist eröffnet.

Offensichtlich schlagen jetzt sämtliche außenpolitischen Themen voll auf die Innenpolitik durch; der Mord an van Gogh fungierte nur als missing link. Denn anders noch als nach 9/11, als das Phänomen der "Schläfer" um Atta und Co. zwar kurzzeitig das Feuilleton faszinierte, aber schnell in Vergessenheit geriet - vielleicht schon aufgrund ihrer faktischen Unsichtbarkeit -, steht jetzt der Feind für jedermann sichtbar im eigenen Land: Die ganze muslimische Gemeinschaft wird gleichsam zur tickenden Bombe.

Und das Feuilleton geht noch einen Schritt weiter und malt sich die "weitere Drehung der multikulturellen Schraube" genüsslich aus: "Dann wird der Staat seinen therapeutischen Charakter noch einmal steigern und für die Unwilligen unter der Mehrheitsbevölkerung neue Erziehungs- und Toleranzprogramme auflegen." Am Ende steht der "jakobinische Tugendstaat, und die Freiheit bleibt auf der Strecke." 3 Kurzum: Deutschland ist im Krieg gegen die Feinde der Freiheit, und die Heimatfront steht in Berlin- Kreuzberg.
Neue Kreuzritter

Derart von den neuen Verteidigern des untergangsbedrohten freiheitlichen Abendlandes zu den Waffen gerufen, kann die Devise der Mehrheitsgesellschaft eigentlich nur lauten: Wir oder die. In all diesen Szenarien taucht somit ein altbekanntes Muster auf, das die Bundesrepublik spätestens nach Beendigung des Kalten Krieges überwunden glaubte, nämlich die Zurichtung der Gesellschaft nach den Prinzipien von Freund und Feind.

Und diese grausam bewährte Schmittianische Maxime droht heute wieder willige Vollstrecker zu finden. Gerade unter den politischen Deutungseliten nimmt die Versuchung zu, die eigene Identität über den gemeinsamen Feind zu definieren - nach außen, aber auch nach innen.

In dem Maße, in dem der Politik die ökonomische Integration nicht mehr gelingt, steigt der Bedarf an nationalem Kitt durch ethnische Homogenisierung. Und in dem Maße, in dem die Deutschen im Zuge der Globalisierung in ihrer brutaler gewordenen Gesellschaft immer stärker fremdeln, greifen die alten regressiven Reflexe: die Sehnsucht nach ethnisch homogener Gemeinschaft und Abschottung.
Kulturnationalismus

Noch 1990 wiegte sich der Westen in der beschaulichen Gewissheit, man habe es bei den tödlichen Ausschreitungen Rechtsradikaler mit einem Sonderfall Ost zu tun. Heute wissen wir: Zu derartiger Überheblichkeit bestand kein Anlass, denn Fremdenfeindlichkeit und insbesondere Islamophobie nehmen erwiesenermaßen in ganz Deutschland wieder zu. Immer größer wird die Kluft zwischen Mehrheit und muslimischer Minderheit; im Jahre 2004 droht die Bundesrepublik zu einer "ethnisch-kulturell gespaltenen Gesellschaft" zu werden.4

Dabei leisten die aufgeregten medialen Debatten der Instrumentalisierung durch die Politik bereitwillig Vorschub. Nur zu gerne stürzen sich die Parteien in ihrer konzeptionellen Ratlosigkeit auf vermeintlich kostenlose Symbolthemen wie Patriotismus und Leitkultur, wie nicht zuletzt die heillosen Debatten auf dem jüngsten CDU-Parteitag eindrücklich belegten. Umgekehrt wird jede noch so belanglose politische Verlautbarung umgehend medial ausgeschlachtet. Politik und Medien schaukeln sich dergestalt wechselseitig hoch, was die islamophobe Stimmung in der Bevölkerung weiter befördert.

Die diskursiv forcierte Spaltung in Mehrheit und islamische Minderheit wird jedoch auf dem Rücken der überwältigenden Mehrheit eben jener Minderheit ausgetragen. Die einstigen Ausländer haben sich zu Hunderttausenden in den vergangenen Jahrzehnten freiwillig und weitgehend geräuschlos, wenn auch unter erheblichen Anstrengungen ihrerseits, in die Mehrheitsgesellschaft integriert. Was über die gegenwärtige Aufregung nämlich fast völlig in Vergessenheit gerät: Die Geschichte der Bundesrepublik ist bis heute, bei allen Mängeln, vor allem eine Geschichte millionenfach gelungener Integration.

Mit der Konstruktion einer ethnischreligiös homogenen Gemeinschaft "der Muslime" und ihrer pauschalen Erklärung zu Feinden wird jedoch auch den erfolgreich Integrierten nachträglich die Solidarität der Gesellschaft entzogen. 5 Als kollektiver Sündenbock für Integrationsversäumnisse der Gesamtgesellschaft geraten sie in die Zange zwischen feindseliger Mehrheitsgesellschaft und aggressiver wie werbender Ansprache durch die Fundamentalisten. Man treibt sie dadurch geradezu in die Arme der Islamisten, die ihrerseits eine zunehmend verlockende religiöse Ersatzidentität versprechen. Der neualte ethnische Freund-Feind-Diskurs entpuppt sich damit als self-fulfilling prophecy - mit der Folge bereits absehbarer Radikalisierung auf beiden Seiten. Hier zeigt sich: Eine Gesellschaft, die ihre eigene Identität nur in Abgrenzung vom äußeren oder inneren Feind gewinnen kann und zu diesem Zweck einen Teil ihrer selbst instrumentalisiert, indem sie ihn in die Isolation treibt, baut diesen Feind gleichsam mit auf.

Rhetorisch, und zum Glück bisher nur da, ist der "Kampf der Kulturen" also mittlerweile bei uns angekommen; die fatale ethnisch-ideologische Aufrüstung schreitet weiter voran. Erst wenn Deutschland selbst von einem Anschlag betroffen sein wird, dürfte sich erweisen, was noch alles in dieser Gesellschaft steckt.
1 "Focus", 22.11.2004.
2 Gilles Keppel, Die Schlacht um Europa, in: "Welt am Sonntag", 21.11.2004.
3 Lorenz Jäger, Es lebe die Freiheit, in: "Frankfurter Allgemeine Zeitung", 23.11.2004.
4 Wilhelm Heitmeyer, Die gespaltene Gesellschaft, in: "Die Zeit", 2.12.2004.
5 Vgl. Juan Moreno, Es ist nur so ein Gefühl, in: "Süddeutsche Zeitung", 4./5.12.2004.
Blätter für deutsche und internationale Politik © 2005
www.blaetter.de